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2024 – neu: 17. Erste Idee für eine Integral-sinnzentrierte Existenzlehre – nicht nur für Führungskräfte

Die Baby-Boomer gehen in Rente. Und damit auch die Führungs-Boomer. Wer – wie ich – in den 60er Jahren geboren wurde, der hat je nach Qualifikation, beruflicher Ausrichtung und Talenterkennung gegen Mitte der 1980er erste Führungsaufgaben übernommen. Wer dann in der Führungsrolle blieb, der durfte sich mit allerlei Führungskonzepten und Erwartungen an die Aufgabenerfüllung auseinandersetzen. Die heutige Generation dürfte sich für diese damaligen Entwicklungen kaum mehr interessieren, aus systemischer Perspektive jedoch darf man sagen, dass ohne diese Schritte von einst das heutige Rollenbild von Führungskräften kaum gezeichnet werden könnte. Die Entwicklung der Märkte, der Technologien und die verschiedenen Krisen in der Welt und in den Branchen haben immer neue Führungsverständnisse geprägt und sukzessive zu einer atomistischen Collage von Rollenmustern geführt, von denen die letzten Hypes wohl die ‚Führungskraft als Coach‘ [als wäre die Rolle der Führungskraft nicht bereits für sich genommen anspruchsvoll] und die Agile Führungskraft waren/sind. Was aber bis heute stets gleich blieb, ist die Frage, welche Art der Führung hier und heute passend ist, um die Existenz der Unternehmung zu sichern. Mühelos lässt sich diese Frage auch ummünzen in: Welche Art der Führung ist hier und heute passend, um die Existenz der Gesellschaft, der katholischen Kirche, unseres Schützenvereins, unserer Partnerschaft, unserer Familie, des eigenen Lebens zu sichern. Existenzsicherung hat also eine unmittelbare Zukunftsorientierung und die braucht Führung.

Führung beantwortet eine Frage: Wohin?
Wird diese Frage so beantwortet, dass sich Menschen in einer Unternehmung selbst motivieren können, die ‚vorgeführte‘ Richtung mit einzuschlagen, dann hat Führung ihren Zweck erfüllt.

Wer ein Wohin hat, der erträgt fast jedes Was.
Was ist hier und heute zu tun, um das Ziel zu erreichen? Was muss bereitgestellt werden, um Hindernisse zum Ziel aus dem Weg zu schaffen? Was muss ich bereit sein selbst einzubringen, damit die Richtung trotz vielleicht erforderlicher Umwege stimmt? Was kann passieren, um das Ziel zu verfehlen? …

Der Pferdefuß des Wohin zeigt sich dann, wenn ihm etwas Wesentliches nicht vorausgeht – ein Wofür? Wird die Frage nach dem Wofür so beantwortet, dass sich Menschen in einer Unternehmung inspirieren [be-geist-ern] können, einem Impuls zu folgen, der weit mehr ist als bloße Zielgerichtetheit, dann fühlen sie, dass sie ‚über-ihrer-selbst-willen‘ hinaus ihren persönlichen Beitrag einbringen können.

Wofür stehen wir ein und wofür wollen wir uns einsetzen? Wofür ist es gut, dies und nicht jenes zu tun? Wofür braucht die Welt uns? Wofür sollte sich eines Tages jemand an uns erinnern? …

Fehlt dieses Wofür, fehlt Entscheidendes: es fehlt Sinn. Und was machen Menschen, wenn er ihnen fehlt? Sie versuchen, ihn sich selbst zu machen – mit Zielen, mit einem ‚Wohin‘. Und genau das führt in die Irre, denn aus wahrgenommenem Sinn ergeben sich letztlich sinnvolle Ziele. Aber ein Ziel ist längst nicht hinreichend für ein Gefühl, etwas Sinnerfüllendes zu tun.

Um nun ein solches ‚Wofür‘ zu entdecken, braucht es eine etwas geübte Wahrnehmungsweise. Die Übung besteht darin, sich nicht zu fragen: Was nehme ich wahr? [zum Beispiel ein Problem, eine Marktnische, einen Mitarbeiter…]. Vielmehr gilt es, zu fragen: Wie nehme ich wahr, wie nehmen wir wahr, zu was mich/uns die Welt ‚über-meiner/unserer-selbst-willen‘ und zur Sicherung der Existenz der wahrgenommenen Welt aufruft? Mit welcher Bewusstheit schaue ich/schauen wir auf das, worum es geht und ist dies das einzige mögliche Schema, mit dem ich/wir auf das schaue/n, was der Fall ist?

