Archiv für den Monat: September 2023

2023 – neu: 15. Integraleres Denken

Im letzten Beitrag habe ich zur Arbeit an individuellen Sinnleere-Empfindungen die Perspektive eröffnet, dass ein von einer solchen Empfindung betroffener Mensch die jenseits seiner aktuellen Weltausschnittsgrenzen liegenden Sinnimpulse wahrnehmen könnte, würde er sein bestehendes Wertesystem öffnen und damit bereit werden für die Gelegenheiten, die sich im erweiterten Möglichkeitsraum des Lebens zeigen. Was sich dieser Weltöffnung häufig in den Weg stellt, sind Verlust-Ängste aber auch das bislang für das Leben ausreichend gewesene konzeptionelle, konditionierte Denken des Intellekts. Dieses Denken, das wir alle in unserem Kulturkreis so facettenreich anerzogen, antrainiert bekommen und ausgeformt haben, ist dann, wenn sich Sinnleere breitmacht, das gern zitierte ‚dicke Brett, das es zu bohren gilt‘. Es ist deshalb so dick, weil dieses Denken mit Zielen, Zwecken, Zeiten, Absichten, Kompetenzen und Aktionen verbunden ist, die allesamt ihre Beiträge dafür leisteten, dass der Mensch seinem Leben eine Form hat geben können. Solange diese Form mit Inhalten verbunden ist, auf die sich der Mensch mit Motivation ausrichten kann, sind Zustände wie Zufriedenheit, Genugtuung oder Wohlbehagen wahrscheinlich die Folge. Kommt das Denken des Intellekts jedoch an seine Grenzen und findet es immer weniger Inhalt vor, kommt der Mensch mit noch mehr Intellekt, mit noch mehr Gehirn-Geist, Verstand und Ratio auch nicht weiter. Es braucht also etwas anderes.

Albert Einstein meinte einmal: „Die Evolution ist eine Intelligenz von einer solchen Erhabenheit, dass verglichen damit das ganze systematische Denken und Handeln des Menschen ein höchst unbedeutender Abglanz ist.“ Und Evolution im Kontext der hier besprochenen Theorie von Wilber meint ‚integraleres Denken‘. Ein Denken, das sich ‚locker macht‘ von festen Formen, Dogmen, Glaubenssätzen. Schauen wir dazu auf die Werte-Ebenen, so findet sich dieses Denken ab dem Gelb-Meme. Bis dahin denkt der Mensch im Rahmen seiner psychischen Verfassung. Ab Gelb hingegen erwächst eine besondere, neue Freiheit. Die Freiheit, fest davon überzeugt sein zu müssen, irgendwie zu wissen, wie die Dinge sind oder wie sie sein sollten. Und – im Sinne Frankls – auch in der Verantwortung dafür zu stehen, diese einst psychisch fest verankerten Überzeugungen nun im Gelb-Meme zu lockern.

Bei Sätzen wie diesen muss man auf den nächsten Kaperungsversuch der Psyche nicht lange warten, schließlich sieht sie es als ihre Aufgabe an, den Menschen zu unterstützen, ‚die Form zu wahren‘. Und – wie angemerkt – solange die Form [und sei es auch eine lebensungünstige] passt, passt die Psyche den Menschen immer wieder und weiter an diese Form an. Never touch a running system, oder wie die Lateiner wussten: Quidquid recipitur, ad modum recipientis recipitur [Was auch immer empfangen wird, wird gemäß der Weise des Empfangenden erfasst].

Empfindet eine Person nun in ihrem Leben eine Sinnleere, stellt das Bewahren der bisherigen Form [hier also die Umgangs-Form in existenziellen Belastungen] kaum eine Verbesserung der Situation in Aussicht. Es gilt daher, einen Transzendenzprozess auf eine höhere Bewusstheit einzuleiten. Auf den Werte-Ebenen bis Grün findet diese Transzendenz im Modus des konzeptionellen, konditionierten Denkens statt, ab dem Übergang von Grün zu Gelb transzendiert die Person in eine Bewusstheit, in der sie sich verzerrungsbefreiter mit ihrem Leben verbunden fühlt und sich dieses Lebens als gleichwertig mit allem Leben gewahr wird. Ein starkes Signal dafür, dass man in dieser Bewusstheit lebt, ist das Erstaunen darüber, dass man sich immer zunehmender in Konfliktfreiheit mit sich, anderen und allem fühlt. Geht man den Gründen für das Erstaunen nach, so entdeckt man an sich das Phänomen, anders als früher multidimensionaler zu denken, generativer zu sprechen, Paradoxes und Unsicheres nicht abzuwehren, vielmehr es als Ressource zur Entwicklung eines immer stärker werdenden Unterscheidungsvermögens anzunehmen. Ab Gelb empfindet man einiges im Verhalten bis Grün als langweilig. Beige-Hilferufe, Purpurnes-Geplauder, Rote-Befehle-und-Anweisungen, Blaue-Erlasse-und-Debatten, Orange-Erklärungen-und-Diskussionen, Grüne-Aushandlungen-und-Dialoge – ab Gelb hat man diese Wege der Kommunikation eingeschlossen und transzendiert die Gesprächsführung von einer reinen Ich-Du-Wir-Form hin zu einer Gesellschaftsperspektive.

Machen wir es konkret: Angenommen, ein Mensch empfindet Sinnleere in seiner aktuellen beruflichen Situation. Seine beruflichen Erfolge bleiben seit einiger Zeit aus, das Feedback hinsichtlich seiner Karrieremöglichkeiten bleibt hinter den eigenen Erwartungen zurück und die Aussicht auf Stillstand ist gegeben, die Verteilung von Ressourcen erlaubt keine anspruchsvolleren Projekte, die bisherigen Aufgaben werden durch Einsatz von Technologien ausgedünnt. Man macht zunehmend einen Job ohne wirkliche Erfüllung. Die Werte des Orange-Meme sind immer weniger verwirklichungsfähig. Allfällige Versuche, die Form beizubehalten, aber mit neuen Orange-Inhalten zu befüllen, scheitern [z.B. Bewerbungen in vergleichbare Funktionen in andere Unternehmen gelingen nicht, der Sprung in die Selbstständigkeit unter Beibehalt bisheriger Inhalte werden vom Markt nicht goutiert …]. Was also tun? ‚Dienst nach Vorschrift‘ wäre eine mögliche Form des blauen Meme, die Suche nach einer Vorstandsrolle im Fußballverein eine im roten Meme. Der Selbstzweifel in Form einer Depressionserkrankung kann als Ausdruck des beigen Meme angesehen werden. Solche Formgebungen sind deshalb leicht umsetzbar, da das orange-Meme alle vorherigen Meme einschließt. Neu wäre somit die Transzendenz ins Grün-Meme, der Suche nach Sinn in einem gemeinwohlorientierten, empathiezentrierten und durchaus auch das Orange-Meme einschließenden Umfeld. Wäre die Person dahingehend weltoffen, könnte sie grüne Sinn-Impulse wahrnehmen, womöglich über Kommunikationskanäle [Beobachtungen, Gespräche, Literatur usw.], die bislang nicht zu den präferierten gehörten, da nicht anschlussfähig für die als notwendig angesehenen Verhaltens- und Handlungsweisen im Orange-Meme.

