Kategorie-Archiv: Viktor E. Frankl

2023: neu 14. Die vierte Hauptstraße zum Sinn

Wie hatte Frankl noch einmal die Sinnquellen beschrieben, die jedem Menschen zur Verwirklichung von Werten bereit stehen? Eine erste Quelle, in der Menschen Sinn finden können, ist die der Aufgaben, die nicht erledigt und gelöst würden, wäre der Mensch nicht ein homo faber, der arbeitende Mensch, der unternimmt und schöpferisch tätig wird.

Als zweite Quelle steht das Erleben bereit. Der homo amans – der liebende Mensch – empfängt und genießt mit Freude in Welt der Natur, der Kultur, des Miteinanders. ‚Erst die Arbeit, dann das Vergnügen‘, mit dieser Formel wurden in meiner Kindheit diese beiden für Frankl gleichwertigen Quellen in eine Hierarchie gebracht. Heute macht sich in meiner Anschauung ein sonderbares Streben nach Balance zwischen Aufgabenerfüllung und Selbsterfüllung auf angestrengte Weise breit. Zuweilen scheint es mir, als wäre eine gelungene Umkehrung der alten Formel eine Art Verhandlungserfolg des Einzelnen über seine Welt. Aber das ist meine Wahrnehmung und sie steht hier nicht weiter in Rede. Eher soll auf die dritte Quelle hingewiesen werden, die Frankl für diejenigen Situationen im Leben benennt, in denen der Zugang zu den beiden anderen erschwert oder sogar verunmöglicht wird. In diesen Situationen ist der homo patiens gefragt, der Mensch, der angesichts eines Leids, einer zu verantwortenden Schuld oder im Wissen um den nahenden Tod, zu einer existenziellen Stellungnahme aufgefordert ist.

Auf diesen drei Hauptstraßen zum Sinn kann sich nach Frankl der Mensch bewegen und in dieser Bewegung verwirklicht der Mensch bestehende individuelle Werte, seien es schöpferische Werte [wie zum Beispiel Leistung, Arbeit, Aufbau, Beitrag, Neuerung, Tatkraft …], Erlebniswerte [wie zum Beispiel Anmut, Zünftigkeit, Geschicklichkeit, Schönheit, Flair …] oder Einstellungswerte [wie zum Beispiel Tapferkeit, Faulheit, Versöhnlichkeit, Askese, Resolutheit ..].

Und wie das Leben so spielt, beginnt jeder Tag mit einer neuen Reise über diese Straßen. So kann ein Mensch:

– beim Zähneputzen [Handlung, aufbauend auf schöpferischen Werten]
– ein paar Lieder im Radio hören [Handlung, aufbauend auf Erlebniswerten],
– sich dann wettertaugliche Kleidung anziehen [Handlung, aufbauend auf schöpferische Werte],
– über den Lieblingsweg mitten im Grünen zur Arbeit radeln [Handlung, aufbauend auf Erlebniswerten und schöpferischen Werten],
– dann dabei unterbrochen werden, weil man eine Unfallstelle sichert und, weil man das tut, den ersten Termin im Büro verpassen wird [Handlung, aufbauend auf Einstellungswerten und schöpferische Werten],
– dann verspätet ankommen und die Überraschung annehmen, von Kollegen mit einem Geburtstagskuchen begrüßt werden [Handlung, aufbauend auf Erlebniswerten] usw. usw.

Andererseits kann die Person auch reflektieren, entlang welcher Werte-Meme sie ihren Tag gestaltet hat:
– Beim Zähneputzen ein paar Lieder im Radio zu hören [kann ein Hinweis auf blaues Meme sein: Strukturierter Tagesbeginn],
– sich dann wettertaugliche Kleidung anzuziehen [kann ein Hinweis auf orange sein, adäquate Leistungserbringung für die Bewältigung möglicher Wetterprobleme],
– über den Lieblingsweg mitten im Grünen zur Arbeit zu radeln [kann ein erneuter Hinweis auf blau sein, Nutzung eines Routineprozesses, vielleicht auch mit grünem Anteil aufgrund der Geringhaltung von umweltbeeinträchtigende Handlungen],
– dann dabei unterbrochen zu werden, weil man eine Unfallstelle sichert und weil man das tut, den ersten Termin im Büro verpassen wird [kann ein Hinweis auf blau sein, eine Entscheidung aufgrund intrinsischer moralischer Verpflichtung, vielleicht auch mit rotem Anteil aufgrund der Selbstbemächtigung, diese Entscheidung willensstark auch gegen mögliche Konflikte zu treffen],
– dann verspätet anzukommen und von Kollegen mit einem Geburtstagskuchen begrüßt zu werden [vielleicht ein Hinweis auf türkis, wenn der Moment angenommen wird so wie er ist] usw. usw.

Das, was das Leben einem Menschen aufträgt, „wechselt nicht nur von Mensch zu Mensch – entsprechend der Einzigartigkeit jeder Person – sondern auch von Stunde zu Stunde, gemäß der Einmaligkeit jeder Situation“ sagt Viktor Frankl und – wir können ergänzen – hält jederzeit für einen Menschen einen Sinn bereit, den er mit seinem Sinn-Organ [dem Gewissen], und entlang seiner entwickelten Werte-Meme finden und verwirklichen kann.

Diese Ergänzung erscheint mir aus einem persönlichen Ärgernis heraus wichtig zu sein. In zahlreichen Büchern und Online-Vorstellungen der Integralen Theorie von Wilber mit ihren Verweisen auf die Werte-Meme nach Clare W. Graves, wird oftmals das türkise Meme als dasjenige ausgezeichnet,
– in dem sich ein Mensch mit dem Thema Sinn auseinandersetzt
– in dem Menschenführung oder Organisationsentwicklung sinnorientiert vollzogen wird
– in dem der Sinn quasi zu Hause ist.
Diese Zuschreibung halte ich für Unfug, suggeriert sie doch eine Art Exklusivrecht auf Sinn oder eine Exklusivhaltung mit Sinn, wenn ein Mensch die Entwicklung auf diese türkise Ebene vollzogen hat. Nein, Sinn kann der Person nicht zugeschrieben werden, denn Sinn ist in der Welt und wird von einer Person mit einer aktuell beigen Bewusstheit aufgrund eines Themas, das dieser Bewusstheit bedarf, anders kontexualisiert als von einer Person mit einer purpurnen, roten oder anderen. Steht zum Beispiel eine Person – wie jüngst bei den extremen Unwettern in Südosteuropa – in der grauenhaften Lage, sich der Wassermassen nicht mehr erwehren zu können und steht sie förmlich vor dem materiellen Aus, so bleibt der Sinn in Form eines fundamentalen Sinns des Lebens erhalten und wird als THEMA mit dem Überlebens-Meme Beige entsprechend adressiert. Hat eine andere Person ihren Wohnsitz an einem Ort, wo sich die Wassermassen nicht derart brachial ihren Weg gebahnt haben, dann mag es sein, dass diese Person vielleicht mit ihrem blauen Ordnungsmeme zuerst die eingetretenen persönlichen Schäden dokumentiert, um die eigene Familie vor finanziell negativen Auswirkungen zu schützen, um sich nach getaner Befassung mit diesem Thema dann einem neuen zu stellen, vielleicht dem Thema ‚Unterstützung des technischen Hilfswerks beim Wegräumen des Schutts in schwererer betroffenen Gebieten“. Hier könnte die Person den Sinn also in einem Impuls entdecken, der sie aufruft, die Werte des grünen Meme mit seinem Aspekt der sozialen Verantwortung zur Verwirklichung zu bringen.

Wenn ich also sehr dazu rate, damit aufzuhören, eine Sinnzuschreibung einzig dem türkis Meme vorzubehalten, so stelle ich dafür einen anderen Begriff in den Raum, der mir für dieses Meme zur besseren Differenzierung aller bisherigen geeigneter zu sein scheint – den Begriff der Wertfreiheit. In Türkis ist Alles mit Allem verbunden, das Universum eine Einheit fein balancierter ineinander greifender Kräfte. Diese Kräfte wirken, ohne dass ihrer Wirkkraft eine Wertung zugrunde liegt noch einer solchen bedarf.

Wertfreiheit stellt in meiner Anschauung eine Art Implosion der Weltausschnittsgrenzen dar. Ein Mensch hat seine Transzendenzfähigkeit derart ausgebildet, so dass er über die Offenheit zur Klärung und Weiterentwicklung des eigenen Wertesystems – die ich dem gelben Meme zuschreibe – zur Offenheit zur ‚Vernachbarschaftlichung‘ alles Anderen mit dessen Werten gelangt. Mit dieser Offenheit zur Wertfreiheit, eines Zusammenfallens aller eigener Werte mit allen anderen Werten und über dies hinaus mit allen weiteren Werten, geht der Mensch auf der vierten Hauptstraße zum Sinn, der Straße der Vollendung. Wer auf dieser Straße geht, den will ich homo complens, den vollendenden Menschen, nennen.

2023: neu 12. Gedanken zur Idee einer Integralen Sinntheorie als Erweiterung des Gedankenguts von Viktor Frankl

Viktor Frankl ging es stets darum, Freuds Psychoanalyse und Adlers Individualpsychologie zu ergänzen, indem er den diesen Richtungen immanenten Psychologismus und Reduktionismus transzendierte in ein Menschenbild, das den Menschen als Wesen auszeichnet, das weltoffen nach Sinn in seinem Leben strebt. Dies vor Augen, drängen sich mir Fragen auf, für die ich in den kommenden Monaten nach Antwortmöglichkeiten suchen werde:

  • Lässt sich neben den von Frankl beschriebenen drei Hauptstraßen zum Sinn womöglich heute eine vierte finden? Vielleicht zeigt sich heute, gut 100 Jahre nach Begründung der dritten Wiener Schule für Psychotherapie durch Frankl eine Straße, die sich dank vergrößerter individueller Möglichkeiten zur Weltoffenheit erst dann zeigt, wenn ein Mensch eine integralere Gegenwarts-Bewusstheit entwickelt hat [im Graves Modell die Meme ab Gelb]?
  • Angenommen, eine solche Straße ließe sich sprachlich fassen, wie würde ein Mensch es dann womöglich ausdrücken, wenn er sagt, dass er mit sich und der Welt im Einklang steht, wenn er sich auf dieser Straße auf die Reise hin zum Sinn macht?
  • Auch würde mich interessieren, ob es in einer früheren Epoche der Menschheitsentwicklung bereits Anzeichen für eine solche Gegenwarts-Bewusstheit und ein entsprechendes integraleres Werte-Meme gegeben hat? Anzeichen, die aber nicht stark genug waren, um sich in einer breiteren Gesellschaft als Ausgangspunkt ihrer weiteren Entwicklung anzubieten.
  • Und gegenwartspraktisch: Womit könnte ein integral arbeitender Logotherapeut seine Klienten im Rahmen einer Integralen Logotherapie über den Rahmen der ‚klassischen‘ Logotherapie hinaus unterstützen? Und überhaupt: woran kann ein Logotherapeut wahrnehmen, dass er eine integrale Bewusstheit für die Ausübung seiner Rolle entwickelt hat?

Drei Hauptstraßen zum Sinn?

In der Sinnlehre von Viktor Frankl wird betont, dass der Mensch sich nur in dem Maße zu verwirklichen vermag, indem er einen Sinn draußen in der Welt, nicht aber in sich selbst erfüllt. Diesen Prozess nennt Frankl die Selbsttranszendenz der menschlichen Existenz. Eine Selbstverwirklichung hingegen, die auf etwas hingeordnet ist, das nicht über den Menschen selbst hinausgeht, sondern letztlich nur wieder auf ihn selbst verweist, ist nach Frankl ’sinn-los‘.