Die Einübung einer solchen Wahrnehmungsweise mag vielleicht einfach erscheinen – sie ist es nicht. Sie bedarf – so gut und gewissenhaft es geht – zuerst der Auflösung blinder Flecke, der Defokussierung und des Abschaltens des Tunnelblicks. Psychologisch betrachtet verspricht diese Form der Wahrnehmung nach der anfänglichen Anstrengung des Einübens mehr Gelassenheit, mehr Weitblick, mehr Möglichkeit – soviel sei schon verraten, sollte sich der ein oder andere Leser gerade fragen, wozu er sich eine solche Entwicklungsreise antun soll.

Wofür also ist diese andere Wahrnehmungsweise gut? Sie ermöglicht einen größeren Raum der Sicherung der Existenz (des Unternehmens, des Vereins, der Familie, der Gesellschaft, der eigenen Person).

Wer sie als Führungskraft praktiziert, der braucht keine Etiketten für seine Rolle mehr. Dann haben visionäre Führung, spirituelle Führung, systemische Führung, transformationale Führung oder anderes xy-Führungs-Gedöns ausgedient. Die vielen Bücher über Führungslehre: Danke, dass ihr gewesen!

Nicht aber die Bücher über Existenz und geistiger Weltwahrnehmung, wie sie durch Viktor Frankl und Ken Wilber verfasst wurden und als Basisliteratur der Sinn- und Bewusstheitstheorien gelten. Bringt man beide Theorien zusammen, so entsteht ein integral-sinnzentriertes Gedankengut, das auch im Kontext der Führung zu spannenden Erkenntnissen und Handlungsweisen führt.

Ich fasse für neue Leserinnen und Leser einige Aspekte über Existenz und Bewusstheit kurz zusammen [viele weitere Details dazu finden sich bereits reichlich in früheren Beiträgen in diesem Blog]:

  • Frankl argumentiert, dass die Existenz des Einzelnen von entscheidender Bedeutung ist: Der Mensch ist entscheidendes Wesen. Und was er entscheidet ist, wer er im nächsten Moment sein will. Was er aber in jedem Falle ist: Das einzige Wesen ist, das stets nach Sinn in seinem Leben sucht.
  • Sinnsuche ist die grundlegende menschliche Motivation, selbst unter extremsten Bedingungen. Die Fähigkeit des Menschen zur freien Wahl und zur Suche nach Sinn in seiner Existenz können nicht ausgelöscht werden.
  • Sinn ist das ungewollt Gesollte, das nicht würde, ginge vom Einzelnen keine Handlung aus, es zu verwirklichen.
  • Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt die individuelle Macht – das Gewissen – zur Wahl der Reaktion, und jede derart gewählte Reaktion ist Ausdruck der  individuellen Entwicklung und Freiheit des Menschen.
  • Die Existenz eines Menschen ist nicht auf dessen physisches und psychisches Dasein beschränkt, sondern umfasst vielmehr eine dritte, geistige Dimension. Diese erst ermöglicht einen dynamischen Prozess der Sinnfindung und Sinnverwirklichung [was ‚geistig‘ in diesem Kontext meint, wurde in früheren Beiträgen in der KrisenPraxis bereits ausführlich beschrieben].
  • Der Prozess der Sinnfindung ist eine Arbeit an dem in der Gegenwart zu Entdeckende und für die Zukunft zu Erhoffende.
  • Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das Hoffnung in die Welt trägt. Er stellt sich dem Brüchigen mit Mitgefühl und Tatkraft. Das Phänomen Hoffnung scheint ein Existenzial in der Natur des Menschen zu sein.
  • Menschen verarmen seelisch und geistig nicht durch das, was sie nicht bekommen, sondern durch das, was sie auszusenden verabsäumen. Es gibt ein Wechselverhältnis zwischen Wohlwollen und Wohlergehen.
  • Gerade die Unvollkommenheit der Welt ist das stärkste Argument gegen den Nihilismus und gegen die Absage an die Suche nach Sinn. Unvollkommenheit und Heilbedürftigkeit sind zentrale Hinweise auf menschliches Gebrauchtsein.
  • Jede Tatsache ist unvollendet. Sie wartet auf einen menschlichen Beitrag. Es ist Unfug anzunehmen, dass man nur geben kann, was man zuvor empfangen hat. Jeder Mensch kann die Welt jederzeit um Gutes bereichern. Auch dann, wenn er selbst noch nicht hat, was er psychisch oder physisch braucht.