Ein zweites Beispiel: Angenommen, eine Person empfindet Sinnleere in ihrer aktuellen privaten Situation. Nach dem plötzlichen Tod des Lebenspartners, mit dem in den vergangenen Jahren verschiedene Gemeinschaftsprojekte initiiert wurden, die Freude an der Verbesserung vieler individueller Lebenslagen ein kontinuierlicher Wegbegleiter der beiden Partner war, eigene schwierige, insbesondere gesundheitliche und finanzielle Störungen durch Aufrechterhaltung einer grundsätzlichen Zukunftszuversicht und Fröhlichkeit beseitigt oder relativiert werden konnten, steht nun eine neue Phase der Lebensführung zur Gestaltung an. Die Person wird von einem lange nicht mehr erlebten Empfinden von Aussichtslosigkeit erfasst, die Psyche macht sich bemerkbar durch Angstgefühle und Endzeitgedanken. Nach ein paar Wochen stellt in einem Gespräch mit einem Bekannten dieser die Frage: „Was wäre gewesen, wärst Du vor Deinem Partner gestorben?“ Die Antwort kommt schnell: „Das wäre für ihn ganz schlecht gewesen, das hätte er kaum ertragen.“ Und der Bekannte sagt darauf: „Dann ist das ja Deinem Partner durch Dich erspart geblieben, auch wenn es nun für Dich bedeutet, ihn zu betrauern und Deinen Weg weiterzugehen.“ Mit diesem kurzen Gespräch konnte die Person eine neue Einstellung zu den weiterhin gegebenen Möglichkeiten entwickeln, sie kam wieder in ihre Kraft und nahm kurze Zeit später verwundert zur Kenntnis, dass sie – trotz ihres Verlustes – das, worum es an sich immer ging, fortsetzen konnte und wollte. Die Illusion, die Aufgaben müssten stets gemeinsam an sie und ihren Partner gebunden sein, wurde aufgegeben. Die Liebe zu den Aufgaben blieb erhalten, ein Gefühl von gelassener Freiheit wurde berichtet.

Bei diesem Übergang vom Grün-Meme in eine gelbe Bewusstheit des Gelassen-Seins half der Person letztlich nur ein einziges Gespräch. Man könnte dieses Gespräch als Sinn-Impuls begreifen, ein Impuls, der dazu beitrug, dass der Kaperungsversuch der Psyche in Richtung Angst und Aussichtslosigkeit zugunsten eines Erhalts der Weltoffenheit abgewendet wurde.

2023 – neu: 14. Die vierte Hauptstraße zum Sinn

Wie hatte Frankl noch einmal die Sinnquellen beschrieben, die jedem Menschen zur Verwirklichung von Werten bereit stehen? Eine erste Quelle, in der Menschen Sinn finden können, ist die der Aufgaben, die nicht erledigt und gelöst würden, wäre der Mensch nicht ein homo faber, der arbeitende Mensch, der unternimmt und schöpferisch tätig wird.

Als zweite Quelle steht das Erleben bereit. Der homo amans – der liebende Mensch – empfängt und genießt mit Freude in Welt der Natur, der Kultur, des Miteinanders. ‚Erst die Arbeit, dann das Vergnügen‘, mit dieser Formel wurden in meiner Kindheit diese beiden für Frankl gleichwertigen Quellen in eine Hierarchie gebracht. Heute macht sich in meiner Anschauung ein sonderbares Streben nach Balance zwischen Aufgabenerfüllung und Selbsterfüllung auf angestrengte Weise breit. Zuweilen scheint es mir, als wäre eine gelungene Umkehrung der alten Formel eine Art Verhandlungserfolg des Einzelnen über seine Welt. Aber das ist meine Wahrnehmung und sie steht hier nicht weiter in Rede. Eher soll auf die dritte Quelle hingewiesen werden, die Frankl für diejenigen Situationen im Leben benennt, in denen der Zugang zu den beiden anderen erschwert oder sogar verunmöglicht wird. In diesen Situationen ist der homo patiens gefragt, der Mensch, der angesichts eines Leids, einer zu verantwortenden Schuld oder im Wissen um den nahenden Tod, zu einer existenziellen Stellungnahme aufgefordert ist.

Auf diesen drei Hauptstraßen zum Sinn kann sich nach Frankl der Mensch bewegen und in dieser Bewegung verwirklicht der Mensch bestehende individuelle Werte, seien es schöpferische Werte [wie zum Beispiel Leistung, Arbeit, Aufbau, Beitrag, Neuerung, Tatkraft …], Erlebniswerte [wie zum Beispiel Anmut, Zünftigkeit, Geschicklichkeit, Schönheit, Flair …] oder Einstellungswerte [wie zum Beispiel Tapferkeit, Faulheit, Versöhnlichkeit, Askese, Resolutheit ..].

Und wie das Leben so spielt, beginnt jeder Tag mit einer neuen Reise über diese Straßen. So kann ein Mensch:

  • beim Zähneputzen [Handlung, aufbauend auf schöpferischen Werten]
  • ein paar Lieder im Radio hören [Handlung, aufbauend auf Erlebniswerten],
  • sich dann wettertaugliche Kleidung anziehen [Handlung, aufbauend auf schöpferische Werte],
  • über den Lieblingsweg mitten im Grünen zur Arbeit radeln [Handlung, aufbauend auf Erlebniswerten und schöpferischen Werten],
  • dann dabei unterbrochen werden, weil man eine Unfallstelle sichert und, weil man das tut, den ersten Termin im Büro verpassen wird [Handlung, aufbauend auf Einstellungswerten und schöpferische Werten],
  • dann verspätet ankommen und die Überraschung annehmen, von Kollegen mit einem Geburtstagskuchen begrüßt werden [Handlung, aufbauend auf Erlebniswerten] usw. usw.