Wirklich Mensch ist der Mensch nur dort, wo er in der Hingabe an eine Aufgabe aufgeht oder in der Liebe zu einem Gott*, zu einer Sache oder zu einer anderen Person sich selbst übersieht und vergisst. Diese menschliche Fähigkeit zur Selbstvergessenheit, sich zurückzustellen und sich nicht alles von sich selbst gefallen zu lassen, ist gleichermaßen Ausdruck seiner Fähigkeit zur Selbsttranszendenz. Und selbst in den tragischen Situationen menschlicher Existenz, bei Leid, Schuld oder Tod, kann er diese Fähigkeit einsetzen durch eine Modulation seiner Einstellung, die einer womöglich psychischen Hilf- und Hoffnungslosigkeit entgegenwirkt. [* In Frankls sinnzentrierter Psychotherapie wird Religion neutral als Gegenstand, nicht aber als Standort angesehen. Aus dieser Perspektive wird Gott zu einem Sprachpartner, wobei der Mensch nicht immer versteht, mit wem er sich tatsächlich unterhält. Der Mensch bezieht sich auf das Absolute, das eigentlich unbeziehbar ist und erlebt ein Geborgenheitsgefühl, das ihm insbesondere in Grenzsituationen hilft und das dadurch therapeutische Relevanz besitzt. vgl. Frankl V.E: [1972]: Der Wille zum Sinn, Hans Huber Verlag Bern, 73-74]

Hat nun der Mensch Sinn in seinem Leben entdeckt und steht ihm seine Psyche nicht im Weg, eben diesen Sinn auch zu verwirklichen, so macht sich der Mensch auf den Weg über eine der Hauptstraßen hin zum Sinn.

Auf der ersten Hauptstraße hin zum Sinn geht der schöpferische Mensch. Er hat in der Welt eine Aufgabe entdeckt, die nicht gelöst würde, wenn nicht von ihm. Dafür setzt er seine Kraft, seine Fantasie, seine Fähigkeiten, Talente und Ideen ein. Er wird schöpferisch tätig und verwirklicht schöpferische Werte.

Auf der zweiten Hauptstraße hin zum Sinn geht der erlebende Mensch. Er hat in der Welt einen Schatz entdeckt, den zu erleben, ihn mit Freude erfüllt. Schätze finden sich in der Kultur, in der Natur, in der Anschauung anderer Menschen, in der liebenden Berührung, im Gebet, letztlich in der bewussten Wahrnehmung einer den Menschen kräftigenden Quelle. Der Mensch erlebt und verwirklicht Erlebniswerte.

Auf der dritten Hauptstraße hin zum Sinn geht der leidende Mensch. Er hat in der Welt einen auf ihn weisenden Gegenstand entdeckt, den er zwar nie entdecken wollte, dem er sich aber unabänderlich zu stellen hat. Diese Gegenstände finden sich im Leid, im Gewahrwerden eigener Schuld oder im Angesicht des Todes. Der von diesen Gegenständen ausgehende Sinnimpuls führt den Menschen zu einer Stellungnahme. Sie ermöglicht ihm, nicht zu  verzweifeln, sondern seiner Geistbegabung folgend trotzdem ‚Ja‘ zum Leben zu sagen. Der Mensch bezieht Stellung, er bleibt in der Autorschaft seines Lebens und verwirklicht Einstellungswerte.  

Lassen Sie uns kurz zurückschauen: Seinen ersten Vortrag über die Sinnfrage hielt Frankl bereits mit 16 Jahren. Und bereits 1929 fand der 24jährige Frankl dann das Grundgerüst seiner ,Sinnlehre‘ mit den drei Wertekategorien, die für ihn die grundsätzlichen Möglichkeiten des Menschen darstellen, Sinn im Leben zu finden: durch eigenes Erschaffen, durch eigenes Erleben und – in Krisen – durch eigene Neueinstellung zum Leiden.

Nach dem Sinn im Leben zu fragen, stellt das eigentliche Humanum dar. Für Frankl ist der Mensch ständig auf der Suche nach Sinn, er hat einen unbedingten Willen zum Sinn. Findet der Mensch einen Sinn, dann – und nur dann – ist er glücklich. Und damit die Sinnfindung gelingt, kann der Mensch auf eine Fähigkeit zurückgreifen, zu der nur er in der Lage ist: Zur Fähigkeit der Selbsttranszendenz. Der Mensch ist mit dieser Fähigkeit mehr als nur ein reagierendes oder ein abreagierendes Wesen. Er ist auch ein sich selbst vergessen könnendes, sich selbst transzendierendes Wesen. Damit meint Frankl, dass menschliches Dasein immer über sich hinausweist, auf etwas, das nicht er selbst ist, sondern auf etwas oder jemanden, den er liebt. Oder auf eine Aufgabe, die er sich nicht selbst gemacht hat, der er sich aber hingibt. Und auch in einer Situation eines unabänderlichen Schicksals geht es für Frankl nicht darum zu fragen, was man vom Leben (noch) zu erwarten hätte. Diese Haltung führt seiner Meinung nach am Sinn des Lebens vorbei. Es geht vielmehr darum, sich umgekehrt vom Leben befragen zu lassen und darauf zu achten, was das Leben von einem selber verlangt. Es gilt, die Frage der Stunde, des Augenblicks, der Situation zu verstehen und darauf eine ganz persönliche Antwort zu geben, denn, so Frankl, „wir sind es, die zu antworten haben auf die Fragen, die uns das Leben stellt.“

Im Kontext der Wilber’schen Theorie können wir die Analogie bilden, dass ein Mensch, der von seinem Leben aufgefordert wird, ein Gespräch zu führen, eine Aufgabe zu erledigen, ein Problem zu lösen, einen Konflikt zu mindern, eine Krise zu meistern usw. dies entlang seiner Gegenwarts-Bewusstheit, also mit einer seiner entwickelten Werte-Ebenen [Meme-Ebene] tun wird. Anders als in den drei von Frankl genannten Wertekategorien stehen nun für jede Werte-Ebene ein Set an Werten zur Verfügung, die ein Mensch in seinem Wertesystem verankert haben kann [welche Werte in meiner Anschauung den Ebenen zugeordnet werden könnten, werde ich in einem der Folgebeiträge besprechen].

Führt nun eine Situation dazu, dass eine gegebene Gegenwartsbewusstheit für deren Bewältigung nicht passend ist, steht der Mensch [bei Wilber ist das der Prozess des Transzendierens] nun vor dem Aufruf, einen Entwicklungsprozess hin zu einer neuen, höheren Werte-Ebene einzuleiten, der bestenfalls dazu führt, dass damit die Situation gestaltet werden kann.

Im Konzept Frankls steht vor dieser Entwicklung jedoch noch die Beantwortung einer anderen Frage im Vordergrund: Vermittelt der spezifische Aufruf des Lebens dem Menschen Sinn oder ist die Gestaltung der Situation lediglich zweckdienlich?

Dazu ein einfaches Beispiel: Angenommen, eine Person ruft Sie an und fragt, ob es möglich sei, ein Produkt, das üblicherweise von Ihnen hochpreisig verkauft wird, für ein gemeinwohlorientiertes Projekt kostenfrei von Ihnen erhalten zu können?

  • Sofern Sie das, was Sie im Gespräch wahrnehmen, BEGEISTERT, so wird Ihre eigene Geistbegabung dazu beitragen, sofort das Wofür zu entdecken. Aber womöglich wird sich im Anschluss Ihre Psyche melden und Ihnen allerlei Fragen stellen, vielleicht im Sinne eines: Bringt Dich das weiter? Was sind die Pro’s und Con’s? Kannst Du der Sache vertrauen? ….
    In diesem Fall wäre die Psyche eine Art Zensor des Sinnimpulses und eine Reflexion der Frage: Warum brauche ich diesen Zensor? wäre lohnend.
  • Oder aber, Sie sind nicht begeistert, aber Ihre Psyche stellt Ihnen dennoch solche Fragen wie oben und Sie beantworten sie sich so, dass Sie das Produkt zur Verfügung stellen. Dann erfüllt die Abgabe einen Zweck, vielleicht in Form eines Reputationsgewinns, eines guten Gefühls, einer Hoffnung auf eine Belohnung zu späterer Zeit. In diesem Fall wäre die Psyche eine Art Erlaubnisgeber für den guten Zweck und eine Reflexion der Frage: Warum brauche ich eine Stimme in mir, die mir das erlaubt? wäre lohnend.
  • Was aber, wenn Sie BEGEISTERT sind und spontan sagen: Ja, gewiss, damit stehe ich im Einklang! In diesem Fall hat die Psyche nicht die Oberhand über das Geschehen übernommen, sondern das Geistige mit seiner Transzendenzfähigkeit und der mit ihr verbundenen Werteverwirklichung. In diesem Fall wäre also nicht ein Erlaubnisgeber in Ihnen aktiv, sondern Ihr Gewissen – die Instanz der in Ihnen innewohnenden absoluten Selbstverständlichkeit, die sogar beißt, wenn Ihre Psyche versucht, sich zwischen Sie und Ihre gewissenhafte Entscheidung zu drängen. In diesem Fall lohnt sich eine Reflexion der Frage: Wann in meinem Leben habe ich meinen wesentlichen Werten folgend gewissenhaft gehandelt?

Behalten wir das Ausgangsszenario bei und kommen wir zurück zu Ken Wilber. Hier wäre nun die Anfrage nach der Überlassung des Produktes für einen gemeinwohlorientierten Zweck das THEMA. Mit diesem Thema können Menschen nun je nach Status quo ihrer Entwicklungslinie und ihrer Werte-Ebene zu einer völlig unterschiedlichen Entscheidung kommen.

Aber einmal angenommen, Sie hätten den Anruf entgegengenommen und wären auf Ihrer moralischen Entwicklungslinie [ein wissenschaftlicher Protagonist für die Erforschung individueller Moral ist Lawrence Kohlberg] auf der Stufe angekommen, auf der Sie sich an universell ethischen Prinzipien orientieren. Weiter sei angenommen, Sie wären auf der emotionalen Entwicklungslinie [hier ist eine wissenschaftliche Adresse Daniel Goleman] im Feld der Empathie. Und noch weiter sei angenommen, Sie würden zustimmen, auf der Entwicklungslinie Ihrer Bedürfnisse nach Abraham Maslow das Feld der Selbstverwirklichung erreicht zu haben.

Ergänzen wir nun die im Wilber’schen Gedankengut integrierte Betrachtung der Werte-Ebenen nach Clare W. Graves und nehmen an, dass Sie sich Handlungen und Verhaltensweisen entlang von Werten, die auf menschliche Bindung und soziale Verantwortung gerichtet sind, selbstverpflichtet fühlen.

In dieser Konstellation einiger Ihrer Persönlichkeitsmerkmale wäre die Hypothese tauglich, dass Sie das THEMA mit solchen SCHEMATA adressieren, die annehmen lassen, dass Sie Ihre Entscheidung im Kontext des Grünen Meme vornehmen. Es wäre zu erwarten, dass Sie wertebasiert bereit wären, dem Anrufer eine positive Antwort zu geben und Ihr Produkt zur Verfügung zu stellen.

Was aber, wenn Sie zwar über dieses Meme verfügen, jedoch nicht vom Anrufer BEGEISTERT werden? Wenn Sie zwar VERSTEHEN, was der Anrufer mit seiner Frage BEZWECKT, in Ihnen jedoch kein GEFÜHL einer möglichen Werteverwirklichung entsteht, das Sie aufruft, der Anfrage positiv zu folgen? Woran könnte dieser Gefühlsmangel liegen?