Unter Bewusstheit verstehen wir die psychische Disposition, die das unmittelbare Wahrnehmen dessen beschreibt, was einen Menschen in eigener Achtsamkeit im Hier und Jetzt bewegt und ihm aktuell gewahr wird, seien es Körperempfindungen, Sinneseindrücke, Gefühle, Fantasien, Denkmuster und Impulse. Bewusstheit ist somit Aufmerksamkeit auf Gegenwärtiges.

Jede Bewusstheit und damit auch jede Aufmerksamkeit auf Gegenwärtiges ist eine von vielen möglichen Ausprägungen von Bewusstheit. Sie ist stets ein Teil eines Bewusstheitsraums. Wir nennen diesen Teil eines Bewusstheitsraums auch ‚Schema‘, mit dem ein Mensch auf ein Thema schaut – auf das, was aus seiner Sicht die Lage ist.

  • Ein Teil eines Bewusstheitsraums können wir kurz ‚Holon‘ nennen (von griech. hólos und on „ganzes Seiendes“). Dieser Begriff bedeutet ein Ganzes, das Teil eines anderen Ganzen ist. So ist eine Zelle ein Teil eines Organs, das ein Teil eines Körpers ist. Ein Mensch ist Teil einer Familie, diese ein Teil einer Sippe, diese ein Teil eines Volkes. Ein Gedanke ist Teil einer Sequenz von Gedanken, diese ein Teil eines Gedankenaustauschs, dieser ein Teil eines Kollektivs an Gedanken ….
  • Ein Schema eines Menschen im Sinne einer gegenwärtigen Bewusstheit ist Teil all seiner bisher entwickelten Bewusstheiten. Diese wiederum sind Teil aller bislang möglichen Bewusstheiten und diese wiederum Teil aller Bewusstheiten die in ferner Zukunft als Schemata der Aufmerksamkeit auf Gegenwärtiges zur Verfügung stehen werden.
  • Jede Bewusstheit ist für sich betrachtet als ganzes Teil ganz bewusst und zudem ist es nur teilweise bewusst, weil das nächst höhere Ganze ‚ganzer‘ ist.
  • Ein holares System kann als Modell von Schichten verstanden werden, bei der jede einzelne Schicht nur sich selbst reflektieren kann, zudem es aber vermag, untergeordnete Schichten zu integrieren.
  • Jedes Holon ist stets bestrebt autonom zu bleiben. Das gelingt solange, bis das bestehende Schema unattraktiv wird. Bis dies jedoch geschieht, werden Differenzierungsprozesse vollzogen, die zwar Entwicklung anzeigen, jedoch das Schema im Kern bewahren. Erst wenn die Unterschiede zwischen Bestehendem und Unbekanntem als attraktive alternative Möglichkeit bewusst wird, kann sich das Holon auf die nächste höhere Ebene transzendieren.
  • Die höhere Ebene ist von größerer Komplexibilität und integriert ihrerseits nun alle vorangegangenen.
  • Alle Ebenen der Bewusstheit stehen als Potential einem Menschen zur Verfügung. Wenn dieses Potenzial nicht ausgeschöpft wird [im Sinne Frankls: wenn der Raum der Freiheit zwischen Reiz und Reaktion nicht genutzt wird, um eine sinnorientierteres Schema im Umgang mit einem Thema einzusetzen], so mag dies beeinflusst sein durch zum Beispiel:=> Gewohnheitshandeln
    => Lageorientierung und Phlegma
    => Angst vor den Folgen einer persönlichen Entwicklung
    => Ein Veränderungsresistenz unterstützendes Wertesystem
    => Ein fehlender Kommunikationsraum zu Menschen, die die Entwicklung bereits vollzogen haben
    => Unterentwickeltes Erfühlen von Attraktoren
    => Hoher Anteil an Fremdsteuerung durch Glaubenssätze oder durch das konkrete menschliche Umfeld ….