Andererseits kann die Person auch reflektieren, entlang welcher Werte-Meme sie ihren Tag gestaltet hat:

  • Beim Zähneputzen ein paar Lieder im Radio zu hören [kann ein Hinweis auf blaues Meme sein: Strukturierter Tagesbeginn],
  • sich dann wettertaugliche Kleidung anzuziehen [kann ein Hinweis auf orange sein, adäquate Leistungserbringung für die Bewältigung möglicher Wetterprobleme],
  • über den Lieblingsweg mitten im Grünen zur Arbeit zu radeln [kann ein erneuter Hinweis auf blau sein, Nutzung eines Routineprozesses, vielleicht auch mit grünem Anteil aufgrund der Geringhaltung von umweltbeeinträchtigende Handlungen],
  • dann dabei unterbrochen zu werden, weil man eine Unfallstelle sichert und weil man das tut, den ersten Termin im Büro verpassen wird [kann ein Hinweis auf blau sein, eine Entscheidung aufgrund intrinsischer moralischer Verpflichtung, vielleicht auch mit rotem Anteil aufgrund der Selbstbemächtigung, diese Entscheidung willensstark auch gegen mögliche Konflikte zu treffen],
  • dann verspätet anzukommen und von Kollegen mit einem Geburtstagskuchen begrüßt zu werden [vielleicht ein Hinweis auf türkis, wenn der Moment angenommen wird so wie er ist] usw. usw.

Das, was das Leben einem Menschen aufträgt, „wechselt nicht nur von Mensch zu Mensch – entsprechend der Einzigartigkeit jeder Person – sondern auch von Stunde zu Stunde, gemäß der Einmaligkeit jeder Situation“ sagt Viktor Frankl und – wir können ergänzen – hält jederzeit für einen Menschen einen Sinn bereit, den er mit seinem Sinn-Organ [dem Gewissen], und entlang seiner entwickelten Werte-Meme finden und verwirklichen kann.

Diese Ergänzung erscheint mir aus einem persönlichen Ärgernis heraus wichtig zu sein. In zahlreichen Büchern und Online-Vorstellungen der Integralen Theorie von Wilber mit ihren Verweisen auf die Werte-Meme nach Clare W. Graves, wird oftmals das türkise Meme als dasjenige ausgezeichnet,

  • in dem sich ein Mensch mit dem Thema Sinn auseinandersetzt
  • in dem Menschenführung oder Organisationsentwicklung sinnorientiert vollzogen wird
  • in dem der Sinn quasi zu Hause ist

Diese Zuschreibung halte ich für Unfug, suggeriert sie doch eine Art Exklusivrecht auf Sinn oder eine Exklusivhaltung mit Sinn, wenn ein Mensch die Entwicklung auf diese türkise Ebene vollzogen hat. Nein, Sinn kann der Person nicht zugeschrieben werden, denn Sinn ist in der Welt und wird von einer Person mit einer aktuell beigen Bewusstheit aufgrund eines Themas, das dieser Bewusstheit bedarf, anders kontexualisiert als von einer Person mit einer purpurnen, roten oder anderen. Steht zum Beispiel eine Person – wie jüngst bei den extremen Unwettern in Südosteuropa – in der grauenhaften Lage, sich der Wassermassen nicht mehr erwehren zu können und steht sie förmlich vor dem materiellen Aus, so bleibt der Sinn in Form eines fundamentalen Sinns des Lebens erhalten und wird als THEMA mit dem Überlebens-Meme Beige entsprechend adressiert. Hat eine andere Person ihren Wohnsitz an einem Ort, wo sich die Wassermassen nicht derart brachial ihren Weg gebahnt haben, dann mag es sein, dass diese Person vielleicht mit ihrem blauen Ordnungsmeme zuerst die eingetretenen persönlichen Schäden dokumentiert, um die eigene Familie vor finanziell negativen Auswirkungen zu schützen, um sich nach getaner Befassung mit diesem Thema dann einem neuen zu stellen, vielleicht dem Thema ‚Unterstützung des technischen Hilfswerks beim Wegräumen des Schutts in schwererer betroffenen Gebieten“. Hier könnte die Person den Sinn also in einem Impuls entdecken, der sie aufruft, die Werte des grünen Meme mit seinem Aspekt der sozialen Verantwortung zur Verwirklichung zu bringen.

Wenn ich also sehr dazu rate, damit aufzuhören, eine Sinnzuschreibung einzig dem türkis Meme vorzubehalten, so stelle ich dafür einen anderen Begriff in den Raum, der mir für dieses Meme zur besseren Differenzierung aller bisherigen geeigneter zu sein scheint – den Begriff der Wertfreiheit. In Türkis ist Alles mit Allem verbunden, das Universum eine Einheit fein balancierter ineinander greifender Kräfte. Diese Kräfte wirken, ohne dass ihrer Wirkkraft eine Wertung zugrunde liegt noch einer solchen es bedarf.

Wertfreiheit stellt in meiner Anschauung eine Art Implosion der Weltausschnittsgrenzen dar. Ein Mensch hat seine Transzendenzfähigkeit derart ausgebildet, so dass er über die Offenheit zur Klärung und Weiterentwicklung des eigenen Wertesystems – die ich dem gelben Meme zuschreibe – zur Offenheit zur ‚Vernachbarschaftlichung‘ alles Anderen mit dessen Werten gelangt. Mit dieser Offenheit zur Wertfreiheit, eines Zusammenfallens aller eigener Werte mit allen anderen Werten und über dies hinaus mit allen weiteren Werten, geht der Mensch auf der vierten Hauptstraße zum Sinn, der Straße der Vollendung. Wer auf dieser Straße geht, den will ich homo complens, den vollendenden Menschen, nennen.

2023 – neu: 13. Beitrag des Menschen zur Selbstüberwindung seiner Weltausschnittsgrenzen

Im letzten Beitrag wurden die drei Hauptstraßen zum Sinn aus der Sinntheorie Frankls vorgestellt. Da Sinn sich ‚in der Welt für jeden Menschen als jederzeit Gegebenes‘ darstellt, sich jedoch Welt – konstruktivistisch gedacht – für jeden Menschen stets als ein von ihm definierter Weltausschnitt mit ‚Weltausschnittsgrenzen‘ zeigt, mag die Hypothese angemessen sein, dass ein Mensch, der seine Welt mehr oder minder als sinnleer empfindet, darin zu unterstützen ist, Sinnimpulse gerade nicht in seinem Weltausschnitt zu suchen, sondern mithilfe seiner per se gegebenen Transzendenzfähigkeit eine geistige Grenzüberschreitung vorzunehmen. Für diesen Blick hinter den eigenen Horizont bietet sich entlang Ken Wilbers Integraler Theorie die Idee an, dass eine Person für das THEMA ‚Sinnfindung‘ ein neues SCHEMA entwickelt und letztlich damit einen Schritt auf derjenigen Entwicklungslinie weitergeht, die von zentraler Bedeutung dafür ist, einen neuen ‚Umgang mit der eigenen Welt‘ einzuleiten. Wenn nämlich, wie Frankl postuliert, Sinnfindung durch Werteverwirklichung geschieht, dann darf gefolgert werden, dass die Person auf ihrer Entwicklungslinie ‚Werte‘ aufgerufen ist, eine Erweiterung ihrer ‚Weltausschnittsgrenzen‘ vorzunehmen. Diese Erweiterung meint explizit nicht Abwertung der bisherigen Grenzen mit ihren Werten, sondern im Gegenteil und im Sinne Wilbers ‚Einschließen des Bisherigen und Transzendieren auf die Erweiterung‘. Ein guter Grund für diese Erweiterung liegt ohnehin vor, da die Person ja dem Empfinden von Sinnleere entrücken will und womöglich nur nicht weiß, an welcher Grenze ihrer Welt es ein ‚wohin es sie ziehen könnte‘ gibt.