  • Vielleicht liegt es daran, dass der Anrufer seine Anfrage auf der Basis eines – im Vergleich zu Ihnen – niedrigeren Werte-Meme vollzieht und dies in Ihnen nicht emotional resoniert?
  • Vielleicht liegt es daran, dass die Wortwahl des Anrufers Sie fühlen lässt, dass dieser eher  nutzenorientiert für die eigene Organisation argumentiert als sinnorientiert für die potenziellen Anwender des Produktes?
  • Vielleicht liegt es daran, dass der Anrufer in seinem Anruf vermissen lässt, auf den eigenen Sinnimpuls hinzuweisen, der ihn erreichte als er Kenntnis von der Existenz Ihres Produktes erlangte? …

Zahllose weitere Möglichkeiten könnten gefunden werden, warum der Anfrage des Anrufers keine entsprechende Handlungsbereitschaft folgt. Meine Thesen dazu sind:

  • Sinnimpulse werden oftmals deswegen nicht wahrgenommen, weil zwischen dem, worum es eigentlich geht, Menschen ‚zwischengeschaltet‘ sind, die sich dieses Eigentliche zum THEMA machen und dann mit ihren Werte-MEME in Kommunikation treten mit anderen Menschen [hier im Beispiel mit dem Angerufenen], in der hoffenden Erwartung, dass sich dieser Mensch das Thema zu seinem THEMA macht. Es scheint erforderlich zu sein, dass Anrufer und Angerufener das Thema aus demselben Werte-Meme anschauen, damit Handlungswunsch und Handlungsbereitschaft einander entsprechen. Besteht diese Meme-Passung nicht, dann kann der eigentliche Sinnimpuls nur nicht wahrgenommen werden, weil das SCHEMA des ‚zwischengeschalteten‘ Kommunikationspartners dem Angerufenen den Zugang zum Eigentlichen verunmöglicht.
  • Eine unzureichende Meme-Passung, die dazu führen kann, dass keine Begeisterung für das eigentliche Thema aufkeimt und es darum nicht zu einer Handlung kommt, ermöglicht der Psyche, die Oberhand über das Geschehen zu behalten. Im genannten Szenario wären dies beispielsweise Verärgerungen darüber, dass der Anrufer mit seinem Anliegen dem Angerufenen Zeit geraubt hat. Oder dass es dem Anrufer nicht möglich war, das, worum es im Eigentlichen geht, nicht nur sachlich, sondern auch nachfühlbar zu kommunizieren. Oder dass es dem Anrufer schlicht deshalb nicht möglich war, Begeisterung zu entzünden, da er sich das eigentliche Thema selbst nicht zum Thema gemacht hat, sondern vielleicht für ihn nur im Vordergrund stand, dem Thema ‚Leute anrufen und ihnen von dem Eigentlichen erzählen‘ zu folgen [wir kennen dieses Phänomen, dass ‚Anrufer‘ mit dem Eigentlichen nicht korrespondieren, zum Beispiel aus dem Direktvertrieb; ich persönlich auch aus Kommunikation mit Kirchenleuten].

Was also tun, um den Sinn des Eigentlichen zu finden, wenn es aufgrund unpassender Werte-Meme von Kommunikationspartnern nicht durchdringt? Im Kern gibt es für Situationen wie diese – wie ich finde – nur eine Antwort: Behalten Sie das ‚wofür wäre meine Handlung für das Eigentliche gut‘ im Auge. Alles andere lenkt ab und ermöglicht der Psyche, die Oberhand über das Geschehen zu gewinnen. Konkret im Fallbeispiel bedeutet das: Es ist irrelevant, ob der Anrufer Sie begeistert, Ihnen schmeichelt, Sie umwirbt usw.. Relevant ist, ob Ihre Handlung für das gemeinwohlorientierte Projekt gut ist. Bemerken Sie bei dieser Bewertung, dass Sie sich selbst mitthematisieren, dass Sie also überlegen, ob Ihre Handlung auch für Sie selbst gut ist, dann hat Ihre Psyche bereits ihren ‚Kaperungsversuch‘ unternommen. Sich dessen bewusst zu werden, wann, wie und warum die Psyche bestrebt ist, sich in Ihre Handlungen einzumischen, ist der zentrale Schritt auf dem Weg zur Differenzierung von sinnvollen und zweckdienlichen, womöglich sogar sinn- und/oder zwecklosen Handlungen.

Nun mag man fragen, ob das nicht ein wenig zu viel verlangt sei und an der Lebenswirklichkeit eines Menschen vorbeiginge, wenn die Erwartung wäre, dass dieser Differenzierungsprozess ständig ablaufen müsse.

Da der Mensch stets vor eine Wahl gestellt wird, erfährt er sich als ein im Grunde vom seinem Leben permanent Befragter. Jede Lebenssituation, jeder Tag und jede Stunde stellt ihn vor eine Wahl, verlangt eine Entscheidung von ihm. Der Mensch ist in den Augen Frankls ein vom Leben in Frage Gestellter, der auf die Anfragen des Lebens die passenden Antworten finden muss. Gleichzeitig aber strebt der Mensch als selbständig denkendes und handelndes Wesen danach, für sein Leben selbst einzutreten, es autonom und eigenverantwortlich zu führen. Daraus folgt, dass der Mensch eine persönliche Orientierungshilfe benötigt, die ihm sagt, wo und wann er welche Entscheidungen treffen soll. Diese Orientierung bietet der Sinn, er ist die wertvollste Möglichkeit in jeder Situation. Ohne ihn wird ein Mensch von sich selbst abhängig und damit von seinem Psychophysikum. Gefundener Sinn im Leben macht ebendieses leichter.

Das klingt in den Ohren vieler, denen das Herz schwer ist, die sich damit schwertun, Entscheidungen zu treffen oder die sich nur schwerlich dazu aufraffen können, sich mit ihren Alltäglichkeiten auseinanderzusetzen wie eine Offenbarung. Ja, wenn es doch nur einmal so leicht ginge. Genauer hingeschaut zeigt sich aber immer wieder: Was das Leben schwer macht, ist das Psychische, zuweilen auch der psychische Umgang mit etwas Körperlichem. Das ist seltsam, erzeugt es doch ein Bild einer Dimension, die es förmlich darauf abgesehen hat, einem Menschen die Freude am Sein recht gründlich zu vermiesen. Und in der Tat, wenn ich mich definiere als Wesen, das sich gegenüber den Unwettern der Erbsünde, des freudianischen Spagats zwischen Es und Über-Ich, des adlerianischen Minderwertigkeitsempfindens, des jungianischen Verdrängungsschattens, der projizierten Glaubenssätze, der im Lebensverlauf zahllosen Feedbacks usw. zu schützen hat, dann wird das Leben zu einem wahren Dauerlauf-Kraftakt. Wie viele Kalorien täglich braucht eine Psyche wohl, um diesen Dauerlauf zu schaffen?

Ken Wilber bietet uns in diesem Kontext diese Perspektive an: „Wir sehen nicht, dass der GEIST hier und jetzt voll und ganz gegenwärtig ist, weil unser Gewahrsein durch Vermeidungstendenzen getrübt ist. Wir wollen nicht entscheidungslos die Gegenwart bewahren; wir wollen vielmehr vor ihr davonlaufen, oder ihr nachlaufen, oder wir möchten sie ändern, sie hassen, sie lieben, sie verabscheuen oder irgend etwas unternehmen, um in sie hinein oder aus ihr hinaus zu gelangen. Wir tun alles Mögliche, nur nicht in der reinen Gegenwart des Gegenwärtigen verweilen.“ Und lesen wir dazu Frankl: „Die Aufgabe wechselt nicht nur von Mensch zu Mensch – entsprechend der Einzigartigkeit jeder Person –, sondern auch von Stunde zu Stunde, gemäß der Einmaligkeit jeder Situation“, so wird eine Gemeinsamkeit im Gedankengut deutlich: Jederzeit und jetzt hält das Leben jedem Menschen Sinn bereit. Diesen Sinn können wir nicht machen und wir müssen es auch nicht. Ken Wilber dazu: „Die Wörter selbst sind nicht die Dinge, auf die sie verweisen. (…) Unsere Wörter, und mit ihnen unsere Ideen, Begriffe und Theorien sind nur Karten der tatsächlichen Welt.“

Jeder Versuch, sich Sinn zu machen, stellt daher einen Akt der Psyche dar, dem Gefühl der Sinnleere entgegenzuwirken. Das klingt mühevoll, schwer und anstrengend. Anders die Grundüberzeugung Frankls, dass der Mensch ein Gespür dafür hat, wofür diese Stunde geschaffen ist, was jetzt gerade das Beste zu tun oder zu lassen ist. Diese intuitive Fähigkeit zur Sinnfindung in jeder Situation ist eine dem Menschen innewohnende Fähigkeit – es ist Gewissen. „Das Gewissen lässt sich definieren als die intuitive Fähigkeit, den einmaligen und einzigartigen Sinn, der in jeder Situation verborgen ist, aufzuspüren. Mit einem Wort, das Gewissen ist ein Sinn-Organ.“[Frankl]

Die grundlegende Haltung der Weltoffenheit und des Sich-Anfragen-Lassens mündet in einem Prozess, der zum Sinn führt. Im allgemeinen taucht ein Sinngefühl mehr oder weniger bewusst auf, wenn wir uns die Realität einer Situation anschauen. Dieses Sinngefühl empfinden wir als innere Bewegtheit, als Resonanz des eigenen Wertesystems mit dem, wozu das Leben den Menschen jetzt aufruft. Das Gefühl dieser Resonanz kann sich langsam entwickeln wie ein Bild, das aus dem Nebel auftaucht, oder es kann wie ein Blitz mit der ganzen klaren Gewissheit sofort da sein.

Wie auch immer, wenn der geistige Rucksack des Menschen so prall gefüllt ist, um Sinn zu finden und wenn die Fähigkeit zur Bewusstseinsentwicklung auch von Wilber [Stichwort: ‚Einschließen und Transzendieren‘] postuliert wird, dann muss interessieren, wie menschliches Dasein konstituiert ist, so dass Formen existentieller Frustration überhaupt möglich sind? Wenn es doch an sich kein Problem sein dürfte, warum gibt es dann immer mehr Menschen, denen ein tragender Sinn im Leben verloren gegangen ist, die unter Orientierungslosigkeit, Inhaltsleere ihres Lebens oder unter einer Sinnkrise leiden?

Häufig meinen Menschen, darauf mit einer Wenn-Dann-Logik antworten zu können: Weil Arbeitslosigkeit, weil der Tod eines nahestehenden Menschen, weil der Verlust einer Beziehung durch Trennung oder Scheidung, weil eine schwere körperliche oder seelische Krankheit, weil ein chronisches Leiden, weil …, deshalb existenzielle Frustration.

Erinnern wir noch einmal Wilber: Die Wörter selbst sind nicht die Dinge, auf die sie verweisen, sie sind nur Karten der tatsächlichen Welt. Die tatsächliche Welt ist also viel größer, und der Mensch hat weit mehr ‚zuhanden‘ [vgl. dazu auch Martin Heidegger „Zuhandenheit ist die ontologisch-kategoriale Bestimmung von Seiendem, wie es ‚an sich‘ ist“].

