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2023 – neu: 12. Gedanken zur Idee einer Integralen Sinntheorie als Erweiterung des Gedankenguts von Viktor Frankl

Viktor Frankl ging es stets darum, Freuds Psychoanalyse und Adlers Individualpsychologie zu ergänzen, indem er den diesen Richtungen immanenten Psychologismus und Reduktionismus transzendierte in ein Menschenbild, das den Menschen als Wesen auszeichnet, das weltoffen nach Sinn in seinem Leben strebt. Dies vor Augen, drängen sich mir Fragen auf, für die ich in den kommenden Monaten nach Antwortmöglichkeiten suchen werde:

  • Lässt sich neben den von Frankl beschriebenen drei Hauptstraßen zum Sinn womöglich heute eine vierte finden? Vielleicht zeigt sich heute, gut 100 Jahre nach Begründung der dritten Wiener Schule für Psychotherapie durch Frankl eine Straße, die sich dank vergrößerter individueller Möglichkeiten zur Weltoffenheit erst dann zeigt, wenn ein Mensch eine integralere Gegenwarts-Bewusstheit entwickelt hat [im Graves Modell die Meme ab Gelb]?
  • Angenommen, eine solche Straße ließe sich sprachlich fassen, wie würde ein Mensch es dann womöglich ausdrücken, wenn er sagt, dass er mit sich und der Welt im Einklang steht, wenn er sich auf dieser Straße auf die Reise hin zum Sinn macht?
  • Auch würde mich interessieren, ob es in einer früheren Epoche der Menschheitsentwicklung bereits Anzeichen für eine solche Gegenwarts-Bewusstheit und ein entsprechendes integraleres Werte-Meme gegeben hat? Anzeichen, die aber nicht stark genug waren, um sich in einer breiteren Gesellschaft als Ausgangspunkt ihrer weiteren Entwicklung anzubieten.
  • Und gegenwartspraktisch: Womit könnte ein integral arbeitender Logotherapeut seine Klienten im Rahmen einer Integralen Logotherapie über den Rahmen der ‚klassischen‘ Logotherapie hinaus unterstützen? Und überhaupt: woran kann ein Logotherapeut wahrnehmen, dass er eine integrale Bewusstheit für die Ausübung seiner Rolle entwickelt hat?

Drei Hauptstraßen zum Sinn?

In der Sinnlehre von Viktor Frankl wird betont, dass der Mensch sich nur in dem Maße zu verwirklichen vermag, indem er einen Sinn draußen in der Welt, nicht aber in sich selbst erfüllt. Diesen Prozess nennt Frankl die Selbsttranszendenz der menschlichen Existenz. Eine Selbstverwirklichung hingegen, die auf etwas hingeordnet ist, das nicht über den Menschen selbst hinausgeht, sondern letztlich nur wieder auf ihn selbst verweist, ist nach Frankl ’sinn-los‘.

Wirklich Mensch ist der Mensch nur dort, wo er in der Hingabe an eine Aufgabe aufgeht oder in der Liebe zu einem Gott*, zu einer Sache oder zu einer anderen Person sich selbst übersieht und vergisst. Diese menschliche Fähigkeit zur Selbstvergessenheit, sich zurückzustellen und sich nicht alles von sich selbst gefallen zu lassen, ist gleichermaßen Ausdruck seiner Fähigkeit zur Selbsttranszendenz. Und selbst in den tragischen Situationen menschlicher Existenz, bei Leid, Schuld oder Tod, kann er diese Fähigkeit einsetzen durch eine Modulation seiner Einstellung, die einer womöglich psychischen Hilf- und Hoffnungslosigkeit entgegenwirkt. [* In Frankls sinnzentrierter Psychotherapie wird Religion neutral als Gegenstand, nicht aber als Standort angesehen. Aus dieser Perspektive wird Gott zu einem Sprachpartner, wobei der Mensch nicht immer versteht, mit wem er sich tatsächlich unterhält. Der Mensch bezieht sich auf das Absolute, das eigentlich unbeziehbar ist und erlebt ein Geborgenheitsgefühl, das ihm insbesondere in Grenzsituationen hilft und das dadurch therapeutische Relevanz besitzt. vgl. Frankl V.E: [1972]: Der Wille zum Sinn, Hans Huber Verlag Bern, 73-74]