Wenn wir dies konkretisieren wollen, dann sei zuerst daran erinnert, dass sich aus der Kombination von THEMA + SCHEMA ein Handlungs- oder Verhaltens-MEME ergibt. Wie in einem früheren Beitrag erwähnt bringen MEME die Bewusstheit zum Ausdruck, mit der ein Mensch im Hier und Jetzt sich verhält oder handelt. In den meisten Lebenssituationen passt der Umgang (das Schema) zum Thema. Passt das Schema nicht, dann auch nicht das Meme. Der Mensch verfehlt sich, verrennt sich, demotiviert sich. Im extremen Fall fällt die Person in Selbstzweifel, dem zentralen Indiz für eine Lebenskrise. An seinem Selbst zu zweifeln meint im Kern, an den eigenen Grundüberzeugungen und Werten zu zweifeln. Man bewertet sich als nicht mehr in der Lage, Herr im eigenen Haus zu sein und einen passenden Weg finden zu können, mit dem man sein Leben als sinnvoll fühlt.

Es gilt spätestens jetzt (besser jedoch bereits im Rahmen einer Individuellen Krisenprävention), sich im ersten Schritt der Werte bewusst zu werden, mit denen man sich innerhalb der bisherigen ‚Weltausschnittsgrenzen‘ verhält und handelt. Und im zweiten Schritt dann das Meme mit seinen Werten zu erarbeiten, das außerhalb dieser Grenzen liegt und womöglich die Sinnimpulse bereithält, die bislang noch keinen Zugang in die eigene Welt gefunden haben.

Um diese Arbeitsschritte etwas zu erleichtern, wurde in einem interdisziplinären Team für jedes Meme [siehe dazu die Ausführungen in den früheren Beiträgen] ein Set an Werten identifiziert und im Tool „Life2Me® – Einstellungswerte“ zusammengeführt. Dieses Tool wird in meiner Praxis insbesondere im Kontext existenzieller Abschiede genutzt und wurde erstmals im Rahmen der Buchvorstellung ‚Coaching des Todes‘ im Jahr 2020 eingeführt.

Hier die jeweils 13 Wertebegriffe für die Meme-Ebenen nach Clare W. Graves von Beige bis Türkis:

Beige [das Meme des Überlebens]: Zweckmäßigkeit, Präsenz, Robustheit, Stärke, Tüchtigkeit, Verzicht, Wachsamkeit, Wendigkeit, Zähigkeit, Maßhaltung, Antrieb, Hoffnung, Abhärtung

Purpur [das Meme der Geborgenheit]: Andenken, Anschluss, Ehrfurcht, Gemeinschaft, Glaube, Herkunft, Liebe, Nähe, Religiosität, Rückhalt, Sozialität, Verankerung, Zugehörigkeit

Rot [das Meme des Einflusses auf Menschen und Dinge]: Direktheit, Dominanz, Exzentrik, Härte, Kampfgeist, Macht, Meisterhaftigkeit, Mut, Radikalität, Selbstsicherheit, Strenge, Unkompliziertheit, Wille

Blau [das Meme der Strukturbildung]: Zuverlässigkeit, Tradition, Sicherheit, Pflicht, Ordnung, Korrektheit, Konventionalität, Höflichkeit, Gerechtigkeit, Disziplin, Treue, Sittsamkeit, Kontrolle

Orange [das Meme der Zielmotivation]: Pionier, Originalität, Kreativität, Individualität, Dynamik, Attraktivität, Neuerung, Leistung, Expertentum, Ehrgeiz, Anspruch, Ansporn, Veränderung

Grün [das Meme der Gemeinwohlausrichtung]: Aufklärung, Balance, Behutsamkeit, Beteiligung, Gleichberechtigung, Kameradschaft, Menschlichkeit, Natur- und Umweltverbundenheit, Resonanz, Respekt, Substanz, Toleranz, Zukunft

Gelb [das Meme des vernetzteren Denkens]: Beweglichkeit, Freigeist, Idealismus, Klugheit, Liberalität, Reform, Spiritualität, Tiefsinnigkeit, Trennung, Unbefangenheit, Vermittlung, Wagemut, Weitblick

Türkis [das Meme des integraleren Denkens] : Anmut, Demut, Geduld, Holismus, Stille, Tragfähigkeit, Transparenz, Transzendenz, Unvoreingenommenheit, Weisheit, Wirkung, Würde, Zeitlosigkeit

Fraglos kann die Zusammenstellung dieser Wertegruppen kontrovers diskutiert werden. Bei der schier unendlichen Vielfalt individueller Begriffsverständnisse würde es verwundern, käme es an dieser Stelle nicht zum Wunsch der Ergänzung weiterer Werte zu einzelnen Gruppen, Verschiebungen von Werten in andere Gruppen oder der Streichung von Begriffen. Wir haben in unserer Diskussion ‚im kleinen Kreis und am grünen Tisch‘ unser ‚kollektives Gefühl‘ herangezogen und dabei berücksichtigt, dass die Meme beige, rot, orange und gelb im Konzept von Graves als jeweils ichorientiert, die Meme purpur. blau, grün und türkis als jeweils gruppenorientiert definiert sind. Die Frage, die wir uns stellten, war daher: ‚Fühlt es sich für uns stimmig an, dass sich zum Beispiel die Werte des ichorientierten roten Memes als Grundlage für die Entwicklung des nächsthöheren ichorientierten Memes – hier orange – anbieten?“ Da nach Wilber eine Meme-Ebene die vorangegangenen EINSCHLIESST und ihrerseits die Grundlage zur TRANSZENDENZ auf höhere Ebenen ist, hielten wir diese Vorgehensweise für angemessen. Und dies wohlwissend entlang unserer Annahme, dass gerade aus dem starken orange-Meme unserer Leistungsgesellschaft heraus sofort die Kritik zu erwarten ist, dass ein solches Vorgehen weithin als wissenschaftlich unzureichend verworfen werden würde. Ja, und so konstatieren wir augenzwinkernd mit Bert Brecht: ‚Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen‘ (aus: Der gute Mensch von Sezuan), nicht ohne die ‚beige‘-Hoffnung, dass unser Impuls ‚überlebt‘ und seine Reise auf der dynamischen Spirale der Meme bis hin zum kaleidoskopischen Blick auf das Ganze eine Chance hat.