‚An sich‘ sieht sich der Mensch den Gegenständen in der Welt gegenüber, von denen ihn einige zuweilen psychisch frustrieren und ihn vermeintlich sinnblind werden lassen, wenngleich sich darüber hinaus geistig blickend stets neue Sinnmöglichkeiten auftun. Es scheint, als würde heutiges menschliches Dasein diesen geistigen Blick ins Leben erschweren und Menschen zunehmend glauben machen, der eigene Ausschnitt von Welt sei bereits die Welt. Und mir scheint zudem, dass Wilber wie Frankl gleichermaßen den Schlüssel zur Überwindung dieser ‚Weltausschnittsgrenzen‘ in der Transzendenzfähigkeit des Menschen sehen. Eine Fähigkeit, die in meiner Anschauung etwas Wesentliches sowohl bedingt als auch mitmeint: Die Offenheit zur Klärung und Weiterentwicklung des eigenen Wertesystems. Und die Offenheit zur ‚Vernachbarschaftlichung‘ alles Anderen mit dessen Werten. 

Ich will diesen Umgang mit sich selbst und der Welt als vierte Hauptstraße zum Sinn verstehen und dem diese Straße gehenden Menschen im übernächsten Beitrag auch eine spezifische Beschreibung geben.

2023 – neu: 11. Eine Annäherung von Aspekten der Sinntheorie Frankls an die Integrale Theorie Wilbers

Zum Mensch-sein gehört wesentlich das Geistige dazu. Für Viktor Frankl war es stets ein Anliegen, dieses ontologische Vorausgehen des Geistigen vor dem Willentlichen hervorzuheben. Das Geistige ist je in der Welt und dieses Geistige ist offen für die menschliche Transzendenz. Ohne, dass sich ein Mensch transzendiert, verfehlt er das Geistige und bleibt verhaftet im Psychischen. Das jedoch strebt der Mensch nicht an, vielmehr ist der Mensch ein sinnstrebiges Wesen, er strebt nach Sinn, den die Welt für ihn bereithält.

Ist doch der Mensch eben immer auch ein psychophysisches Wesen und damit in der Immanenz dieser seiner Bedingtheiten eingebunden, so ist er doch ebenso stets gefordert, sich von diesen Bedingtheiten nicht alles gefallen zu lassen. Ich lasse es mir von meinem Selbst nicht gefallen, die Türen verschlossen zu halten, die mir den Möglichkeitsraum zum Sinn eröffnen, meint, sich selbst – zumindest ein gutes Stück weit – zu vergessen. Selbstvergessenheit ermöglicht somit die Weltoffenheit und den Eintritt in einen Raum, der Sinn bereithält. Dieser Sinnraum kann unterschiedlich etikettiert werden. Entweder findet ein Mensch in diesem Raum den für ihn stimmigen Gott, eine metaphysische Dimension der Wirklichkeit, an der jeder Mensch für Frankl a priori seinen Anteil hat. Oder er findet in diesem Raum eine Person, die nicht er selbst ist oder eine Aufgabe, die er nicht selbst entworfen hat und der er sich mit Liebe und auch unter Verzicht psychischer Begehrlichkeiten, Lustbarkeiten oder Ablenkungen hingibt. Oder er zeigt im Kontext der Unabänderlichkeit einer existenziell bedeutsamen Situation eine Lebenseinstellung, die trotz aller gegebenen Widrigkeiten seine unerschütterliche Transzendenzfähigkeit offenlegt. In meinem Buch ‚Coaching des Todes‚ habe ich die in diesem Kontext von Frankl bereits herausgearbeiteten Lebensthemen ‚Leid‘, ‚Schuld‘ und ‚Tod‘ um weitere, ich nenne sie ‚existenzielle Abschiede‚, ergänzt.

Behält das Psychische gerade dann die Oberhand, wenn es möglich und notwendig wäre, quasi einen Fuß in die Tür des hellen Sinnraums zu stellen und lässt sich der Mensch, um in der Metapher zu bleiben, dann doch von seinem Selbst alles gefallen, so verhält und handelt er für sich selbst mittels seines psychischen Ego-Ichs. Überwindet er dieses Ego jedoch aus besseren Gründen, so tritt sein geistiges Ich in die Welt [ebendieses geistige Ich überstrahlt – so mein Verständnis – insbesondere im Moment eines existenziellen Abschieds das Ego und hinterlässt in der Welt eine Sinnspur der Person].

Nun darf die von Frankl jedem Menschen per se zugeschriebene Transzendenzfähigkeit und damit die Ermöglichung eines Handelns und Verhaltens des geistigen Ich nicht derart überdehnt verstanden werden, dass das psychische Ego-Ich als ‚finster, böse oder schlecht‘ zurückbleibt. Im Gegenteil, die Psyche – so mein Verständnis – ist auch eine ehrenwerte Instanz, wenn der Mensch dank seines genetischen Erbes, dank seiner Umwelt und kraft seiner Triebe zu etwas Wichtigem Stellung bezieht [vgl. Frankl, V.E.: Der leidende Mensch. Bern 1998, S. 149). So liegt es mir persönlich fern, zum Beispiel einen Teil meines Wertesystems in Frage zu stellen, den ich als positive Übertragung im Kontext elterlicher oder schulischer Erziehung werte und dafür meinen Eltern danke. Oder einen Teil meines Verhaltens abzuqualifizieren, den ich als Reaktion auf belastende Lebenserlebnisse ausformte. Oder die Triebe zu diskreditieren, die mich zuweilen drängen, die Dinge zu tun, die mir aus gegenwärtiger Sicht guttun. Da aber, wo eine existenzielle Einladung zu einer gewissenhaften Entscheidung im Raum stand und eben nicht das in den Vordergrund gerückt wurde, was der Sprache der Psyche entsprochen hätte, war das Staunen und die VerWUNDERung über einen eigenen neuen eingeschlagenen Weg durchaus gegeben. Aus diesen Erfahrungen heraus steht für mich persönlich außer Frage, dass das Geistige (der Raum, in den menschliche Transzendenz hineinwirkt) und das Gehirngeistige dimensional unterschiedlich sind. Das Gehirngeistige stellt für mich den neuronalen Raum dar, in dem

  • zum einen empfunden, gefühlt, gedacht und intuitiv gehandelt wird (diese vier Systeme und ihre situativ stets neue interaktive Konstellation werden zum Beispiel von Prof. Julius Kuhl in seiner Persönlichkeitstheorie als das ‚Spielfeld‘ der Psyche betrachtet) und
  • zum anderen aber auch vollzogen wird, alle Selbstanteile für den wesentlichen Moment einer existenziellen Einladung zu vergessen, sich vielmehr ’nur‘ zu inspirieren (in-spirare = einhauchen; spiritus = das Geistige] von dem, was sich da als Sinnimpuls von außen offenbart, um dann – bildlich gesprochen – wieder den Verstand, das Mentale einzuschalten, um sich kraft alles Psychischen auf das ‚Begeisterte‘ zu transzendieren und sich ihm hinzugeben).

Das, was das Gehirngeistige sprachlich-landläufig als ‚Sinn‘ begreift und ‚fassen‘ kann, ist letztlich – und das ist nicht gerade wenig – das, was das Ego-Ich in einer Situation als Sinn erdenkt, erfindet oder macht. Mit diesem Begriff des ‚gehirngemachten subjektiven Sinns‘ verbinde ich die Kraft der Psyche, mich über den Tag zu retten, mich mit Selbstbeschäftigung vom Gefühl der Selbstverdrossenheit loszueisen, mir mit Selbstaufopferung, Selbstbefriedigung oder Selbstoptimierung das Gefühl der Selbstverwirklichung einzureden. All das gehört zum Mensch-sein dazu und solange die damit verbundenen Verhaltens- und Handlungsweisen mit ihren Denk- und Fühlweisen weder selbst- noch fremdschädigend wirken, erfüllt die Psyche ihren guten ZWECK.

Das, was all diese Zwecke jedoch dimensional überspannt, kann das geistige Ich erspüren. Dieses Ich geht bildlich gesprochen auf die Spur des im Moment seines Aufscheinens unbegreifbare, unfassbare Objektive. Mit diesem Begriff des ‚objektiven Sinns‘ verbinde ich die Kraft des Geistigen, mir die Möglichkeit einer Weltbeschäftigung vorzuhalten mit der ihr innewohnenden Inspiration – wenn nicht von mir von wem denn sonst – hineinzuwirken in das, was nicht würde, bliebe ich ‚Gefangener meines Selbst‚. Mit seiner Fähigkeit zur Transzendenz kann sich ein Mensch den Weg zum Person-sein ebnen und über diesen dem befriedigenden, psychisch (hoffentlich) gut gemachten Sinn die Verwirklichung eines geistig erfüllenden Sinns zur Seite stellen.

Wie kann diese sinntheoretische Perspektive nun mit dem integralen Gedankengut von Ken Wilber verwoben werden? Erinnern wir dazu, dass das zentrale Axiom der Theorie Wilbers besagt, dass Entwicklung prinzipiell dem Prozess von „transzendieren und einschließen“ unterliegt. Die Themen und Schemata [in Form von Werten, Verhalten, Fähigkeiten, Kapazitäten usw.] einer Ebene werden zum einen von der nächst höheren Ebene [und damit weitergedacht von allen höheren Ebenen] eingeschlossen und bei neu auftauchenden Themen durch Transzendenz in neue Schemata weiterentwickelt. Eine Entwicklungsebene [die wir bei einer konkreten Arbeit zum Beispiel in der Therapie, in der Beratung oder im Coaching anschauen] wird dabei im Kontext einer Entwicklungslinie und diese wiederum in einem der vier Wilberschen Quadranten betrachtet [siehe hierzu die von mir im Beitrag 1 dieser Reihe empfohlene Videoreihe zu den einzelnen Aspekten der Integralen Theorie].

Mit den Werteebenen von Clare Graves, die Einzug gehalten haben in verschiedenen Veröffentlichungen unter dem Stichwort ‚Spiral Dynamics‚ werden dauerhaft entwickelte Merkmale von Individuen oder Systemen beschrieben. Neben der Klassifizierung von Graves finden sich in der Literatur weitere wie zum Beispiel Jean Gebsers Modell der fünf Strukturen des Bewusstseins, die Ebenen der Bedürfnispyramide von Abraham Maslow, die Stufenmodelle der Persönlichkeits- oder Bewusstseinsentwicklung nach Erikson, Loevinger, Cook-Greuter u.v.a.m.

Allen Modellen schreibt Wilber zu: ‚everybody is right‘, die Auswahl einer groberen oder feineren Ausdifferenzierung des jeweiligen Modells orientiere sich letztlich an der zugrundeliegenden Forschungsfrage, bei aller Trennschärfe wäre jedoch nicht zu übersehen, dass jedes Modell ein Teil [ein Holon] eines darüber stehenden Ganzen sei. In seinem Hauptwerk Eros, Kosmos, Logos stellt Wilber die sogenannte Holarchie dar. Jedes Holon ist dabei zuerst ein Ganzes, es wird dann gegebenenfalls auf das nächst höhere Holon transzendiert und dort als Sub-Holon eingeschlossen. Eine bekannte Holarchie ist die Sequenz Atom – Molekül – Zelle – Organismus.

Als eine weitere Holarchie kann das Modell der Werte-Meme von Graves angeschaut werden. Es soll hier im Zusammenhang [auch als Wiederholung zu einem früheren Beitrag in dieser Reihe], insbesondere aber in seinen jeweiligen Übergängen von der einen zur nächsten Ebene betrachtet werden.