Bezogen auf die Führung führt uns eine integral-sinnzentrierte Perspektive zu diesem Gedanken: Da Menschen sich nur selbst dazu motivieren können, ihren bewussten Umgang mit Gegenwartsthemen neu zu gestalten, bleibt für Führungskräfte pragmatisch gesehen einzig die Aufgabe, den Möglichkeitsraum für selbstgesteuerte Bewusstheitsentwicklung den Mitarbeitenden offen zu halten. Dazu können erbauende Gespräche einen ersten guten Beitrag leisten. Für noch mehr Tiefgang kann sich aber auch anbieten, dass Führungskräfte aktiv denen, die die Führungskräfte- und Personalentwicklung in ihren Unternehmen steuern, den Auftrag geben, entsprechende Weiterbildungen, Foren, Vortragsimpulse usw. einzuplanen. Das ist inhaltlich kein Hexenwerk, fördert die Diskursfähigkeit in der Belegschaft und macht dem Einzelnen verständlicher, wie man Informationen verschiedenperspektivisch deuten, wie man Trampelpfade der Entscheidungsfindung verlassen, wie man sein bisher gelebtes Leben besser verstehen und das noch vor einem liegende werteorientierter gestalten kann.

Wenn meine Behauptungen zutreffen, dass es heute keinerlei Mangel an analogen und digitalen Angeboten gibt, die den Kontext Sinnfindung und Bewusstheitsentwicklung adressieren und dass es ferner ein Sinnbedürfnis gibt, das das Leben jedes Menschen flankiert [Studienbeiträge dazu u.a. aus 1963 2006 2016], dann stellt sich die Frage, worin die Gründe dafür liegen könnten, dass diesem Themenspektrum ein vergleichsweise geringes Interesse in Unternehmen beigemessen wird.

Meine Reflexionen dazu:

  • Qualifikationen in diesen Themenfeldern können als problematisch angesehen werden, weil sich durch umfassendere individuelle Bewusstwerdungsprozesse existenzielle Fragestellungen ergeben können, auf die Unternehmen ihrerseits dann keine Antworten zu geben in der Lage sind. Mancherorts mag es daher immer noch das Mindset geben, Menschen lieber ‚klein und dumm‘ zu halten, damit sie als Erfüllungsgehilfen für Unternehmenszwecke einfach ihrer Arbeit nachgehen. Hier besteht die Angst der Entscheider, die ‚Geister, die man förderte, nicht mehr los zu werden‘. Ich plädiere hier seit langem für eine ‚Souveränisierung‘ des Themas Bewusstheitsqualifizierung zur Stärkung der Unternehmenszukunftsentwicklung, treffe aber allzu oft noch auf eine einseitige Fokussierung auf Anpassungsqualifizierungsmaßnahmen und auf – fraglos auch wichtige – rein leistungszweckorientierte Formate.
  • Stapelkrisen mit ihren gravierenden Störungen des Motivations-Flows führen immer häufiger zum individuellen Gefühl bei Führungskräften und Mitarbeitenden, den Sinn [meaning] und den Zweck [purpose] der eigenen Arbeit nicht mehr so recht erkennen zu können [Studien dazu: 2010  2016 2020]. Spätestens jetzt wird der Unfug deutlich, der vor Jahren initiiert wurde, als man Führungskräften den Auftrag gab, als Sinnstifter für die Mitarbeiter ihres Bereichs zu fungieren [Beispiel dazu, mit dem Inbegriff des Unfugs: „Der Unternehmer Steve Jobs scheint bei Apple in der Tat ein Gott, ein richtiger Sinnstifter zu sein“]. Auch wenn ich mich wiederhole: Selbst Führungskräfte können Sinn nicht machen, stiften oder produzieren. Was sie können ist, Zwecke zu definieren. Es kann zweckdienlich sein, Kosten zu senken, ein Produkt zu entwickeln, einen Mitarbeiter einzustellen, sich von einem Lieferanten zu trennen, die Organisation zu verschlanken … Mit solchen Zwecken haben Führungskräfte bereits reichlich zu tun, wollen sie entlang der täglichen Unsicherheiten, Unberechenbarkeiten und disruptiven Veränderungen die Leistungsfähigkeit ihrer Teams und Mitarbeiter mit ihrem Führungsverhalten unterstützen. Die Aufgabe eines Menschen, Sinn im eigenen [Berufs-]Leben zu finden, hat jedoch nichts mit der Rolle einer Führungskraft zu tun – im Gegenteil: vor diese Aufgabe sind sie selbst ebenso gestellt wie jeder andere Mensch auch. Und ob ihre Führungsrolle für ihren eigenen Findeprozess dienlich ist, darf zumindest angezweifelt werden, schaut man auf die Zahlen an psychischen Erkrankungen, die diese Personengruppe betreffen – und die ich als Therapeut auch zu meinem Kreis der Klienten zähle.
  • Dem Zeitgeist entsprechend findet sich in der Führungsforschung heute ein starkes Interesse daran zu erfahren, wer sich eigentlich als Person hinter der Rolle befindet, die sich Führungskraft nennt. Statusgemäß finden sich solche Ausführungen in Biografien, die Topmanager und Firmengründer im Rückblick auf ihr Tun und Schaffen verfassen [z.B. Alfred Sloan 1964 – General Motors; Jack Welsh 2001 – General Electric; Götz Werner 2015 – dm …]. Blickt man aber auf das weite Feld der Führungskräfte in Deutschland, so sprechen wir über gut eine Million Frauen und Männer, denen direkt oder indirekt zugeschrieben wird, authentische Vorbilder [2021] für ihre Mitarbeiter sein zu sollen. Mit einer solchen Zuschreibung habe ich, in der Tat, ein Problem – und das nicht ohne Blick auf meine eigene Zeit in Führungsrollen. Schaut man auf Studien zum Thema ‚persönliche Erfahrungen und Eigenschaften von Führungskräften‘, so liest man davon, dass Führungskräfte, die Schlüsselaspekte ihrer inneren Erfahrungen in ihrem Führungsverhalten zum Ausdruck bringen, es schaffen, einen positiven Einfluss zu nehmen auf die Befriedigung des Bedürfnisses ihrer Mitarbeiter nach einem stabilen Selbstkonzept [Studien: 1991 1993 1998]. Ich will nicht verhehlen, dass die sozialkognitive Lerntheorie von Bandura mit ihrem Hinweis darauf, dass Menschen das ‚Lernen am Modell‘ für ihre eigene Entwicklung nutzen, ihren Stellenwert auch heute noch in der Psychologie verdient. Und ich will auch nicht in Frage stellen, dass es gut tun kann, wenn eine Führungskraft in der Lage ist, ein idealisiertes zukunftsorientiertes Bild ihres Verantwortungsbereiches zu zeichnen. Manchen Mitarbeitenden kann so geholfen werden, zu erkennen, dass die eigene Arbeit Teil eines ‚größeren Ganzen‘ ist [vgl. o.g. Hinweise zum ‚Holon‘]. Und schon gar nicht will ich bezweifeln, dass es ein noch besseres Gefühl eines stabilen Selbstkonzepts erzeugen hilft, wenn ein Mitarbeiter dieses positive Modell-Lernen aufgrund einer länger andauernden Zusammenarbeit mit einer Führungskraft immer wieder realisieren kann. Das, was ich zu bedenken geben will ist, dass es zuerst eines externen, objektiven Kontextes bedarf, wir können ihn Sinn-Impuls nennen oder – weniger aufgeladen – schlicht einen ‚Gegenstand‘, auf den sich ein arbeitender Mensch in Liebe und/oder Hingabe ausrichtet. Fehlt ein solcher Gegenstand, findet die Person keinen Sinn. Fehlt zum Beispiel einer im Pharmabereich arbeitenden Person der Impuls, einen Beitrag zur Gesunderhaltung der Gesellschaft [Gegenstand] mithilfe seiner aufgebauten Kompetenzen leisten zu sollen, dann schafft es auch keine Führungskraft mit dem Hinweis darauf, dass das Unternehmen Produkte entwickelt hat, die es wert wären, verkauft zu werden, damit einer bestimmten Krankheit entgegengewirkt werden kann. Was in einem solchen Beispiel von einer Führungskraft geleistet werden kann ist nicht mehr und nicht weniger, den Weg nicht zu versperren, damit Mitarbeitende ihre Möglichkeit selbstmotiviert ausschöpfen können, den in der Welt ohne jedes menschliche Zutun gegebenen Sinn zu entdecken und bei dieser Entdeckung zu erfühlen, wie eigene Werte dazu beitragen, dass das Gesollte zum persönlich Gewollten wird.
  • Immer ist es ein ‚Gegenstand‘, der prägt und legitimiert, was vom Einzelnen selbst als sinnvoll angesehen wird. Alle Sinn-Wahrnehmung geht daher notwendigerweise vom ‚Selbst‘ der Person aus, von seinem Selbstwert, seinem Selbstvertrauen, seiner Selbstsicherheit usw. Was von einer Person als Gegenstand mit Sinngehalt wahrgenommen, dann gedeutet und kognitiv verarbeitet wird, kann eine andere Person mit sich selbst eingedenk eines anderen Wertesystems womöglich als völlig unvereinbar ansehen. Wenn es also so etwas wie einen Sinnstifter geben soll, dann findet er sich nie in der Person einer Führungskraft, sondern stets in der Welt in Form eines objektiven Kontextes, der auch nie verschwinden würde selbst dann nicht, gäbe es keinerlei Menschen in der Rolle einer Führungskraft. Andersherum kann es für einen Mitarbeiter anregend sein zu hören oder es mittels konkreter Handlungen zu erleben, wofür sich eine Führungskraft aufgrund welchen Wertekanons für den von ihr wahrgenommenen Sinn einsetzt. Jedes Gespräch darüber kann ich nur begrüßen, würde es in Unternehmen – und nicht nur dort – geführt, dennoch lohnt es sich zu bescheiden, würde man diese Gespräche mit der Absicht anbieten wollen, den oder die anderen auf irgendeinen Pfad fremdmotivierter Tugend zu führen.