2023 – neu: 12. Gedanken zur Idee einer Integralen Sinntheorie als Erweiterung des Gedankenguts von Viktor Frankl

Viktor Frankl ging es stets darum, Freuds Psychoanalyse und Adlers Individualpsychologie zu ergänzen, indem er den diesen Richtungen immanenten Psychologismus und Reduktionismus transzendierte in ein Menschenbild, das den Menschen als Wesen auszeichnet, das weltoffen nach Sinn in seinem Leben strebt. Dies vor Augen, drängen sich mir Fragen auf, für die ich in den kommenden Monaten nach Antwortmöglichkeiten suchen werde:

  • Lässt sich neben den von Frankl beschriebenen drei Hauptstraßen zum Sinn womöglich heute eine vierte finden? Vielleicht zeigt sich heute, gut 100 Jahre nach Begründung der dritten Wiener Schule für Psychotherapie durch Frankl eine Straße, die sich dank vergrößerter individueller Möglichkeiten zur Weltoffenheit erst dann zeigt, wenn ein Mensch eine integralere Gegenwarts-Bewusstheit entwickelt hat [im Graves Modell die Meme ab Gelb]?
  • Angenommen, eine solche Straße ließe sich sprachlich fassen, wie würde ein Mensch es dann womöglich ausdrücken, wenn er sagt, dass er mit sich und der Welt im Einklang steht, wenn er sich auf dieser Straße auf die Reise hin zum Sinn macht?
  • Auch würde mich interessieren, ob es in einer früheren Epoche der Menschheitsentwicklung bereits Anzeichen für eine solche Gegenwarts-Bewusstheit und ein entsprechendes integraleres Werte-Meme gegeben hat? Anzeichen, die aber nicht stark genug waren, um sich in einer breiteren Gesellschaft als Ausgangspunkt ihrer weiteren Entwicklung anzubieten.
  • Und gegenwartspraktisch: Womit könnte ein integral arbeitender Logotherapeut seine Klienten im Rahmen einer Integralen Logotherapie über den Rahmen der ‚klassischen‘ Logotherapie hinaus unterstützen? Und überhaupt: woran kann ein Logotherapeut wahrnehmen, dass er eine integrale Bewusstheit für die Ausübung seiner Rolle entwickelt hat?

Drei Hauptstraßen zum Sinn?

In der Sinnlehre von Viktor Frankl wird betont, dass der Mensch sich nur in dem Maße zu verwirklichen vermag, indem er einen Sinn draußen in der Welt, nicht aber in sich selbst erfüllt. Diesen Prozess nennt Frankl die Selbsttranszendenz der menschlichen Existenz. Eine Selbstverwirklichung hingegen, die auf etwas hingeordnet ist, das nicht über den Menschen selbst hinausgeht, sondern letztlich nur wieder auf ihn selbst verweist, ist nach Frankl ’sinn-los‘.

Wirklich Mensch ist der Mensch nur dort, wo er in der Hingabe an eine Aufgabe aufgeht oder in der Liebe zu einem Gott*, zu einer Sache oder zu einer anderen Person sich selbst übersieht und vergisst. Diese menschliche Fähigkeit zur Selbstvergessenheit, sich zurückzustellen und sich nicht alles von sich selbst gefallen zu lassen, ist gleichermaßen Ausdruck seiner Fähigkeit zur Selbsttranszendenz. Und selbst in den tragischen Situationen menschlicher Existenz, bei Leid, Schuld oder Tod, kann er diese Fähigkeit einsetzen durch eine Modulation seiner Einstellung, die einer womöglich psychischen Hilf- und Hoffnungslosigkeit entgegenwirkt. [* In Frankls sinnzentrierter Psychotherapie wird Religion neutral als Gegenstand, nicht aber als Standort angesehen. Aus dieser Perspektive wird Gott zu einem Sprachpartner, wobei der Mensch nicht immer versteht, mit wem er sich tatsächlich unterhält. Der Mensch bezieht sich auf das Absolute, das eigentlich unbeziehbar ist und erlebt ein Geborgenheitsgefühl, das ihm insbesondere in Grenzsituationen hilft und das dadurch therapeutische Relevanz besitzt. vgl. Frankl V.E: [1972]: Der Wille zum Sinn, Hans Huber Verlag Bern, 73-74]

Hat nun der Mensch Sinn in seinem Leben entdeckt und steht ihm seine Psyche nicht im Weg, eben diesen Sinn auch zu verwirklichen, so macht sich der Mensch auf den Weg über eine der Hauptstraßen hin zum Sinn.

Auf der ersten Hauptstraße hin zum Sinn geht der schöpferische Mensch. Er hat in der Welt eine Aufgabe entdeckt, die nicht gelöst würde, wenn nicht von ihm. Dafür setzt er seine Kraft, seine Fantasie, seine Fähigkeiten, Talente und Ideen ein. Er wird schöpferisch tätig und verwirklicht schöpferische Werte.

Auf der zweiten Hauptstraße hin zum Sinn geht der erlebende Mensch. Er hat in der Welt einen Schatz entdeckt, den zu erleben, ihn mit Freude erfüllt. Schätze finden sich in der Kultur, in der Natur, in der Anschauung anderer Menschen, in der liebenden Berührung, im Gebet, letztlich in der bewussten Wahrnehmung einer den Menschen kräftigenden Quelle. Der Mensch erlebt und verwirklicht Erlebniswerte.

Auf der dritten Hauptstraße hin zum Sinn geht der leidende Mensch. Er hat in der Welt einen auf ihn weisenden Gegenstand entdeckt, den er zwar nie entdecken wollte, dem er sich aber unabänderlich zu stellen hat. Diese Gegenstände finden sich im Leid, im Gewahrwerden eigener Schuld oder im Angesicht des Todes. Der von diesen Gegenständen ausgehende Sinnimpuls führt den Menschen zu einer Stellungnahme. Sie ermöglicht ihm, nicht zu  verzweifeln, sondern seiner Geistbegabung folgend trotzdem ‚Ja‘ zum Leben zu sagen. Der Mensch bezieht Stellung, er bleibt in der Autorschaft seines Lebens und verwirklicht Einstellungswerte.  

Lassen Sie uns kurz zurückschauen: Seinen ersten Vortrag über die Sinnfrage hielt Frankl bereits mit 16 Jahren. Und bereits 1929 fand der 24jährige Frankl dann das Grundgerüst seiner ,Sinnlehre‘ mit den drei Wertekategorien, die für ihn die grundsätzlichen Möglichkeiten des Menschen darstellen, Sinn im Leben zu finden: durch eigenes Erschaffen, durch eigenes Erleben und – in Krisen – durch eigene Neueinstellung zum Leiden.