=> Beige: Das Meme der Horde mit dem Streben des Einzelnen nach Überleben. Nahrung, Wasser, Wärme, Sex und Sicherheit haben Vorrang. Gewohnheiten und Instinkte werden zum bloßen Überleben eingesetzt. Eine Ich-Identität ist in diesem Meme noch nicht – oder aufgrund einer extremen Krisenbelastung nicht mehr – auszumachen. Der Umgang mit den Gegebenheiten erscheint primitiv, vegetierend, animalistisch, archaisch.
Die Gabe des Meme: Überlebenswille
Das Risiko des Meme: Untergang

Übergang von Beige zu Purpur: Bei sich massiv selbst- oder andere gefährdenden Verhaltens- und Handlungsweisen bewirkt das Ergreifen einer schützenden Hand die Re-Integration in eine soziale Hilfsgemeinschaft.

=> Purpur: Das Meme der Gruppe, der Ahnen, der Familie, der Sippe.
Das Meme sucht Geborgenheit und Sicherheit [z.B. durch starke Familienbindungen, Riten, Naturbezogenheit]; das Denken ist animistisch, schamanistisch und mythisch; die Gruppe sorgt sich um ihr Überleben und Wohlbefinden; wichtig sind Geschlechterrolle, Sexualität und Verwandtschaft; ethnisch homogene Gruppen; hohe Loyalität gegenüber den ‚Ältesten und Senioren’ und der ‚Sippe’. Das Individuum ist der Gruppe untergeordnet.

Purpur ist ein sog. ‚WIR’-Mem, es findet sich in ‚verschworenen Gemeinschaften’, da wo ‚Blut dicker als Wasser’ ist, in Seilschaften, auch im Kindergarten.
Die Gaben des Meme: Sensibilität, Solidarität, Opferbereitschaft
Die Risiken des Meme: Unterwürfigkeit, Aberglaube, blinder Gehorsam

Rückschau von Purpur zu Beige: Hat Purpur seine Geborgenheitsausrichtung reguliert und berücksichtigt es die guten Kräfte von Beige [EINBEZIEHEN], so entsteht eine günstige Symbiose aus Lebenswillen und Gruppenenergie.

Übergang von Purpur zu Rot: Menschen machen die Erfahrung, dass sich auch die Seniorität irren kann, nicht alles weiß und kann. Verfügt ein Individuum in diesem Kontext über besondere Stärken und Kompetenzen, setzt es sie entweder egozentriert zur eigenen Positionierung in der Gruppe oder zum Schutz der Gruppe [TRANSZENDIEREN] ein und  steigt damit in die Macht auf.

=> Rot: Das Mem der Macht, der Impulsivität, des Kampfes strebt nach Ehre, Respekt, Herrschaft und Ansehen; es vermeidet es, von anderen gedemütigt oder gezwungen zu werden; das Denken ist gegenwartsbezogen, konkret, ego-zentriert. Im roten Meme interessiert sich das Individuum nicht für mögliche Konsequenzen, sondern nur für das Handeln; es vertraut sich voll und ganz; das Individuum ist der Gruppe übergeordnet.

Rot ist ein sog. ‚ICH’-Mem, es findet sich bei Kindern im rebellischen Trotzalter, bei heldenhaften Machern, im Milieu der Gewalt, Systemen mit autokratischen Führern.

Die Gaben des Meme: Selbstvertrauen, Kraft und Charisma
Die Risiken des Meme: Egoismus, Hochmut und Gewaltsamkeit

Rückschau von Rot zu Purpur: Hat Rot seine Dominanz reguliert und berücksichtigt es die guten Kräfte von Purpur [EINBEZIEHEN], so entsteht eine günstige Symbiose aus Autorität und Akzeptanz.

Übergang von Rot zu Blau: Bei zu stark und herrisch gewordenen Individuen gilt es zum Erhalt des Gemeinwesens, deren Willkür zu begrenzen. Dazu dienen Initiativen von Menschen [TRANSZENDIEREN], der Macht starker Einzelner adäquate Eindämmungsstrukturen mittels weltlicher oder religiöser Ordnungssystemen entgegenzustellen.

=> Blau: Das Meme der Ordnung, der Wahrheit, der Rechte strebt nach Regeln und Stabilität; achtet auf Gerechtigkeit und Gewissenhaftigkeit. Das Denken ist konservativ, ‚prinzipiell’, statusorientiert. Blau steht ein für das, was ‚gut’ und ‚richtig’ ist, es hält sich an Gesetze, Regeln,
Hierarchien und verhält sich diszipliniert; Komplexität und Veränderung werden mit Ordnungssystemen adressiert.

Das Individuum im blauen Meme zeigt Loyalität für die Themen, die es zu seinen macht, auch zu Bereichen des Glaubens, der Tradition oder zur Organisation. Die Organisation ist dem Einzelnen übergeordnet. Blau ist ein ‚WIR’-Mem, seine Ausrichtung auf Regeln findet sich zum Beispiel in Form von Bürokratien, Patriarchaten, Kadern, Pfadfindergemeinschaften, aber auch in totalitären Systemen, in Organisationen mit spezifischen Kodizes, in der Grundschule.

Die Gaben des Meme: Geduld, Loyalität, Klarheit
Die Risiken des Meme: Starrheit, Ideologie, Fundamentalismus, Zwanghaftigkeit

Rückschau von Blau zu Rot: Hat Blau seine ‚Regelkunst’ unter Kontrolle und zieht es die guten Kräfte des Rot mit ein, so entsteht eine günstige Symbiose aus Strukturqualität und Leitungsmacht.

Übergang von Blau zu Orange: Alle Meme bis hin zu Blau gelten als ethnozentrisch und konventionell. Orange transzendiert nun all die bisherigen Gegenwarts-Bewusstheiten in Richtung einer weltzentrischen und postkonventionellen Ausrichtung. 

=> Orange: Das Meme der Leistung, des Erfolgs, es strebt nach Freiheit, Selbstständigkeit und Erfahrung. Es will gut und materiell wohlhabend leben; es achtet auf Fortschrittsoptionen und mag den Wettbewerb, die Wissenschaft, das neue Lernen. Es will Karriere machen, Anerkennung erhalten und die eigenen Chancen nutzen; das Denken ist hypothetisch-deduktiv, objektiv, wissenschaftlich. Das Individuum vertraut in Orange auf sein Wissen und die eigenen Fähigkeiten; es bedient sich aller Ressourcen, um den Erfolg zu sichern; informiert sich kontinuierlich, um ‚up to date’ zu sein. Die Individualität ist der Organisation übergeordnet.

=> Orange ist ein ‚ICH’-Mem, es findet sich im freien Unternehmertum, in Wissenschaft, Börse, höheren Schulen und in körperschaftlich organisierten Institutionen.

Die Gaben des Meme: Selbstbewusstsein, Optimismus, Planungsstärke, Zielstrebigkeit
Die Risiken des Meme: Manipulation der Ressourcen, Fortschrittshörigkeit, Solidaritätsverlust, Materialismus

Rückschau von Orange zu Blau: Hat Orange seine individualistische Freiheit gekoppelt mit den guten Kräften des Blau, so entsteht eine günstige Symbiose aus Innovation und Bewahrung.

Übergang von Orange zu Grün: Wird die Leistungs- und Wettbewerbsorientierung überdehnt, zeigt sich mit Grün ein Korrektiv, das auf die Verantwortung für das Große und Ganze im weltzentrischen Verständnis verweist. Dazu dienen auch Initiativen, die es den Menschen ermöglichen, den Anschluss an die Wissens- und Erfahrungsfelder unter Wahrung ihrer individuellen Kraft und Würde gestalten zu können.

=> Grün: Das Meme der Harmonie, der Kooperation, der Akzeptanz strebt nach gesellschaftlicher Entwicklung, Teilhabe, Wertegemeinschaften; erforscht das eigene Innere im Kontext der Empathie mit anderen. Es schätzt Beziehungen und Wissenstransfer; betont den Willen zur Konsensbildung; atmosphärische Intelligenz, Gespür und friedvolle Weltoffenheit sind wichtig. Statt Stärken-Schwächen-Polarität gilt die Vision des vielfältigen Menschen; das Denken ist pluralistisch, vernetzt, nichtlinear, sozial und auf gemeinsames Handeln ausgerichtet. Das Menschenbezogene ist dem Individuellen übergeordnet.

Grün ist ein ‚WIR’-Meme, es findet sich in Konzepten des Unternehmensbürgertums, in Netzwerken mit Nachhaltigkeitsanspruch, in Menschenrechtsbewegungen, in multiperspektivischen hierarchiefreien Hochleistungsteams.

Die Gaben des Meme: Sensibilität, Lebensorientierung, Weltoffenheit, Wertschätzung, Integration
Die Risiken des Meme: Entscheidungsunfähigkeit, ideologische Anti-Ideologie, Naivität, Ziellosigkeit

Rückschau von Grün zu Orange: Hat Grün seine ‚Klagen über die Welt’ im Griff und gekoppelt mit den guten Kräften des Orange, so entsteht eine günstige Symbiose aus Klugheit und Innovationsfreude.

Übergang von Grün zu Gelb: Wird die Begeisterung für Multiperspektivität und soziale Gleichheit überdehnt, zeigt sich mit Gelb eine Bewusstheit höherer Ordnung, der es gelingt, das angestrengte ‚Für-etwas-Korrektiv-sein-Müssen’ zugunsten einer leichtgängigen Handhabung von Komplexität zu wandeln.

=> Gelb: Das Meme des Lernens, des Systemischen, des Geistigen fokussiert auf breite Funktionalität, profunde Kompetenz, weitreichende Flexibilität, lebendiges Wachstum. Es ist in der Lage, mit Ambivalenzen umzugehen und weiß um die Permanenz der Veränderung; lernt beständig, selbstgesteuert und aus allen Quellen; vermag Freiheit und Verantwortlichkeit so zu leben, dass das Eigene ohne Schädigung des Anderen vollzogen wird; es besitzt ein liebevolles Menschen- und ein realistisches Weltbild; das Denken ist systemisch, perspektivisch und erzeugt systemische Fragestellungen; das Geistige [spezifisch Menschliche] ist dem Psychophysischen übergeordnet.

Gelb ist ein ‚ICH’-Mem, integriert hierarchische und nichthierarchische Strukturen und verschiedenste Lern- und Arbeitsformen. Es nutzt die pragmatische Erkenntnis, dass ‚Systeme immer mithelfen’; orientiert sich an dem, was naheliegend und notwendig ist; befähigt zu mehr Verantwortungsübernahme. Gelb findet sich in hochentwickelten Netzwerken, Projekten mit einem Höchstmaß an Selbstorganisation und Eigenverantwortlichkeit, temporären Organisationsformen, in Sinnsystemen.

Die Gaben des Meme: Kreativität, Autonomie, Multiperspektivität, Perspektivenwechsel
Die Risiken des Meme: Arroganz, Unnahbarkeit

Rückschau von Gelb zu Grün: Hat Gelb seine Fähigkeit zur Vernetzung gekoppelt mit den guten Kräften des Grün, so entsteht eine günstige Symbiose aus Wissensgesellschaft und Wertegemeinschaft.

Übergang von Gelb zu Türkis: Wird die Vernetzungsorientierung und das systemische Denken überdehnt, so vermag Türkis die sich damit in Bewegung setzende Informationswelle auf das Globale, Wesentliche zu reduzieren.

=> Türkis: Das Meme des Ganzheitlichen, des Holon richtet sich an einer globalen Ordnung aus, die befreit ist von menschlich gesetzten Regeln. Es vereint die geistige Dimension mit mentalen Fähigkeiten und konzentriert sich auf das Wohl aller lebenden Wesen und aller natürlichen Systeme. Das türkise Meme sieht das Universum als ein ästhetisches-elegantes-ausgewogenes-wissendes-verwobenes Feld; das Denken ist holistisch-global, evolutionär und intuitiv. Es fokussiert auf das globale Überleben, nicht auf das Überleben des Einzelnen oder einer speziellen sozialen Entität. Türkis findet sich in der Zusammenarbeit von Menschen, die sich mit Aspekten der über die aktuelle Menschheitsgeneration weit hinausgehenden Fragestellungen befassen und einen Spiritual-Think-Tank begründen.