Statt einer zum Scheitern verurteilten Selbstüberforderung, einem sinnstiftenden Rollenverständnis nachzueifern, mag Führungskräften eine integralere Sicht auf die Prozesse der Sinnwahrnehmung helfen. Wenn die Leserinnen und Leser der KrisenPraxis im Archiv zurückschauen auf die Beiträge, in denen ich die Werte-Meme-Ebenen [Stichworte: Ken Wilber, Clare Graves, Spiral Dynamics] vorgestellt habe, dann will ich diesen nun an dieser Stelle einige Thesen folgen lassen:

  • Wenn ein Mensch einer beruflichen Tätigkeit nachgeht, dann wird er bestrebt sein, das/die bei ihm am stärksten entwickelte/n Werte-Meme-Ebene zu aktivieren. Ein Sinn-Impuls, in dessen Kern beispielsweise das Thema ‚tue etwas für die Verbesserung bislang als willkürlich empfundene, intransparente Zahlungsaufforderungen von Energieversorgern‘ steckt, wird eher von einer Person aufgegriffen werden, die sich in ihrem Verhaltens- und Handlungsschema an einem stark entwickelten Rot-Blau-Meme-Wertesystem orientiert. Erfährt eine solche Person aus ihrem Umfeld für ihre Widerstands-Initiative Anerkennung, dann können wir dies ‚Wertschätzung‘ nennen. Das Meme-Set wurde durch das Thema angeregt und mittels Verhaltensschema verwirklicht. Anders ausgedrückt: Der Sinnimpuls erreichte eine Person, die aktiv die Bedeutung ihres Verhaltens komponierte, indem sie hinsichtlich dessen, was sie als Thema bemerkte, konkret handelte und durch die empfangene Wertschätzung eine Stärkung ihrer Selbsterkenntnis und eine Rechtfertigung für künftiges Handeln bei ähnlich gelagerten Themen erfährt.
  • Nehmen wir dieses Beispiel und vergrößern wir den Rahmen auf die Millionen Themen, die täglich verfügbar sind, um sich individuell für die Existenz von Allem in irgendeiner Weise einzubringen, dann wird klar, dass jedes dieser Themen ein spezifisches Werte-Meme adressiert. Für jedes Meme – davon dürfen wir ausgehen – findet sich ein Set an Themen mit Sinngehalt, keine Werte-Meme-Ebene kann daher eine stärkere Sinnorientierung für sich behaupten als eine andere. Vielmehr könnte man sagen: Es braucht stets die Person/en mit passendem Werte-Meme zur passenden Zeit am passenden Ort, damit ein in der Welt vorhandenes Thema zu seiner Verwirklichung geführt wird.

‚Ich fühle mich aufgerufen und angesprochen‘ – ‚ich habe verstanden, worum es geht‘ – ‚ich habe überlegt, ob ich es kann‘ – ‚ich habe gefühlt, ob ich es will‘ – ‚ich kann mitteilen, warum ich es tue‘. In dieser Reihenfolge lässt sich der Prozess beschreiben von der Sinnwahrnehmung, über die kognitive Deutung des Wahrgenommenen, hin zu einer kognitiven Wertung der bewussten Ressourcen, einer emotionalen Einbettung dieser Wertung in die eigene Biografie und letztlich hin zu einer selbstmotivierten Handlung.