Nach dem Sinn im Leben zu fragen, stellt das eigentliche Humanum dar. Für Frankl ist der Mensch ständig auf der Suche nach Sinn, er hat einen unbedingten Willen zum Sinn. Findet der Mensch einen Sinn, dann – und nur dann – ist er glücklich. Und damit die Sinnfindung gelingt, kann der Mensch auf eine Fähigkeit zurückgreifen, zu der nur er in der Lage ist: Zur Fähigkeit der Selbsttranszendenz. Der Mensch ist mit dieser Fähigkeit mehr als nur ein reagierendes oder ein abreagierendes Wesen. Er ist auch ein sich selbst vergessen könnendes, sich selbst transzendierendes Wesen. Damit meint Frankl, dass menschliches Dasein immer über sich hinausweist, auf etwas, das nicht er selbst ist, sondern auf etwas oder jemanden, den er liebt. Oder auf eine Aufgabe, die er sich nicht selbst gemacht hat, der er sich aber hingibt. Und auch in einer Situation eines unabänderlichen Schicksals geht es für Frankl nicht darum zu fragen, was man vom Leben (noch) zu erwarten hätte. Diese Haltung führt seiner Meinung nach am Sinn des Lebens vorbei. Es geht vielmehr darum, sich umgekehrt vom Leben befragen zu lassen und darauf zu achten, was das Leben von einem selber verlangt. Es gilt, die Frage der Stunde, des Augenblicks, der Situation zu verstehen und darauf eine ganz persönliche Antwort zu geben, denn, so Frankl, „wir sind es, die zu antworten haben auf die Fragen, die uns das Leben stellt.“

Im Kontext der Wilber’schen Theorie können wir die Analogie bilden, dass ein Mensch, der von seinem Leben aufgefordert wird, ein Gespräch zu führen, eine Aufgabe zu erledigen, ein Problem zu lösen, einen Konflikt zu mindern, eine Krise zu meistern usw. dies entlang seiner Gegenwarts-Bewusstheit, also mit einer seiner entwickelten Werte-Ebenen [Meme-Ebene] tun wird. Anders als in den drei von Frankl genannten Wertekategorien stehen nun für jede Werte-Ebene ein Set an Werten zur Verfügung, die ein Mensch in seinem Wertesystem verankert haben kann [welche Werte in meiner Anschauung den Ebenen zugeordnet werden könnten, werde ich in einem der Folgebeiträge besprechen].

Führt nun eine Situation dazu, dass eine gegebene Gegenwartsbewusstheit für deren Bewältigung nicht passend ist, steht der Mensch [bei Wilber ist das der Prozess des Transzendierens] nun vor dem Aufruf, einen Entwicklungsprozess hin zu einer neuen, höheren Werte-Ebene einzuleiten, der bestenfalls dazu führt, dass damit die Situation gestaltet werden kann.

Im Konzept Frankls steht vor dieser Entwicklung jedoch noch die Beantwortung einer anderen Frage im Vordergrund: Vermittelt der spezifische Aufruf des Lebens dem Menschen Sinn oder ist die Gestaltung der Situation lediglich zweckdienlich?

Dazu ein einfaches Beispiel: Angenommen, eine Person ruft Sie an und fragt, ob es möglich sei, ein Produkt, das üblicherweise von Ihnen hochpreisig verkauft wird, für ein gemeinwohlorientiertes Projekt kostenfrei von Ihnen erhalten zu können?

  • Sofern Sie das, was Sie im Gespräch wahrnehmen, BEGEISTERT, so wird Ihre eigene Geistbegabung dazu beitragen, sofort das Wofür zu entdecken. Aber womöglich wird sich im Anschluss Ihre Psyche melden und Ihnen allerlei Fragen stellen, vielleicht im Sinne eines: Bringt Dich das weiter? Was sind die Pro’s und Con’s? Kannst Du der Sache vertrauen? ….
    In diesem Fall wäre die Psyche eine Art Zensor des Sinnimpulses und eine Reflexion der Frage: Warum brauche ich diesen Zensor? wäre lohnend.
  • Oder aber, Sie sind nicht begeistert, aber Ihre Psyche stellt Ihnen dennoch solche Fragen wie oben und Sie beantworten sie sich so, dass Sie das Produkt zur Verfügung stellen. Dann erfüllt die Abgabe einen Zweck, vielleicht in Form eines Reputationsgewinns, eines guten Gefühls, einer Hoffnung auf eine Belohnung zu späterer Zeit. In diesem Fall wäre die Psyche eine Art Erlaubnisgeber für den guten Zweck und eine Reflexion der Frage: Warum brauche ich eine Stimme in mir, die mir das erlaubt? wäre lohnend.
  • Was aber, wenn Sie BEGEISTERT sind und spontan sagen: Ja, gewiss, damit stehe ich im Einklang! In diesem Fall hat die Psyche nicht die Oberhand über das Geschehen übernommen, sondern das Geistige mit seiner Transzendenzfähigkeit und der mit ihr verbundenen Werteverwirklichung. In diesem Fall wäre also nicht ein Erlaubnisgeber in Ihnen aktiv, sondern Ihr Gewissen – die Instanz der in Ihnen innewohnenden absoluten Selbstverständlichkeit, die sogar beißt, wenn Ihre Psyche versucht, sich zwischen Sie und Ihre gewissenhafte Entscheidung zu drängen. In diesem Fall lohnt sich eine Reflexion der Frage: Wann in meinem Leben habe ich meinen wesentlichen Werten folgend gewissenhaft gehandelt?

Behalten wir das Ausgangsszenario bei und kommen wir zurück zu Ken Wilber. Hier wäre nun die Anfrage nach der Überlassung des Produktes für einen gemeinwohlorientierten Zweck das THEMA. Mit diesem Thema können Menschen nun je nach Status quo ihrer Entwicklungslinie und ihrer Werte-Ebene zu einer völlig unterschiedlichen Entscheidung kommen.

Aber einmal angenommen, Sie hätten den Anruf entgegengenommen und wären auf Ihrer moralischen Entwicklungslinie [ein wissenschaftlicher Protagonist für die Erforschung individueller Moral ist Lawrence Kohlberg] auf der Stufe angekommen, auf der Sie sich an universell ethischen Prinzipien orientieren. Weiter sei angenommen, Sie wären auf der emotionalen Entwicklungslinie [hier ist eine wissenschaftliche Adresse Daniel Goleman] im Feld der Empathie. Und noch weiter sei angenommen, Sie würden zustimmen, auf der Entwicklungslinie Ihrer Bedürfnisse nach Abraham Maslow das Feld der Selbstverwirklichung erreicht zu haben.

Ergänzen wir nun die im Wilber’schen Gedankengut integrierte Betrachtung der Werte-Ebenen nach Clare W. Graves und nehmen an, dass Sie sich Handlungen und Verhaltensweisen entlang von Werten, die auf menschliche Bindung und soziale Verantwortung gerichtet sind, selbstverpflichtet fühlen.