Wenn nun Menschen wie Du und Ich mit je unterschiedlichen Bewusstheiten [Meme = Thema + Schema] über ein Thema sprechen oder an ihm arbeiten, dann besteht stets die Gefahr, dass eine ‚höher‘ entwickelte Werteebene die ’niedrigere‘ abwertet. Diese Abwertung kann dabei inhaltlich unangemessen sein, wenn nämlich die ’niedrigere‘ Bewusstheit als Schema geeigneter wäre für den Umgang mit dem Thema.
Andererseits neigt zuweilen die niedrigere Werteebene dazu, die höhere anzugreifen, im Sinne eines ‚abgehoben, unnahbar, arrogant …‘. Zuschreibungen dieser Art kennen alle Menschen. Sollte aber die höher entwickelte Bewusstheit zwar angemessener sein für den Umgang mit dem Thema, setzt sich aber die niedrigere aus welchen Gründen auch immer durch, so wird eine bestmögliche Entwicklung des Themas behindert, die Entwicklung stockt oder die Nicht-Entwicklung führt bis hin zum Tod des Systems, in dem die Entwicklung zwingend gewesen wäre.

Beispiel: Zwei Menschen befinden sich in einer Ausbildung. Der eine will im Netzwerk mit anderen Menschen das neue Wissen in verschiedenen Zusammenhängen ausprobieren [Gelb]. Der andere will sich fokussieren auf inhaltlich korrektes Erlernen der Details und strebt nach Ordnung im didaktischen Ablauf [Blau]. In der integralen Sichtweise hat das Gelbe Meme das Blaue integriert, Gelb nutzt die Ordnungsfähigkeit des Blau nun jedoch womöglich in anderer Weise als der Mensch mit dem Blauen Meme es tut. Ein Konflikt ergäbe sich nun, wenn Gelb das Blau als ‚rückschrittig, altmodisch, kleingeistig …‘ abwerten würde. Oder wenn Blau das Gelb auf der anderen Seite als ‚zu wenig tiefgängig, unberechenbar oder unstrukturiert‘ etikettieren und angreifen würde.

Oder:
Orange will gerne besser sein als die anderen und stellt eigene Ziele über das soziale Wohl. [Stichworte: Turbokapitalismus, Verdrängungswettbewerb, Strebertum …]
Grün möchte das Soziale in seiner Bedeutung hervorheben und fördert die Gleichheit in vielen Lebensbereichen. [Stichworte: Equal Payment, Quote, Inklusion, CSR …]

Oder:
Rot will den persönlichen Triumpf als Sieger. [Stichworte: Einzelkämpfer, Weltherrschaft, Ellenbogenmentalität …]
Blau möchte Konflikte und Kampf vermeiden, indem Beziehungen formal definiert werden. [Stichworte: Verfassung, Code of Conduct, Stellvertreterregelungen …]

In der Lebenspraxis finden sich im privaten, beruflichen, gesellschaftspolitischen wie globalen Kontext zahllose Konflikte, die im Kern auf aufeinanderprallende Bewusstheiten hinweisen. Schaut man dazu in das von Wilber in seine Theorie integrierte Graves Modell der Werte-Meme und weiter auf die von Don Beck und Christopher Cowan [Autoren des Buches Spiral Dynamics] vorgenommene Kopplung dieses Modells mit dem Konzept der Meme des britischen Biologen Richard Dawkins so sieht man hier, dass ein Meme mittels Kommunikation von einer Generation an die nächste weitergereicht, dort reproduziert (einbezogen) und weitentwickelt (transzendiert) wird. Menschen passen so à la longue ihre Verhaltens- und Handlungsmuster, ihre Überzeugungen und Glaubenssätze an die Gegebenheiten der Gegenwart an und entwickeln so – analog der Entwicklung der Gene und der mit ihnen verbundenen biochemischen DNA – ihre psychologische DNA. Aus ihren Überlegungen formulierten Beck und Cowan einige zentrale Eigenschaften, über die Meme ihrer Ansicht nach verfügen:

  • Meme bringen die Bewusstheit zum Ausdruck, mit der menschliches Verhalten bestimmt wird.
  • Meme beeinflussen alle Lebensentscheidungen.
  • Meme können situativ verbessernd oder verschlechternd wirken, mithin passend oder unpassend für spezifische Kontexte sein.
  • Meme beschreiben menschliche Denkweisen.
  • Meme können sich unter veränderten Lebensbedingungen verstärken oder abschwächen.

Für Beck und Cowan stellen die Meme ‚Beige’ bis ‚Grün’ und die Meme ab ‚Gelb’ zwei qualitativ unterschiedliche Cluster dar. Im sogenannten ‚first level tier’ [Beige -> Grün] werden Denkweisen praktiziert, die die Bewältigung situativer Themen eines Menschen oder eines Kollektivs sichern helfen. Hier wirken die einzelnen Meme zwar jeweils aufeinander aufbauend, jedoch zumeist sich untereinander bewertend und grenzziehend. Die Meme ab ‚Gelb’ – das ‚second level tier’ – nehmen dagegen nicht nur einzelne Ebenen, sondern alle in den Blick.

Die Reise durch die Meme wird vergleichbar anschaulich, wenn man sich zuerst einen Menschen konstruiert, der an einem Ort nur das ihn unmittelbar Umgebende und seine basalen Grundbedürfnisse Befriedigende denkend erschaut, woraufhin sich dieser Mensch dann nach und nach quasi ‚erdnah‘ zuerst bis ‚Grün’ seinen Denkraum vergrößert, um schließlich mit ‚Gelb’ wie in einer Rakete sitzend vertikal erst die gelbe Metaebene, dann die türkise Globalebene usw. durchreist, dabei sich die Perspektive stetig weitet und die sich zu stellenden Fragen auf einen immer weiter reichenden Horizont verweisen. Dem ‚Second-Level-Denkenden’ ist bewusst, dass sein Denken ohne Integration und Würdigung aller ‚First-Level-Denkweisen’ lückenhaft bleibt – seine Denkhaltung überzeugt daher mit einem hohen Maß an Mehrdeutigkeitstoleranz, eigener Entwicklungs- und Reflexionsbereitschaft und Überblicksperspektive.

Das individuelle Meme-Set kann aus dieser Perspektive also verstanden werden als ein sich im Leben dynamisch entfaltendes Bündel an Denkformen, mit dem ein Mensch in einer aktuellen Situation ‚so oder so’ über den ihm vorliegenden Kontext denken kann und hierauf sein bewusstes Verhalten begründet.

Eine in einem Folgebeitrag zu thematisierende Frage wird sein, welchen Beitrag der Mensch ’selbst‘ leisten kann, um sein individuelles Meme-Set weiterzuentwickeln und in welcher Weise Sinnimpulse zu einer solchen Entwicklung inspirieren können?

Im Praxistransfer des beschriebenen Gedankenguts auf den in diesem Blog fokussierten Krisenkontext, stelle ich in meiner Rolle als psychotherapeutischer Begleiter immer wieder einen der folgenden Zugangswege zum ‚Bewusstheits-Diskurs’ mit Klienten fest:

  • Der Klient hat die Einsicht, dass er in Nutzung eines bestimmten Memes bislang versucht hat, seiner Krise Herr zu werden, und erkennt, dass ein anderes, ihm auch präsentes Meme womöglich angemessenere Denkweisen im Umgang mit der Situation ermöglichen würde.
  • Wie oben, das Meme, das dem Klienten dienlich wäre, steht ihm jedoch noch nicht zur Verfügung und ruft dazu auf, in einem Lernprozess entwickelt zu werden.
  • Der Klient ist ambivalent in der Nutzung ihm vergleichbar gut verfügbarer Meme und entwickelt so durch eine mentale Blockade im Krisenbewältigungsprozess eine Selbstunsicherheit.
    [Es ist zu beachten, dass die Koexistenz mehrerer ausgeprägter Meme im Krisenkontext nicht gleichgesetzt werden kann mit einem automatisch ‚besseren’ Weg der Situationsbewältigung. Vielmehr gilt es, stets das ‚passendste’ Meme-Set, die angemessene Bewusstheit, zu entwickeln.]

In meiner Rolle als Therapeut, Berater oder Coach führe ich das Modell der ‚Werte-Meme’ als Navigationssystem ein und biete dem Klienten zu den einzelnen Meme passende Interventionen an. Wenn – wie Beck und Cohan postulieren – Meme als Denkstrukturen verstanden werden können, dann lässt sich mit diesem Modell erarbeiten, wie ein Klient einerseits über seine Krise und andererseits über seine Vorstellung eines Weges aus der Krise denkt. Dabei stelle ich zumeist fest, dass der Klient beide ‚Denkaufgaben’ im selben und im für ihn stärksten Meme angeht.

Wie zum Beispiel Karin H., die als Abteilungsleiterin eines Großunternehmens berichtet: „Meine Situation ist eskaliert als es in unserem Unternehmen jüngst vier MItarbeiterversammlungen gab, die sich im Nachhinein als kaskadisch inszenierte Veranstaltungen entpuppten, von denen in der ersten Gruppe die Mitarbeiter über anstehende Veränderungen informiert und sie für ihre bisherigen Leistungen anerkannt und mit pompösem Tamtam motiviert wurden, in der zweiten Gruppe die Mitarbeiter auch die Informationen über die anstehenden Neuerungen erhielten, sie aber dabei die Botschaft erhielten, von ihnen würde künftig noch mehr Leistung erwartet werden. In der dritten Gruppe wurden die anstehenden Veränderungen mit einem Unterton geschildert, der nahelegte, sich als Mitarbeiter den Verbleib in unserem Unternehmen genau zu überlegen und die vierte Gruppe wurde als letzte darüber in Kenntnis gesetzt, dass man mit ihnen aufgrund der Situation zeitnah Gespräche zum Ausscheiden aus dem Unternehmen zu führen gedenke.

Da jeder Mitarbeiter durch die Einladungen wusste, wer in welcher Versammlung war, und es erst durch dieses Vorgehen für Mitarbeiter offenkundig wurde, welche Vorgesetzten – und manchmal auch der eigene – auf die Abschussliste gesetzt wurden und umgekehrt, war nach dieser Vorstandsaktion natürlich Katastrophenstimmung angesagt. Meine persönliche Verzweiflung ist nun, dass ich dieses Vorgehen als zutiefst respektlos und ungehörig empfinde, zumal ich und einige meiner Mitarbeiter in die dritte Gruppe sortiert wurden.

Ich bin seit 22 Jahren im Unternehmen beschäftigt, führe seit vier Jahren gut 20 Mitarbeiter, habe in den vergangenen Jahren stets die vereinbarten Ziele erfüllt oder übererfüllt und kann auf eine stattliche Reihe erfolgreicher Projekte zurückblicken. Mein Verhältnis zu meinem unmittelbaren Vorgesetzten ist gut, jedoch hat sich die – zum Teil mit ehemaligen Offizieren der Bundeswehr – neu besetzte Vorstandsebene aus meiner Sicht von Anbeginn ihrer Zusammenarbeit nur das Ziel gesetzt, einen harten Cut zu machen und Personal freizusetzen.