Hat nun der Mensch Sinn in seinem Leben entdeckt und steht ihm seine Psyche nicht im Weg, eben diesen Sinn auch zu verwirklichen, so macht sich der Mensch auf den Weg über eine der Hauptstraßen hin zum Sinn.

Auf der ersten Hauptstraße hin zum Sinn geht der schöpferische Mensch. Er hat in der Welt eine Aufgabe entdeckt, die nicht gelöst würde, wenn nicht von ihm. Dafür setzt er seine Kraft, seine Fantasie, seine Fähigkeiten, Talente und Ideen ein. Er wird schöpferisch tätig und verwirklicht schöpferische Werte.

Auf der zweiten Hauptstraße hin zum Sinn geht der erlebende Mensch. Er hat in der Welt einen Schatz entdeckt, den zu erleben, ihn mit Freude erfüllt. Schätze finden sich in der Kultur, in der Natur, in der Anschauung anderer Menschen, in der liebenden Berührung, im Gebet, letztlich in der bewussten Wahrnehmung einer den Menschen kräftigenden Quelle. Der Mensch erlebt und verwirklicht Erlebniswerte.

Auf der dritten Hauptstraße hin zum Sinn geht der leidende Mensch. Er hat in der Welt einen auf ihn weisenden Gegenstand entdeckt, den er zwar nie entdecken wollte, dem er sich aber unabänderlich zu stellen hat. Diese Gegenstände finden sich im Leid, im Gewahrwerden eigener Schuld oder im Angesicht des Todes. Der von diesen Gegenständen ausgehende Sinnimpuls führt den Menschen zu einer Stellungnahme. Sie ermöglicht ihm, nicht zu  verzweifeln, sondern seiner Geistbegabung folgend trotzdem ‚Ja‘ zum Leben zu sagen. Der Mensch bezieht Stellung, er bleibt in der Autorschaft seines Lebens und verwirklicht Einstellungswerte.  

Lassen Sie uns kurz zurückschauen: Seinen ersten Vortrag über die Sinnfrage hielt Frankl bereits mit 16 Jahren. Und bereits 1929 fand der 24jährige Frankl dann das Grundgerüst seiner ,Sinnlehre‘ mit den drei Wertekategorien, die für ihn die grundsätzlichen Möglichkeiten des Menschen darstellen, Sinn im Leben zu finden: durch eigenes Erschaffen, durch eigenes Erleben und – in Krisen – durch eigene Neueinstellung zum Leiden.

Nach dem Sinn im Leben zu fragen, stellt das eigentliche Humanum dar. Für Frankl ist der Mensch ständig auf der Suche nach Sinn, er hat einen unbedingten Willen zum Sinn. Findet der Mensch einen Sinn, dann – und nur dann – ist er glücklich. Und damit die Sinnfindung gelingt, kann der Mensch auf eine Fähigkeit zurückgreifen, zu der nur er in der Lage ist: Zur Fähigkeit der Selbsttranszendenz. Der Mensch ist mit dieser Fähigkeit mehr als nur ein reagierendes oder ein abreagierendes Wesen. Er ist auch ein sich selbst vergessen könnendes, sich selbst transzendierendes Wesen. Damit meint Frankl, dass menschliches Dasein immer über sich hinausweist, auf etwas, das nicht er selbst ist, sondern auf etwas oder jemanden, den er liebt. Oder auf eine Aufgabe, die er sich nicht selbst gemacht hat, der er sich aber hingibt. Und auch in einer Situation eines unabänderlichen Schicksals geht es für Frankl nicht darum zu fragen, was man vom Leben (noch) zu erwarten hätte. Diese Haltung führt seiner Meinung nach am Sinn des Lebens vorbei. Es geht vielmehr darum, sich umgekehrt vom Leben befragen zu lassen und darauf zu achten, was das Leben von einem selber verlangt. Es gilt, die Frage der Stunde, des Augenblicks, der Situation zu verstehen und darauf eine ganz persönliche Antwort zu geben, denn, so Frankl, „wir sind es, die zu antworten haben auf die Fragen, die uns das Leben stellt.“