Denkt man diesen Prozess weiter, so kann man nachvollziehen, dass es alles andere als voraussetzungslos ist, soll ein objektiver Sinn zu einer subjektiven Handlung werden. Und wird er zu einer Handlung, dann ist diese ihrerseits von der individuell-biografischen Werteentwicklung abhängig. Diese Werteentwicklung wiederum ist der Prozess, der dazu beiträgt, dass eine Person im Hier und Jetzt ein Schema aktiviert, mit dem sie mit einem auf sie zukommenden Thema umgeht. Ergo können wir konstatieren, dass ein objektiver Sinn je nach Werte-Meme einer Person, die diesen Sinn wahrnimmt, in unterschiedlicher Weise in eine subjektiv selbstmotivierte Handlung transformiert wird. Und hieraus folgt wiederum, dass ein Sinn objektiv bleibt, selbst dann, wenn die Transformation in eine subjektive Handlung in eigener oder fremder Anschauung misslingt.

  • Eine Führungskraft, die sich in der Bestimmung sieht, Menschen zu führen und die einen solchen Sinnimpuls in ihrem beruflichen Umfeld empfängt, kann dies also völlig anders in Führungshandeln transformieren als eine andere Person, die sich entlang ihrer Werte ebenfalls aufgerufen fühlt, eine solche Rolle einzunehmen [eine Person mit ausgeprägtem rot-blauen Werte-Meme-System geht mit dem Thema ‚Führung‘ anders um als jemand mit zum Beispiel einem stark grün-gelben System]. Inwieweit das jeweilige Führungshandeln als gedeihend bewertet werden kann, wird abhängen von der Passung der Werte dieser Führungskraft und denen der Mitarbeitenden. Meine Empfehlung an Führungskräfte lautet daher stets, im Kontakt mit Mitarbeitenden immer wieder darüber zu sprechen, wofür man sich aufgerufen fühlt und worum es einem deshalb in der Führungsrolle geht.
  • Hat man Sinnwahrnehmung und Werteverständnis mit Mitarbeitenden zu einem hinreichenden Einklang führen können, so stehen Zielvereinbarungen und Zielerfüllungsgrade auf dieser Basis unter deutlich besseren Vorzeichen als wenn Führungskräfte sich lediglich über ihre Selbstmotivation an ihre Mitarbeitenden wenden. In diesem Fall drücken sie sich in ihrer täglichen Kommunikation durch den Einsatz bewusster Rhetorik aus, in der Hoffnung, dass die Mitarbeitenden dadurch erkennen mögen, was der Führungskraft für eine erfolgreiche Zusammenarbeit von Bedeutung ist [1993]. In der Selbstkonzeptforschung geistert in diesem Kontext seit langem die Vorstellung herum, dass Führungskräfte mittels Einsatz von Visions-Kommunikation ihr individuelles Selbst mit denen ihrer Mitarbeitenden verbinden und diese Verbindung für die Mitarbeiter quasi zum Inbegriff der Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit wird [zahlreiche Verweise dazu – insbesondere aus dem US-amerikanischen Wissenschaftsbereich – finden sich hier aus dem Jahr 2022]. Es mag wohl Protagonisten in der Gestalt der Chefs von Tesla, Amazon, Apple oder Facebook geben, die derart euphorisierend auf Teile ihrer Belegschaft wirken, so dass ihr bloßes Erscheinen bereits eine Art Trance induziert und Menschen glauben lässt, hier seien die leibgewordenen Sinnstifter unterwegs. Es mag zudem Menschen geben, die sich in ihrem Berufsleben dem dysfunktionalen Anteil des ziel- und leistungsorientierten Orange-Meme [siehe dazu die zahlreichen Erklärungen in früheren Beiträgen hier in der KrisenPraxis] freiwillig verschreiben [diesen Anteil können wir mit den Stichworten Selbstoptimierungswahn, Unterordnung unter die Suggestionen von Influencern oder auch turbokapitalistische Lebensführung umreißen]. Am Ende der psychophysischen Möglichkeiten angekommen, finden sich diese Menschen dann häufig wieder im Erleben einer Erschöpfungsdepression, in Verlust- oder Versagensängsten, in einem mächtigen Gefühl der Sinnleere.
  • Einen in der Welt jederzeit für jeden Menschen gegebenen objektiven Sinn als Ausgangspunkt der Ausformung eines gelingenden individuellen [Berufs-]Lebens heranzuziehen, steht in meiner Anschauung stets über dem, was die Theorie der Selbstkonzepte nahelegt: Dass sich Führungskräfte im Speziellen als auch Menschen im Allgemeinen lediglich im Einklang mit ihren inneren Überzeugungen, Werten und Identitäten verhalten, um ihre intrinsischen Bedürfnisse nach Selbstdarstellung und Selbstkonsistenz zu erfüllen. Dies zu tun, vermag zwar für die meisten Menschen bereits verlockend genug zu sein und es ist leicht nachzuempfinden, dass allzu viele Menschen danach streben, betrachtet man die bloße Menge derer, die unter schwierigsten Bedingungen tagtäglich versuchen müssen, einfach über die Runden zu kommen. Trotzdem folge ich mit meinen Überlegungen Viktor Frankl, wenn er klarlegt, dass jeder Mensch jederzeit unter dem Einfluss von Bedingungen steht, dabei jedoch stets frei ist, sich so oder so zu diesen Bedingungen zu stellen.
    Sich nicht abzugeben in die Selbstkonzepte anderer, damit das eigene [Berufs-]Leben zu leben und nicht das Leben anderer, sich der eigenen Werte-Meme bewusst zu werden, eine Wahrnehmung zu erlernen, mit der Sinnimpulse die Chance erhalten in den Vordergrund zu rücken und Selbstimpulse den Stellenwert in der zweiten Reihe erhalten, der ihnen gebührt – dies sind die wesentlichen Aspekte einer integral-sinnzentrierten Existenzlehre. Ein Führungshandeln, das auf einer solchen Lehre aufbaut, darf sich nicht auffressen lassen von den Bedingungen, unter denen Führungskräfte nun einmal qua Rolle täglich stehen und die anstrengend genug sind, so dass den Menschen Respekt gebührt, die bereit sind, diese Rolle einzunehmen. Im Gegenteil: Ein Führungshandeln, das erkennen lässt, dass die Führungskraft begonnen hat, einen Perspektivenwechsel hin zum Sinn zu vollziehen, zeigt sich in einer Klarheit und Klugheit in der eigenen Lebensführung, die der nicht mehr missen mag, der diese Schritte gegangen ist.