Das fing vor zwei Jahren schon an, als verschiedene Projekte ausgeblutet und mehrere interne Abteilungen ausgegliedert wurden. Da ging damals schon einiges nicht mit rechten Dingen zu, wenn ich erinnere, mit welchen Argumenten uns die Anpassungen vermittelt wurden. Erst hieß es, das Unternehmen hätte ein größeres Auslandsinvestment in Aussicht und wolle deshalb Prozesse und damit auch Personen neu bündeln und würde daher nun einige Projekte beauftragen, in denen die Konzepte für eine neue Struktur entwickelt würden. Dann wurde aber nach kurzer Zeit mitgeteilt, dass die Unternehmensleitung sich entschlossen habe, im Ausland mehrere Shared Service Center aufzubauen. Alles wurde als Dringlichkeitsszenario dargestellt – nur, wenn die Strukturen verändert würden, könnte man im Ausland erfolgreich operieren.

Hinterher sickerte durch, dass man das Service-Konzept bereits bei den Verhandlungen mit den Partnern im Ausland im Gesamtpaket eingebunden hatte. Diese Unaufrichtigkeit und das Spielen mit den Menschen werden für mich immer unerträglicher. Als Nachwuchskraft habe ich solche Handlungsweisen vermutlich früher gar nicht wahrgenommen oder als für mich relevant angesehen. Mit zunehmender Führungsverantwortung wurde mein Einblick in die Entscheidungsprozesse und den Stellenwert, den Menschen in unserem Unternehmen für einen Teil des Topmanagements haben, bewusster. Ich habe, so gut es ging, meinen Mitarbeitern gegenüber mit Achtsamkeit und Gewissenhaftigkeit in Gesprächen und Entscheidungen gegengewirkt und in den letzten Jahren eine auch von anderer Seite beachtete Teamkultur entwickelt. Wir haben uns gut eingespielt und immer komplexere Aufgaben gewuchtet, haben uns eine innere Ordnung gegeben, weil die Unternehmenswerte für uns zu schwammig waren, und ich denke, mit meiner eigenen Disziplin und Klarheit habe ich den Mitarbeitern die Sicherheit gegeben, die sie für ihre Lebensplanung brauchen.

Das alles soll nun nichts mehr wert sein. Für mich bedeutet die Situation, dass ich alle rechtlichen Schritte einleiten werde, um nicht unter die Räder zu kommen. Natürlich habe ich meinen Vorgesetzten auch befragt, wie er Form und Inhalt dieser demütigenden Aktion einschätzt, und er erklärte mir, dass die Organisation alle Funktionen ohne Ansehen der Personen auf ihren kurzfristigen Beitrag zum Turnaround geprüft hätte. Dabei wäre auch in Kauf genommen worden, dass Mitarbeiter, die persönlich keinen Anlass zur Kritik böten, nun von der neuen Ausrichtung der Firma betroffen seien. Dass ich dazu gehöre, würde er bedauern, und ich solle das ‚Angebot zum Nachdenken’ doch ‚konstruktiv’ aufgreifen.

Ich bin sehr besorgt, denn ich bin alleinstehend, mein Sohn sitzt seit einem Motorradunfall vor eineinhalb Jahren im Rollstuhl, meine Mutter braucht tägliche Pflegedienstunterstützung nach ihrem Schlaganfall, den sie vor einem Jahr erlitten hat. Ich habe hier sehr viel mit Behörden und Krankenkassen zu regeln, und mir unter diesen Bedingungen mit 49 Jahren eine neue Führungsaufgabe zu suchen, möchte ich nicht. Mir bereitet meine derzeitige Arbeit keine Mühe, ich bringe gerne volle Leistung, aber ich erwarte einen fairen Umgang und angemessene Regelungen – nicht so ein ‚von oben herab’. Was ich mir zur Entlastung der Situation überlegt habe? Sehr schmerzlich wäre es für mich, meine Mutter dauerhaft in einem Pflegeheim unterzubringen, bisher kann ich ja einige Stunden mit ihr verbringen. Die finanzielle Unterstützung, die ich meinem Sohn gebe, damit er sich seine rollstuhlgerechte Wohnung noch besser für sich einrichten kann, müsste ich auch strecken. Ach, es sind an sich viele Sachen, die neu organisiert werden müssten und die manche Nächte schlaflos werden lassen …“

Schauen wir bei dieser Schilderung auf die mit ihr zum Ausdruck gebrachte Bewusstheit der Klientin, so finden sich eine Reihe von Merkmalen des ‚Ordnungs’-Memes. Mit einer solchen zentralen Bewusstheit strebt der Mensch nach Struktur, Wahrheit, Recht, nach Regeln und Stabilität. Das Denken wird durch Prinzipien und Status geprägt, als Bewertungsmaßstäbe werden ‚gut’, ‚schlecht’, ‚falsch’ und ‚richtig’ herangezogen. Menschen, die aus diesem Meme heraus denken und handeln, zeigen sich diszipliniert, loyal und traditionell. Wird nach möglichen Bewältigungsformen gesucht, so stehen ‚Anwälte, die für Recht sorgen’, ‚Delegation von Themen an vertraute Personen’, ‚Aufbau von Konfrontationslinien, um bei anderen Menschen zu einer ehrlichen Aussage vorzudringen’, ‚Beharren auf betrieblichen Vereinbarungen’, … an erster Stelle.

Die Denkweisen der Klientin im Kontext ihres Anliegens waren – so sollte es sich im Verlauf der weiteren Arbeit beim Betrachten ihres Wertesystems, ihrer Grundeinstellungen in Krisen sowie durch ein Gespräch über sie potenziell verletzende Verhaltensweisen anderer Menschen zeigen – in dieser Gewichtung in % verteilt:

türkis: 0
gelb: 5
grün: 5
orange: 25
blau: 35
rot: 5
purpur: 25
beige: 0

In der Tat interpretiert diese Klientin ihren problematischen Anliegenkontext auf derselben Bewusstheitsebene, auf der sie auch nach Lösungen für ihr Problem sucht. Erscheint ein Problem als ‚kompliziert’ und liegen einem Menschen Erfahrungen im Umgang mit Situationen dieses ‚Schweregrades’ vor, so mag dieses Vorgehen hinreichend zufriedenstellende Lösungen bewirken. Erhält die Situation jedoch durch Komplexität und Dynamik eine individuell empfundene Unbeherrschbarkeit, Brisanz und Lösungsdringlichkeit, dann hat nach meiner Einschätzung die Erkenntnis ihre Berechtigung, dass „der Kern des systemischen Denkens die Einsicht ist, dass wir uns verabschieden müssen vom linearen Denken” [Paul Watzlawick] und sich Lösungen für Probleme nicht im Raum ihres Entstehens finden lassen. Für den Krisenkontext folgen hieraus meine Thesen:

  • Die Bewältigung einer Krise findet in einem anderen Bewusstheitsfeld statt als ihre Entstehung.
  • Verfügen Menschen nicht über die für die Krisenbewältigung passende Bewusstheit, so eskaliert die Situation.

Für Karin H. bedeutete dies, das sie blockierende Werte-Meme zu identifizieren und Aspekte eines anderen oder zusätzlichen Memes in Erwägung zu ziehen, auch wenn dies einen umfassenderen Lernprozess erfordern sollte:

Karin H.: „… nun, ich hoffe, dass ein Zustand eintritt, der es mir weiterhin erlaubt, mich um meine Familie zu kümmern. Das ist mir allemal wichtiger als irgendein beruflicher Aufstieg, denn weiterführende Karriereambitionen hatte ich glücklicherweise ohnehin nie. Mit meiner Position und den mit ihr verbundenen Aufgaben bin ich vollauf im Reinen. In meiner privaten Situation wären solche Absichten nun für mich sicher die Grundlage größerer Unzufriedenheit geworden. Dann hoffe ich, dass meine Mitarbeiter – egal in welche Richtung ihre weitere Entwicklung gehen wird – auf anständige Weise Alternativen aufgezeigt bekommen und sie auch mit mir auf eine solche Weise umgehen. Und dann hoffe ich, dass ich als Folge eines solchen Zustands auch die Nähe zu meinen Freunden und Bekannten nicht einbüße, denn von dort bekomme ich schon heute sehr viel Kraft. An sich erhoffe ich mir einen Zustand, der mir nicht Energie raubt, so wie es in der letzten Zeit der Fall ist, und den ich ja durch Schlafstörungen auch schon körperlich merke …“

Das im Zusammenhang ‚Hoffnung’ von der Klientin besonders betonte Meme ist das der ‚Gruppe und Familie [purpur]’. Würde die Klientin reflektieren, dass ein Verharren im blauen Ordnungs-Meme ihre Lage im Unternehmen möglicherweise erschwert und ein Streben nach einer familienfreundlicheren Lösung im Kern ein gelingenderes Leben verspricht, wären hierauf aufbauende Interventionen sinnvoll [was nicht bedeutet, dass flankierende Maßnahmen – in diesem Beispiel aus dem Ordnungs-Meme – nicht zusätzlich zweckdienlich sein könnten]. Im konkreten Fall wurde Karin H. deutlich, dass ein ‚Pochen auf Gerechtigkeit’ zugunsten einer im Unternehmen für ihre familiäre Situation sensibilisierenden Kommunikation hintangestellt werden sollte, mit dem [Wunsch-]Ziel, mit ihren Vorgesetzten über die Bedingungen zu sprechen, die eine für beide Seiten passende und geräuscharme Veränderung ermöglichen. Parallel entschloss sie sich, einen Anwalt für Arbeitsrecht zeitnah und vorsorglich über die Vorkommnisse in Kenntnis zu setzen.

„Glück ist, was einem erspart bleibt“, meinte einst Viktor Frankl. Schaut man sich die Reflexionen der Klientin hinsichtlich des Themas Aufstiegsambitionen, des Erhalts der Freundschaften oder auch ihres Möglichkeitsraums bei der Versorgung von Mutter und Sohn an, so kann die Klientin leicht erkennen, dass es ihr ‚trotz allem‘, was sie im Unternehmen im Wertekontext Gerechtigkeit an Verletzung erfahren hat, gelingen kann, im ersten Schritt eine Einstellungsmodulation vorzunehmen, die die Werte aus dem Purpur-Meme in den Vordergrund rückt. Persönliche eskalierende Auseinandersetzungen in ‚blau‘ kann sie sich ‚ersparen‘ und diese freie Lebensenergie auch dafür einsetzen, eine Weiterentwicklung ihrer Werte-Ebenen vorzunehmen.

2023 – neu: 2. Individuelle Messlatten in der Bewertung der Theoriegüte

Das Haltbarkeitsdatum von Theorien gehört für mich zu den spannendsten Aspekten in der Wissenschaftswelt. Jeder Mensch, der schon ein paar Jahrzehnte lebt und seine Wachheit in seinem, meist beruflichen, Tätigkeitsfeld bewahrt hat, wird sich an Theorien erinnern, die einst als Hype in jedem Meeting, in jeder Fachzeitschrift, in jeder Weiterbildung Erwähnung fanden, unglaubliche Summen für Qualifizierungen und Zertifizierungen verschlangen, ihre Kenntnis als Kriterium für persönliche Karrierewege galt  oder ganze Wertschöpfungsketten veränderten. Zumeist waren und sind diese Theorien mit dem Namen einzelner oder weniger Personen verbunden. In meinen ‚Gewerken‘ der Betriebswirtschaftslehre und der Psychologie reihten sich irgendwann nach Erich Gutenberg und Eugen Schmalenbach Wissenschaftler wie Peters und Waterman, Hammer und Champy, Nonaka und Takeuchi, Drucker und Malik und viele weitere Vor- und Nachdenker der mittel- oder unmittelbaren Unternehmensführung. Nicht weniger zahlreich begleiten mich bis heute die Protagonisten psychologischer ‚Schulen‘. Ob Freud, Adler, Jung, Berne, Bühler, Maslow, Rogers und – natürlich – Viktor Frankl, sie alle inspirierten. Von den starken ‚Seitenarmen‘, die aus der Soziologie und Systemtheorie, den Kunst- und  Geschichtstheorien und – natürlich – der Philosophie stammen, ganz zu schweigen.