In dieser Konstellation einiger Ihrer Persönlichkeitsmerkmale wäre die Hypothese tauglich, dass Sie das THEMA mit solchen SCHEMATA adressieren, die annehmen lassen, dass Sie Ihre Entscheidung im Kontext des Grünen Meme vornehmen. Es wäre zu erwarten, dass Sie wertebasiert bereit wären, dem Anrufer eine positive Antwort zu geben und Ihr Produkt zur Verfügung zu stellen.

Was aber, wenn Sie zwar über dieses Meme verfügen, jedoch nicht vom Anrufer BEGEISTERT werden? Wenn Sie zwar VERSTEHEN, was der Anrufer mit seiner Frage BEZWECKT, in Ihnen jedoch kein GEFÜHL einer möglichen Werteverwirklichung entsteht, das Sie aufruft, der Anfrage positiv zu folgen? Woran könnte dieser Gefühlsmangel liegen?

  • Vielleicht liegt es daran, dass der Anrufer seine Anfrage auf der Basis eines – im Vergleich zu Ihnen – niedrigeren Werte-Meme vollzieht und dies in Ihnen nicht emotional resoniert?
  • Vielleicht liegt es daran, dass die Wortwahl des Anrufers Sie fühlen lässt, dass dieser eher  nutzenorientiert für die eigene Organisation argumentiert als sinnorientiert für die potenziellen Anwender des Produktes?
  • Vielleicht liegt es daran, dass der Anrufer in seinem Anruf vermissen lässt, auf den eigenen Sinnimpuls hinzuweisen, der ihn erreichte als er Kenntnis von der Existenz Ihres Produktes erlangte? …

Zahllose weitere Möglichkeiten könnten gefunden werden, warum der Anfrage des Anrufers keine entsprechende Handlungsbereitschaft folgt. Meine Thesen dazu sind:

  • Sinnimpulse werden oftmals deswegen nicht wahrgenommen, weil zwischen dem, worum es eigentlich geht, Menschen ‚zwischengeschaltet‘ sind, die sich dieses Eigentliche zum THEMA machen und dann mit ihren Werte-MEME in Kommunikation treten mit anderen Menschen [hier im Beispiel mit dem Angerufenen], in der hoffenden Erwartung, dass sich dieser Mensch das Thema zu seinem THEMA macht. Es scheint erforderlich zu sein, dass Anrufer und Angerufener das Thema aus demselben Werte-Meme anschauen, damit Handlungswunsch und Handlungsbereitschaft einander entsprechen. Besteht diese Meme-Passung nicht, dann kann der eigentliche Sinnimpuls nur nicht wahrgenommen werden, weil das SCHEMA des ‚zwischengeschalteten‘ Kommunikationspartners dem Angerufenen den Zugang zum Eigentlichen verunmöglicht.
  • Eine unzureichende Meme-Passung, die dazu führen kann, dass keine Begeisterung für das eigentliche Thema aufkeimt und es darum nicht zu einer Handlung kommt, ermöglicht der Psyche, die Oberhand über das Geschehen zu behalten. Im genannten Szenario wären dies beispielsweise Verärgerungen darüber, dass der Anrufer mit seinem Anliegen dem Angerufenen Zeit geraubt hat. Oder dass es dem Anrufer nicht möglich war, das, worum es im Eigentlichen geht, nicht nur sachlich, sondern auch nachfühlbar zu kommunizieren. Oder dass es dem Anrufer schlicht deshalb nicht möglich war, Begeisterung zu entzünden, da er sich das eigentliche Thema selbst nicht zum Thema gemacht hat, sondern vielleicht für ihn nur im Vordergrund stand, dem Thema ‚Leute anrufen und ihnen von dem Eigentlichen erzählen‘ zu folgen [wir kennen dieses Phänomen, dass ‚Anrufer‘ mit dem Eigentlichen nicht korrespondieren, zum Beispiel aus dem Direktvertrieb; ich persönlich auch aus Kommunikation mit Kirchenleuten].

Was also tun, um den Sinn des Eigentlichen zu finden, wenn es aufgrund unpassender Werte-Meme von Kommunikationspartnern nicht durchdringt? Im Kern gibt es für Situationen wie diese – wie ich finde – nur eine Antwort: Behalten Sie das ‚wofür wäre meine Handlung für das Eigentliche gut‘ im Auge. Alles andere lenkt ab und ermöglicht der Psyche, die Oberhand über das Geschehen zu gewinnen. Konkret im Fallbeispiel bedeutet das: Es ist irrelevant, ob der Anrufer Sie begeistert, Ihnen schmeichelt, Sie umwirbt usw.. Relevant ist, ob Ihre Handlung für das gemeinwohlorientierte Projekt gut ist. Bemerken Sie bei dieser Bewertung, dass Sie sich selbst mitthematisieren, dass Sie also überlegen, ob Ihre Handlung auch für Sie selbst gut ist, dann hat Ihre Psyche bereits ihren ‚Kaperungsversuch‘ unternommen. Sich dessen bewusst zu werden, wann, wie und warum die Psyche bestrebt ist, sich in Ihre Handlungen einzumischen, ist der zentrale Schritt auf dem Weg zur Differenzierung von sinnvollen und zweckdienlichen, womöglich sogar sinn- und/oder zwecklosen Handlungen.

Nun mag man fragen, ob das nicht ein wenig zu viel verlangt sei und an der Lebenswirklichkeit eines Menschen vorbeiginge, wenn die Erwartung wäre, dass dieser Differenzierungsprozess ständig ablaufen müsse.

Da der Mensch stets vor eine Wahl gestellt wird, erfährt er sich als ein im Grunde vom seinem Leben permanent Befragter. Jede Lebenssituation, jeder Tag und jede Stunde stellt ihn vor eine Wahl, verlangt eine Entscheidung von ihm. Der Mensch ist in den Augen Frankls ein vom Leben in Frage Gestellter, der auf die Anfragen des Lebens die passenden Antworten finden muss. Gleichzeitig aber strebt der Mensch als selbständig denkendes und handelndes Wesen danach, für sein Leben selbst einzutreten, es autonom und eigenverantwortlich zu führen. Daraus folgt, dass der Mensch eine persönliche Orientierungshilfe benötigt, die ihm sagt, wo und wann er welche Entscheidungen treffen soll. Diese Orientierung bietet der Sinn, er ist die wertvollste Möglichkeit in jeder Situation. Ohne ihn wird ein Mensch von sich selbst abhängig und damit von seinem Psychophysikum. Gefundener Sinn im Leben macht ebendieses leichter.