Zum Schluss eine Anmerkung zur einer Studie, in der ein Hohelied auf die ‚Visionäre Führung‘ gesungen wird und in deren Resümee auf ein ‚faszinierendes empirisches Ergebnis‘ hingewiesen wird. Das Ergebnis fokussiert ältere Forschungen, die postulierten, dass die Wirkung visionärer Führung auf das Empfinden von Sinnhaftigkeit der eigenen Arbeit bei Mitarbeitenden mit der Zeit abnehmen. Nun wurde diese Hypothese konkretisiert: „Basierend auf der Vorstellung, dass das arbeitsbezogene Selbstkonzept dynamisch ist und sich zumindest teilweise durch die Beziehung zwischen Führungskraft und Mitarbeiter entwickelt, bieten wir einen spezifischen theoretischen Blickwinkel für diese zeitlichen Effekte. Unsere Ergebnisse zeigen, dass ein „Ablaufdatum“ des Führungseinflusses für die visionäre Beziehung zwischen Führungskraft und Mitarbeiter nach etwa sechs Jahren dyadischer Zusammenarbeit zwischen Führungskraft und Mitarbeiter zu erwarten ist.“  [Original: Based on the notion that the work-related self-concept is dynamic and, at least in part, evolves through the leader–follower relationship, we provide a specific theoretical angle for these temporal effects. Our results show that an “expiration date” of leadership influence for the visionary leadership–follower meaningfulness relationship may be expected after about 6 years of leader–follower dyadic tenure.]

Okay: Bei – angenommen – 40 Berufsjahren braucht es bei sechs Jahren Wirkkraft visionärer Führung also gut sieben Führungskräfte, die einem Mitarbeiter nach und nach ein beständiges Empfinden von Sinn in der Arbeit vermitteln. Da sag ich doch mal: ‚Heureka‘!