Im Kontext der Wilber’schen Theorie können wir die Analogie bilden, dass ein Mensch, der von seinem Leben aufgefordert wird, ein Gespräch zu führen, eine Aufgabe zu erledigen, ein Problem zu lösen, einen Konflikt zu mindern, eine Krise zu meistern usw. dies entlang seiner Gegenwarts-Bewusstheit, also mit einer seiner entwickelten Werte-Ebenen [Meme-Ebene] tun wird. Anders als in den drei von Frankl genannten Wertekategorien stehen nun für jede Werte-Ebene ein Set an Werten zur Verfügung, die ein Mensch in seinem Wertesystem verankert haben kann [welche Werte in meiner Anschauung den Ebenen zugeordnet werden könnten, werde ich in einem der Folgebeiträge besprechen].

Führt nun eine Situation dazu, dass eine gegebene Gegenwartsbewusstheit für deren Bewältigung nicht passend ist, steht der Mensch [bei Wilber ist das der Prozess des Transzendierens] nun vor dem Aufruf, einen Entwicklungsprozess hin zu einer neuen, höheren Werte-Ebene einzuleiten, der bestenfalls dazu führt, dass damit die Situation gestaltet werden kann.

Im Konzept Frankls steht vor dieser Entwicklung jedoch noch die Beantwortung einer anderen Frage im Vordergrund: Vermittelt der spezifische Aufruf des Lebens dem Menschen Sinn oder ist die Gestaltung der Situation lediglich zweckdienlich?

Dazu ein einfaches Beispiel: Angenommen, eine Person ruft Sie an und fragt, ob es möglich sei, ein Produkt, das üblicherweise von Ihnen hochpreisig verkauft wird, für ein gemeinwohlorientiertes Projekt kostenfrei von Ihnen erhalten zu können?

  • Sofern Sie das, was Sie im Gespräch wahrnehmen, BEGEISTERT, so wird Ihre eigene Geistbegabung dazu beitragen, sofort das Wofür zu entdecken. Aber womöglich wird sich im Anschluss Ihre Psyche melden und Ihnen allerlei Fragen stellen, vielleicht im Sinne eines: Bringt Dich das weiter? Was sind die Pro’s und Con’s? Kannst Du der Sache vertrauen? ….
    In diesem Fall wäre die Psyche eine Art Zensor des Sinnimpulses und eine Reflexion der Frage: Warum brauche ich diesen Zensor? wäre lohnend.
  • Oder aber, Sie sind nicht begeistert, aber Ihre Psyche stellt Ihnen dennoch solche Fragen wie oben und Sie beantworten sie sich so, dass Sie das Produkt zur Verfügung stellen. Dann erfüllt die Abgabe einen Zweck, vielleicht in Form eines Reputationsgewinns, eines guten Gefühls, einer Hoffnung auf eine Belohnung zu späterer Zeit. In diesem Fall wäre die Psyche eine Art Erlaubnisgeber für den guten Zweck und eine Reflexion der Frage: Warum brauche ich eine Stimme in mir, die mir das erlaubt? wäre lohnend.
  • Was aber, wenn Sie BEGEISTERT sind und spontan sagen: Ja, gewiss, damit stehe ich im Einklang! In diesem Fall hat die Psyche nicht die Oberhand über das Geschehen übernommen, sondern das Geistige mit seiner Transzendenzfähigkeit und der mit ihr verbundenen Werteverwirklichung. In diesem Fall wäre also nicht ein Erlaubnisgeber in Ihnen aktiv, sondern Ihr Gewissen – die Instanz der in Ihnen innewohnenden absoluten Selbstverständlichkeit, die sogar beißt, wenn Ihre Psyche versucht, sich zwischen Sie und Ihre gewissenhafte Entscheidung zu drängen. In diesem Fall lohnt sich eine Reflexion der Frage: Wann in meinem Leben habe ich meinen wesentlichen Werten folgend gewissenhaft gehandelt?