Das klingt in den Ohren vieler, denen das Herz schwer ist, die sich damit schwertun, Entscheidungen zu treffen oder die sich nur schwerlich dazu aufraffen können, sich mit ihren Alltäglichkeiten auseinanderzusetzen wie eine Offenbarung. Ja, wenn es doch nur einmal so leicht ginge. Genauer hingeschaut zeigt sich aber immer wieder: Was das Leben schwer macht, ist das Psychische, zuweilen auch der psychische Umgang mit etwas Körperlichem. Das ist seltsam, erzeugt es doch ein Bild einer Dimension, die es förmlich darauf abgesehen hat, einem Menschen die Freude am Sein recht gründlich zu vermiesen. Und in der Tat, wenn ich mich definiere als Wesen, das sich gegenüber den Unwettern der Erbsünde, des freudianischen Spagats zwischen Es und Über-Ich, des adlerianischen Minderwertigkeitsempfindens, des jungianischen Verdrängungsschattens, der projizierten Glaubenssätze, der im Lebensverlauf zahllosen Feedbacks usw. zu schützen hat, dann wird das Leben zu einem wahren Dauerlauf-Kraftakt. Wie viele Kalorien täglich braucht eine Psyche wohl, um diesen Dauerlauf zu schaffen?

Ken Wilber bietet uns in diesem Kontext diese Perspektive an: „Wir sehen nicht, dass der GEIST hier und jetzt voll und ganz gegenwärtig ist, weil unser Gewahrsein durch Vermeidungstendenzen getrübt ist. Wir wollen nicht entscheidungslos die Gegenwart bewahren; wir wollen vielmehr vor ihr davonlaufen, oder ihr nachlaufen, oder wir möchten sie ändern, sie hassen, sie lieben, sie verabscheuen oder irgend etwas unternehmen, um in sie hinein oder aus ihr hinaus zu gelangen. Wir tun alles Mögliche, nur nicht in der reinen Gegenwart des Gegenwärtigen verweilen.“ Und lesen wir dazu Frankl: „Die Aufgabe wechselt nicht nur von Mensch zu Mensch – entsprechend der Einzigartigkeit jeder Person –, sondern auch von Stunde zu Stunde, gemäß der Einmaligkeit jeder Situation“, so wird eine Gemeinsamkeit im Gedankengut deutlich: Jederzeit und jetzt hält das Leben jedem Menschen Sinn bereit. Diesen Sinn können wir nicht machen und wir müssen es auch nicht. Ken Wilber dazu: „Die Wörter selbst sind nicht die Dinge, auf die sie verweisen. (…) Unsere Wörter, und mit ihnen unsere Ideen, Begriffe und Theorien sind nur Karten der tatsächlichen Welt.“

Jeder Versuch, sich Sinn zu machen, stellt daher einen Akt der Psyche dar, dem Gefühl der Sinnleere entgegenzuwirken. Das klingt mühevoll, schwer und anstrengend. Anders die Grundüberzeugung Frankls, dass der Mensch ein Gespür dafür hat, wofür diese Stunde geschaffen ist, was jetzt gerade das Beste zu tun oder zu lassen ist. Diese intuitive Fähigkeit zur Sinnfindung in jeder Situation ist eine dem Menschen innewohnende Fähigkeit – es ist Gewissen. „Das Gewissen lässt sich definieren als die intuitive Fähigkeit, den einmaligen und einzigartigen Sinn, der in jeder Situation verborgen ist, aufzuspüren. Mit einem Wort, das Gewissen ist ein Sinn-Organ.“[Frankl]

Die grundlegende Haltung der Weltoffenheit und des Sich-Anfragen-Lassens mündet in einem Prozess, der zum Sinn führt. Im allgemeinen taucht ein Sinngefühl mehr oder weniger bewusst auf, wenn wir uns die Realität einer Situation anschauen. Dieses Sinngefühl empfinden wir als innere Bewegtheit, als Resonanz des eigenen Wertesystems mit dem, wozu das Leben den Menschen jetzt aufruft. Das Gefühl dieser Resonanz kann sich langsam entwickeln wie ein Bild, das aus dem Nebel auftaucht, oder es kann wie ein Blitz mit der ganzen klaren Gewissheit sofort da sein.

Wie auch immer, wenn der geistige Rucksack des Menschen so prall gefüllt ist, um Sinn zu finden und wenn die Fähigkeit zur Bewusstseinsentwicklung auch von Wilber [Stichwort: ‚Einschließen und Transzendieren‘] postuliert wird, dann muss interessieren, wie menschliches Dasein konstituiert ist, so dass Formen existentieller Frustration überhaupt möglich sind? Wenn es doch an sich kein Problem sein dürfte, warum gibt es dann immer mehr Menschen, denen ein tragender Sinn im Leben verloren gegangen ist, die unter Orientierungslosigkeit, Inhaltsleere ihres Lebens oder unter einer Sinnkrise leiden?

Häufig meinen Menschen, darauf mit einer Wenn-Dann-Logik antworten zu können: Weil Arbeitslosigkeit, weil der Tod eines nahestehenden Menschen, weil der Verlust einer Beziehung durch Trennung oder Scheidung, weil eine schwere körperliche oder seelische Krankheit, weil ein chronisches Leiden, weil …, deshalb existenzielle Frustration.

Erinnern wir noch einmal Wilber: Die Wörter selbst sind nicht die Dinge, auf die sie verweisen, sie sind nur Karten der tatsächlichen Welt. Die tatsächliche Welt ist also viel größer, und der Mensch hat weit mehr ‚zuhanden‘ [vgl. dazu auch Martin Heidegger „Zuhandenheit ist die ontologisch-kategoriale Bestimmung von Seiendem, wie es ‚an sich‘ ist“].

‚An sich‘ sieht sich der Mensch den Gegenständen in der Welt gegenüber, von denen ihn einige zuweilen psychisch frustrieren und ihn vermeintlich sinnblind werden lassen, wenngleich sich darüber hinaus geistig blickend stets neue Sinnmöglichkeiten auftun. Es scheint, als würde heutiges menschliches Dasein diesen geistigen Blick ins Leben erschweren und Menschen zunehmend glauben machen, der eigene Ausschnitt von Welt sei bereits die Welt. Und mir scheint zudem, dass Wilber wie Frankl gleichermaßen den Schlüssel zur Überwindung dieser ‚Weltausschnittsgrenzen‘ in der Trans-zendenzfähigkeit des Menschen sehen. Eine Fähigkeit, die in meiner Anschauung etwas Wesentliches sowohl bedingt als auch mitmeint: Die Offenheit zur Klärung und Weiterentwicklung des eigenen Wertesystems. Und die Offenheit zur ‚Vernachbarschaftlichung‘ alles Anderen mit dessen Werten. 

Ich will diesen Umgang mit sich selbst und der Welt als vierte Hauptstraße zum Sinn verstehen und dem diese Straße gehenden Menschen im übernächsten Beitrag auch eine spezifische Beschreibung geben.