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2023 – neu: 2. Individuelle Messlatten in der Bewertung der Theoriegüte

Das Haltbarkeitsdatum von Theorien gehört für mich zu den spannendsten Aspekten in der Wissenschaftswelt. Jeder Mensch, der schon ein paar Jahrzehnte lebt und seine Wachheit in seinem, meist beruflichen, Tätigkeitsfeld bewahrt hat, wird sich an Theorien erinnern, die einst als Hype in jedem Meeting, in jeder Fachzeitschrift, in jeder Weiterbildung Erwähnung fanden, unglaubliche Summen für Qualifizierungen und Zertifizierungen verschlangen, ihre Kenntnis als Kriterium für persönliche Karrierewege galt  oder ganze Wertschöpfungsketten veränderten. Zumeist waren und sind diese Theorien mit dem Namen einzelner oder weniger Personen verbunden. In meinen ‚Gewerken‘ der Betriebswirtschaftslehre und der Psychologie reihten sich irgendwann nach Erich Gutenberg und Eugen Schmalenbach Wissenschaftler wie Peters und Waterman, Hammer und Champy, Nonaka und Takeuchi, Drucker und Malik und viele weitere Vor- und Nachdenker der mittel- oder unmittelbaren Unternehmensführung. Nicht weniger zahlreich begleiten mich bis heute die Protagonisten psychologischer ‚Schulen‘. Ob Freud, Adler, Jung, Berne, Bühler, Maslow, Rogers und – natürlich – Viktor Frankl, sie alle inspirierten. Von den starken ‚Seitenarmen‘, die aus der Soziologie und Systemtheorie, den Kunst- und  Geschichtstheorien und – natürlich – der Philosophie stammen, ganz zu schweigen.

Irgendwann knarrt das Regal eingedenk des Gewichts der vielen Bücher, es brummt der Schädel und man begreift, dass sich manch früherer Hype relativiert oder abgenutzt hat, manches sich schlau weiterentwickelt hat, aber nur weniges wirklich dauerhaft trägt und bis heute robust geblieben ist.

Dem Rat zu folgen: ‚so prüfe, was sich ewig bindet‘ ist nicht wirklich voraussetzungslos. Welche sind die individuellen Messlatten, über die eine Theorie springen muss, um als robust zu gelten und für das eigene [Arbeits-]Leben eine Grundlage zu bieten? Für mich sind es drei Messlatten.

Die erste adressiert die Frage: Worüber hat sich der Wissenschaftler geärgert [was war ihm arg], so dass ihn dieser Ärger dazu aufrief, sich ans erforschende Werk zu machen? Wenn mich die sich aus dem Ärger ergebende Forschungsfrage ebenso reizt, dann freue ich mich darüber, mitzudenken und bei eigener Kompetenz auch ein Mitentwickler zu sein [allzuoft bescheide ich mich jedoch aus Mangel an Primärkompetenz mit einer Zuschauerrolle, wenn es beispielsweise um die Fragen geht, die sich die Physiker im CERN, die F&E Teams in der pharmazeutischen Industrie oder die Philosophen im Kontext ethischer Fragen im Umgang mit der KI stellen].

Die zweite schaut auf das Menschenbild, das der Theorie ihr Fundament verleiht. In vielen Theorien und ihren Operationalisierungen bleibt der anthropologische Hintergrund völlig ungeklärt, in anderen zeigt sich rasch ein Reduktionismus im Sinne eines ‚der Mensch ist nichts anderes als …‘. Für mich ist hier Vorsicht geboten, insbesondere dann, wenn eben dieser Reduktionismus – so sehr er sich für eine Forschung im Kontext begrenzter Ressourcen auch anbieten mag –  nicht explizit gemacht wird, sondern im Gegenteil aus ihm heraus ein subtiler Wahrheitsanspruch über die zuvor ‚reduzierte‘ Forschungsfrage hinaus abgeleitet wird. Eine robuste Theorie stellt in meinem Verständnis hingegen dann ein System wissenschaftlich begründeter Aussagen zur Erklärung bestimmter Tatsachen oder Phänomene dar, wenn darauf verzichtet wird, sie implizit bereits als ‚allumfassend‘ vorzustellen.

Und als dritte Messlatte ist für mich von Interesse, in welcher Weise aus der Theorie heraus für die heutigen Fragen der Menschheit handlungsorientierte Antworten gegeben werden oder abgeleitet werden können. Was hat die Theorie für den Lebensvollzug konkret mitzuteilen? Kann sie uns Menschen logisch, wie ethisch und ästhetisch voranbringen? Nachdem ich mir diese drei Messlatten vorgelegt und sie als Rahmen um die Sinntheorie von Viktor Frankl gezogen habe, fühlt es sich für mich stimmig an, diese als robust zu bezeichnen und sie in meiner eigenen Lebensführung und im Kontext meiner Arbeitsleistungen als Kompass einzusetzen. Hier in der KrisenPraxis steht nun für mich an, in ähnlicher Weise auf die Integrale Theorie von Ken Wilber zu schauen.