Behalten wir das Ausgangsszenario bei und kommen wir zurück zu Ken Wilber. Hier wäre nun die Anfrage nach der Überlassung des Produktes für einen gemeinwohlorientierten Zweck das THEMA. Mit diesem Thema können Menschen nun je nach Status quo ihrer Entwicklungslinie und ihrer Werte-Ebene zu einer völlig unterschiedlichen Entscheidung kommen.

Aber einmal angenommen, Sie hätten den Anruf entgegengenommen und wären auf Ihrer moralischen Entwicklungslinie [ein wissenschaftlicher Protagonist für die Erforschung individueller Moral ist Lawrence Kohlberg] auf der Stufe angekommen, auf der Sie sich an universell ethischen Prinzipien orientieren. Weiter sei angenommen, Sie wären auf der emotionalen Entwicklungslinie [hier ist eine wissenschaftliche Adresse Daniel Goleman] im Feld der Empathie. Und noch weiter sei angenommen, Sie würden zustimmen, auf der Entwicklungslinie Ihrer Bedürfnisse nach Abraham Maslow das Feld der Selbstverwirklichung erreicht zu haben.

Ergänzen wir nun die im Wilber’schen Gedankengut integrierte Betrachtung der Werte-Ebenen nach Clare W. Graves und nehmen an, dass Sie sich Handlungen und Verhaltensweisen entlang von Werten, die auf menschliche Bindung und soziale Verantwortung gerichtet sind, selbstverpflichtet fühlen.

In dieser Konstellation einiger Ihrer Persönlichkeitsmerkmale wäre die Hypothese tauglich, dass Sie das THEMA mit solchen SCHEMATA adressieren, die annehmen lassen, dass Sie Ihre Entscheidung im Kontext des Grünen Meme vornehmen. Es wäre zu erwarten, dass Sie wertebasiert bereit wären, dem Anrufer eine positive Antwort zu geben und Ihr Produkt zur Verfügung zu stellen.

Was aber, wenn Sie zwar über dieses Meme verfügen, jedoch nicht vom Anrufer BEGEISTERT werden? Wenn Sie zwar VERSTEHEN, was der Anrufer mit seiner Frage BEZWECKT, in Ihnen jedoch kein GEFÜHL einer möglichen Werteverwirklichung entsteht, das Sie aufruft, der Anfrage positiv zu folgen? Woran könnte dieser Gefühlsmangel liegen?

  • Vielleicht liegt es daran, dass der Anrufer seine Anfrage auf der Basis eines – im Vergleich zu Ihnen – niedrigeren Werte-Meme vollzieht und dies in Ihnen nicht emotional resoniert?
  • Vielleicht liegt es daran, dass die Wortwahl des Anrufers Sie fühlen lässt, dass dieser eher  nutzenorientiert für die eigene Organisation argumentiert als sinnorientiert für die potenziellen Anwender des Produktes?
  • Vielleicht liegt es daran, dass der Anrufer in seinem Anruf vermissen lässt, auf den eigenen Sinnimpuls hinzuweisen, der ihn erreichte als er Kenntnis von der Existenz Ihres Produktes erlangte? …

Zahllose weitere Möglichkeiten könnten gefunden werden, warum der Anfrage des Anrufers keine entsprechende Handlungsbereitschaft folgt. Meine Thesen dazu sind:

  • Sinnimpulse werden oftmals deswegen nicht wahrgenommen, weil zwischen dem, worum es eigentlich geht, Menschen ‚zwischengeschaltet‘ sind, die sich dieses Eigentliche zum THEMA machen und dann mit ihren Werte-MEME in Kommunikation treten mit anderen Menschen [hier im Beispiel mit dem Angerufenen], in der hoffenden Erwartung, dass sich dieser Mensch das Thema zu seinem THEMA macht. Es scheint erforderlich zu sein, dass Anrufer und Angerufener das Thema aus demselben Werte-Meme anschauen, damit Handlungswunsch und Handlungsbereitschaft einander entsprechen. Besteht diese Meme-Passung nicht, dann kann der eigentliche Sinnimpuls nur nicht wahrgenommen werden, weil das SCHEMA des ‚zwischengeschalteten‘ Kommunikationspartners dem Angerufenen den Zugang zum Eigentlichen verunmöglicht.
  • Eine unzureichende Meme-Passung, die dazu führen kann, dass keine Begeisterung für das eigentliche Thema aufkeimt und es darum nicht zu einer Handlung kommt, ermöglicht der Psyche, die Oberhand über das Geschehen zu behalten. Im genannten Szenario wären dies beispielsweise Verärgerungen darüber, dass der Anrufer mit seinem Anliegen dem Angerufenen Zeit geraubt hat. Oder dass es dem Anrufer nicht möglich war, das, worum es im Eigentlichen geht, nicht nur sachlich, sondern auch nachfühlbar zu kommunizieren. Oder dass es dem Anrufer schlicht deshalb nicht möglich war, Begeisterung zu entzünden, da er sich das eigentliche Thema selbst nicht zum Thema gemacht hat, sondern vielleicht für ihn nur im Vordergrund stand, dem Thema ‚Leute anrufen und ihnen von dem Eigentlichen erzählen‘ zu folgen [wir kennen dieses Phänomen, dass ‚Anrufer‘ mit dem Eigentlichen nicht korrespondieren, zum Beispiel aus dem Direktvertrieb; ich persönlich auch aus Kommunikation mit Kirchenleuten].

Was also tun, um den Sinn des Eigentlichen zu finden, wenn es aufgrund unpassender Werte-Meme von Kommunikationspartnern nicht durchdringt? Im Kern gibt es für Situationen wie diese – wie ich finde – nur eine Antwort: Behalten Sie das ‚wofür wäre meine Handlung für das Eigentliche gut‘ im Auge. Alles andere lenkt ab und ermöglicht der Psyche, die Oberhand über das Geschehen zu gewinnen. Konkret im Fallbeispiel bedeutet das: Es ist irrelevant, ob der Anrufer Sie begeistert, Ihnen schmeichelt, Sie umwirbt usw.. Relevant ist, ob Ihre Handlung für das gemeinwohlorientierte Projekt gut ist. Bemerken Sie bei dieser Bewertung, dass Sie sich selbst mitthematisieren, dass Sie also überlegen, ob Ihre Handlung auch für Sie selbst gut ist, dann hat Ihre Psyche bereits ihren ‚Kaperungsversuch‘ unternommen. Sich dessen bewusst zu werden, wann, wie und warum die Psyche bestrebt ist, sich in Ihre Handlungen einzumischen, ist der zentrale Schritt auf dem Weg zur Differenzierung von sinnvollen und zweckdienlichen, womöglich sogar sinn- und/oder zwecklosen Handlungen.

Nun mag man fragen, ob das nicht ein wenig zu viel verlangt sei und an der Lebenswirklichkeit eines Menschen vorbeiginge, wenn die Erwartung wäre, dass dieser Differenzierungsprozess ständig ablaufen müsse.

Da der Mensch stets vor eine Wahl gestellt wird, erfährt er sich als ein im Grunde vom seinem Leben permanent Befragter. Jede Lebenssituation, jeder Tag und jede Stunde stellt ihn vor eine Wahl, verlangt eine Entscheidung von ihm. Der Mensch ist in den Augen Frankls ein vom Leben in Frage Gestellter, der auf die Anfragen des Lebens die passenden Antworten finden muss. Gleichzeitig aber strebt der Mensch als selbständig denkendes und handelndes Wesen danach, für sein Leben selbst einzutreten, es autonom und eigenverantwortlich zu führen. Daraus folgt, dass der Mensch eine persönliche Orientierungshilfe benötigt, die ihm sagt, wo und wann er welche Entscheidungen treffen soll. Diese Orientierung bietet der Sinn, er ist die wertvollste Möglichkeit in jeder Situation. Ohne ihn wird ein Mensch von sich selbst abhängig und damit von seinem Psychophysikum. Gefundener Sinn im Leben macht ebendieses leichter.

Das klingt in den Ohren vieler, denen das Herz schwer ist, die sich damit schwertun, Entscheidungen zu treffen oder die sich nur schwerlich dazu aufraffen können, sich mit ihren Alltäglichkeiten auseinanderzusetzen wie eine Offenbarung. Ja, wenn es doch nur einmal so leicht ginge. Genauer hingeschaut zeigt sich aber immer wieder: Was das Leben schwer macht, ist das Psychische, zuweilen auch der psychische Umgang mit etwas Körperlichem. Das ist seltsam, erzeugt es doch ein Bild einer Dimension, die es förmlich darauf abgesehen hat, einem Menschen die Freude am Sein recht gründlich zu vermiesen. Und in der Tat, wenn ich mich definiere als Wesen, das sich gegenüber den Unwettern der Erbsünde, des freudianischen Spagats zwischen Es und Über-Ich, des adlerianischen Minderwertigkeitsempfindens, des jungianischen Verdrängungsschattens, der projizierten Glaubenssätze, der im Lebensverlauf zahllosen Feedbacks usw. zu schützen hat, dann wird das Leben zu einem wahren Dauerlauf-Kraftakt. Wie viele Kalorien täglich braucht eine Psyche wohl, um diesen Dauerlauf zu schaffen?

Ken Wilber bietet uns in diesem Kontext diese Perspektive an: „Wir sehen nicht, dass der GEIST hier und jetzt voll und ganz gegenwärtig ist, weil unser Gewahrsein durch Vermeidungstendenzen getrübt ist. Wir wollen nicht entscheidungslos die Gegenwart bewahren; wir wollen vielmehr vor ihr davonlaufen, oder ihr nachlaufen, oder wir möchten sie ändern, sie hassen, sie lieben, sie verabscheuen oder irgend etwas unternehmen, um in sie hinein oder aus ihr hinaus zu gelangen. Wir tun alles Mögliche, nur nicht in der reinen Gegenwart des Gegenwärtigen verweilen.“ Und lesen wir dazu Frankl: „Die Aufgabe wechselt nicht nur von Mensch zu Mensch – entsprechend der Einzigartigkeit jeder Person –, sondern auch von Stunde zu Stunde, gemäß der Einmaligkeit jeder Situation“, so wird eine Gemeinsamkeit im Gedankengut deutlich: Jederzeit und jetzt hält das Leben jedem Menschen Sinn bereit. Diesen Sinn können wir nicht machen und wir müssen es auch nicht. Ken Wilber dazu: „Die Wörter selbst sind nicht die Dinge, auf die sie verweisen. (…) Unsere Wörter, und mit ihnen unsere Ideen, Begriffe und Theorien sind nur Karten der tatsächlichen Welt.“

Jeder Versuch, sich Sinn zu machen, stellt daher einen Akt der Psyche dar, dem Gefühl der Sinnleere entgegenzuwirken. Das klingt mühevoll, schwer und anstrengend. Anders die Grundüberzeugung Frankls, dass der Mensch ein Gespür dafür hat, wofür diese Stunde geschaffen ist, was jetzt gerade das Beste zu tun oder zu lassen ist. Diese intuitive Fähigkeit zur Sinnfindung in jeder Situation ist eine dem Menschen innewohnende Fähigkeit – es ist Gewissen. „Das Gewissen lässt sich definieren als die intuitive Fähigkeit, den einmaligen und einzigartigen Sinn, der in jeder Situation verborgen ist, aufzuspüren. Mit einem Wort, das Gewissen ist ein Sinn-Organ.“[Frankl]

Die grundlegende Haltung der Weltoffenheit und des Sich-Anfragen-Lassens mündet in einem Prozess, der zum Sinn führt. Im allgemeinen taucht ein Sinngefühl mehr oder weniger bewusst auf, wenn wir uns die Realität einer Situation anschauen. Dieses Sinngefühl empfinden wir als innere Bewegtheit, als Resonanz des eigenen Wertesystems mit dem, wozu das Leben den Menschen jetzt aufruft. Das Gefühl dieser Resonanz kann sich langsam entwickeln wie ein Bild, das aus dem Nebel auftaucht, oder es kann wie ein Blitz mit der ganzen klaren Gewissheit sofort da sein.

Wie auch immer, wenn der geistige Rucksack des Menschen so prall gefüllt ist, um Sinn zu finden und wenn die Fähigkeit zur Bewusstseinsentwicklung auch von Wilber [Stichwort: ‚Einschließen und Transzendieren‘] postuliert wird, dann muss interessieren, wie menschliches Dasein konstituiert ist, so dass Formen existentieller Frustration überhaupt möglich sind? Wenn es doch an sich kein Problem sein dürfte, warum gibt es dann immer mehr Menschen, denen ein tragender Sinn im Leben verloren gegangen ist, die unter Orientierungslosigkeit, Inhaltsleere ihres Lebens oder unter einer Sinnkrise leiden?

Häufig meinen Menschen, darauf mit einer Wenn-Dann-Logik antworten zu können: Weil Arbeitslosigkeit, weil der Tod eines nahestehenden Menschen, weil der Verlust einer Beziehung durch Trennung oder Scheidung, weil eine schwere körperliche oder seelische Krankheit, weil ein chronisches Leiden, weil …, deshalb existenzielle Frustration.

Erinnern wir noch einmal Wilber: Die Wörter selbst sind nicht die Dinge, auf die sie verweisen, sie sind nur Karten der tatsächlichen Welt. Die tatsächliche Welt ist also viel größer, und der Mensch hat weit mehr ‚zuhanden‘ [vgl. dazu auch Martin Heidegger „Zuhandenheit ist die ontologisch-kategoriale Bestimmung von Seiendem, wie es ‚an sich‘ ist“].

‚An sich‘ sieht sich der Mensch den Gegenständen in der Welt gegenüber, von denen ihn einige zuweilen psychisch frustrieren und ihn vermeintlich sinnblind werden lassen, wenngleich sich darüber hinaus geistig blickend stets neue Sinnmöglichkeiten auftun. Es scheint, als würde heutiges menschliches Dasein diesen geistigen Blick ins Leben erschweren und Menschen zunehmend glauben machen, der eigene Ausschnitt von Welt sei bereits die Welt. Und mir scheint zudem, dass Wilber wie Frankl gleichermaßen den Schlüssel zur Überwindung dieser ‚Weltausschnittsgrenzen‘ in der Trans-zendenzfähigkeit des Menschen sehen. Eine Fähigkeit, die in meiner Anschauung etwas Wesentliches sowohl bedingt als auch mitmeint: Die Offenheit zur Klärung und Weiterentwicklung des eigenen Wertesystems. Und die Offenheit zur ‚Vernachbarschaftlichung‘ alles Anderen mit dessen Werten. 

Ich will diesen Umgang mit sich selbst und der Welt als vierte Hauptstraße zum Sinn verstehen und dem diese Straße gehenden Menschen im übernächsten Beitrag auch eine spezifische Beschreibung geben.