Irgendwann knarrt das Regal eingedenk des Gewichts der vielen Bücher, es brummt der Schädel und man begreift, dass sich manch früherer Hype relativiert oder abgenutzt hat, manches sich schlau weiterentwickelt hat, aber nur weniges wirklich dauerhaft trägt und bis heute robust geblieben ist.

Dem Rat zu folgen: ‚so prüfe, was sich ewig bindet‘ ist nicht wirklich voraussetzungslos. Welche sind die individuellen Messlatten, über die eine Theorie springen muss, um als robust zu gelten und für das eigene [Arbeits-]Leben eine Grundlage zu bieten? Für mich sind es drei Messlatten.

Die erste adressiert die Frage: Worüber hat sich der Wissenschaftler geärgert [was war ihm arg], so dass ihn dieser Ärger dazu aufrief, sich ans erforschende Werk zu machen? Wenn mich die sich aus dem Ärger ergebende Forschungsfrage ebenso reizt, dann freue ich mich darüber, mitzudenken und bei eigener Kompetenz auch ein Mitentwickler zu sein [allzuoft bescheide ich mich jedoch aus Mangel an Primärkompetenz mit einer Zuschauerrolle, wenn es beispielsweise um die Fragen geht, die sich die Physiker im CERN, die F&E Teams in der pharmazeutischen Industrie oder die Philosophen im Kontext ethischer Fragen im Umgang mit der KI stellen].

Die zweite schaut auf das Menschenbild, das der Theorie ihr Fundament verleiht. In vielen Theorien und ihren Operationalisierungen bleibt der anthropologische Hintergrund völlig ungeklärt, in anderen zeigt sich rasch ein Reduktionismus im Sinne eines ‚der Mensch ist nichts anderes als …‘. Für mich ist hier Vorsicht geboten, insbesondere dann, wenn eben dieser Reduktionismus – so sehr er sich für eine Forschung im Kontext begrenzter Ressourcen auch anbieten mag –  nicht explizit gemacht wird, sondern im Gegenteil aus ihm heraus ein subtiler Wahrheitsanspruch über die zuvor ‚reduzierte‘ Forschungsfrage hinaus abgeleitet wird. Eine robuste Theorie stellt in meinem Verständnis hingegen dann ein System wissenschaftlich begründeter Aussagen zur Erklärung bestimmter Tatsachen oder Phänomene dar, wenn darauf verzichtet wird, sie implizit bereits als ‚allumfassend‘ vorzustellen.

Und als dritte Messlatte ist für mich von Interesse, in welcher Weise aus der Theorie heraus für die heutigen Fragen der Menschheit handlungsorientierte Antworten gegeben werden oder abgeleitet werden können. Was hat die Theorie für den Lebensvollzug konkret mitzuteilen? Kann sie uns Menschen logisch, wie ethisch und ästhetisch voranbringen? Nachdem ich mir diese drei Messlatten vorgelegt und sie als Rahmen um die Sinntheorie von Viktor Frankl gezogen habe, fühlt es sich für mich stimmig an, diese als robust zu bezeichnen und sie in meiner eigenen Lebensführung und im Kontext meiner Arbeitsleistungen als Kompass einzusetzen. Hier in der KrisenPraxis steht nun für mich an, in ähnlicher Weise auf die Integrale Theorie von Ken Wilber zu schauen.

„Die Zeit verfließt; aber das Geschehen gerinnt zur Geschichte. Nichts Geschehenes lässt sich ungeschehen machen – nichts Geschaffenes lässt sich aus der Welt schaffen. In der Vergangenheit ist nichts unwiederbringlich verloren; im Vergangensein ist alles unverlierbar geborgen.“

Viktor E. Frankl

Schlussgedanken eines Logotherapeuten und sinnorientiert arbeitenden Coachs

Irgendwie war Sinn ja schon immer ein Thema, aber seit der in den Topmanagement-Etagen bekannte Berater Fredmund Malik von der Universität St.Gallen den Unternehmerinnen und Unternehmern zurief, dass Frankl den aus seiner Sicht wichtigsten Beitrag zur Diskussion um die Motivation des Menschen geleistet habe, nahm Sinn auch dort Fahrt auf. Leider jedoch oft genug falsch verstanden oder interpretiert.

Natürlich muss erwähnt werden, dass sich im Kontext der Frage, was zu einem gelingenden Leben eines Menschen beiträgt, ganze Heerscharen von Autoren geäußert haben. Alle haben mitgeholfen, Sinn durch die Verknüpfung mit anderen Themenfeldern wie beispielsweise Gesundheit, Persönlichkeitsentwicklung, Führung, Alter, Glaube, Krise oder Krankheit zu einem ‚big point‘ zu machen. Naheliegend, dass diese Entwicklung auch die Wissenschaft auf den Plan rief.

Aus der ‚empirischen Sinnforschung‘, deren Ziel in der Regel darin besteht, fruchtbare Ansätze für die psychotherapeutische, psychiatrische und psychoedukative Arbeit zu liefern, finden sich heute eine Fülle von Studien, die die Bedeutung des Sinns für das Wohlergehen, die Lebensgestaltung, die Zufriedenheit oder das Glück hervorheben oder auf Wege zur Integration von Sinn in therapeutische, pädagogische oder dialogische Prozesse hinweisen.

Wer sich tiefergehend mit diesen Ansätzen befasst, dem kann auffallen, dass die Person häufig übersehen oder unerwähnt bleibt, die Sinn nicht lediglich als eine etwas erklärende Variable menschlichen Daseins diskutierte, sondern ihn vielmehr als das Zentrum der Wesenhaftigkeit des Menschen hervorhob: Viktor Frankl.

Jeder Mensch hat stets einen konkreten, individuellen Lebenssinn

Wie geht das zusammen? Frankl, dessen ‚Trotzdem ja zum Leben sagen‘ [‚Man‘s search for meaning‘] bis heute bereits eine millionenfache Leserschaft fand und Frankl, dessen Erbe die Wissenschaft so zaghaft aufgreift – irgendetwas Spannendes scheint sich zwischen diesen beiden Welten abzuspielen. Vielleicht sind es Irrtümer?

Der Irrtum vielleicht, dass unter sinnvollen Tätigkeiten oder Handlungen reflexartig etwas Altruistisches, Karitatives, Ästhetisches, Pflegendes, Lehrendes, Kulturelles oder Empathisches verstanden wird? Verstärkt vielleicht noch um die Annahme, dass solche Tätigkeiten dann als Sinn in Erwägung gezogen werden, wenn andere zum Beispiel durch Krankheit oder Krise nicht mehr aufrechterhalten werden können?

Oder der Irrtum, dass man sich Sinn machen könne? Dieser Irrtum hält sich hartnäckig und muss aufrechterhalten werden, will man das, was man Sinn nennt, empirisch messen. Geht man davon aus, dass sich Menschen einzig mit Zielen, selbstgesetzten Aufgaben, Interessen, Eigenaufträgen oder Selbstverpflichtungen ihr Leben sinnerfüllt gestalten, dann freilich lässt sich messen, auf Basis welcher psychophysischen Verfassung sie dies tun.

Oder der Irrtum, Sinn sei gleichzusetzen mit kognitiver Bedeutungszuweisung, emotionaler Bewertung oder gar mit Zweck. Dass uns bereits Buchtitel den von Frankl angeregten Zugang zum Sinn erschweren, zeigt bereits der Begriff ‚meaning‘ im oben bereits genannten Bestseller. Übersetzt man ihn mit ‚Bedeutung‘, so kann er dann, wenn man ihn mit ‚ich messe etwas Bedeutung bei, ich verleihe etwas Bedeutung‘ mentalisiert, als aktiver kognitiver Prozess verstanden werden. So interpretiert, macht sich der Denkende seinen Sinn. Andersherum jedoch wird erst der sinntheoretische Schuh daraus: Es gibt jederzeit in der Welt eines Menschen, in seinem Möglichkeitsraum, ein verfügbares ‚Bedeutendes‘ – einen Sinn. Ihn gilt es zu suchen, zu finden und im Moment des Gefundenwerdens erkennt die Person die Bedeutung, die das Sinnvolle für sie hat.

Diese Anmerkungen sollen zu erkennen geben, dass Viktor Frankl mit der von ihm vorgestellten ältesten und in ihrer Ausformulierung einzigen Theorie des Sinns, nicht nur die phänomenologische Perspektive eines praktizierenden Arztes, Psychiaters und Psychotherapeuten einnimmt, sondern diese auch in einen umfassenden philosophischen Begründungszusammenhang verweist. Mit heutiger ausdifferenzierter wissenschaftlicher Sichtweise mag es nahezu als unmöglich erscheinen, sowohl eine angewandte Philosophie als auch eine angewandte Psychologie zu vertreten und, damit nicht genug, beide mit einer theoretischen Basis und einem ausformulierten Menschenbild quasi aus einer Hand zu einem ganzheitlichen Brückenschlag zwischen Theorie und Praxis zu führen.

Ob Frankl dieses Gesamtkunstwerk gelang, entscheidet sich letztlich immer im Auge des Betrachters und dessen Bereitschaft, sich sein Bild vor dem Hintergrund eines Mannes zu machen, der sich zuallererst um die Pflege der Seele von Menschen in Krisen einsetzte und dabei erkannte, dass bei dieser Arbeit sich jedwede Reduktion des Menschen verbietet.

Frankls philosophisch-argumentatives Vorgehen ruht in der Tradition phänomenologischen und existenzphilosophischen Gedankenguts. Das allein reicht bisweilen bereits hartgesottenen Konstruktivisten oder Anhängern der Idee eines von einem freien Willen abgekoppelten Menschen aufgrund der postulierten neurobiologischen Vormachtstellung des Gehirns, um sich eines Diskurses mit Frankl zu entsagen.

Dem gegenüber könnte man nun die zahlreichen Wirkungsbelege der auf Frankls Theorie aufbauenden sinnzentrierten Psychotherapie heranziehen, um deren gegebenen Stellenwert in die Waagschale zu werfen. Wer sich für diesen Kontext interessiert, dem sei dieses Übersichtswerk empfohlen.

Viktor Frankl war Professor für Psychiatrie und mehr noch, ein Wissenschaftler und Praktiker im Grenzgebiet zwischen Psychiatrie, Philosophie und Psychotherapie. Worum es der Psychologie inhaltlich geht, haben die Seelenkundler Platon, Aristoteles, deutlich später dann Avicenna und andere in ihren Schriften zum Ausdruck gebracht. Aber als wissenschaftliche Disziplin schauen wir doch kaum mehr als in eine 120jährige Geschichte. Sigmund Freud fällt jedem ein, weniger bekannt sind da schon die Namen der Begründer der experimentellen Psychologie, Wilhelm Wundt in Deutschland und William James in den USA. Eine der Kernfragen der Psychologie und der Psychotherapie war und ist: Was treibt den Menschen an? Und im Kontext der ‚psychotherapía‘, der Pflege der Seele: Was treibt den Menschen an, dessen Dasein brüchig geworden ist?

Was ist das Grundstreben des Menschen? Diese Frage ist so schwer zu beantworten, dass sich über sie sogar drei sogenannte Wiener Schulen der Psychotherapie entwickelten. Die erste Schule, die Psychoanalyse, sieht den Menschen als nach Lust strebend an. Die zweite, die Individualpsychologie, sieht ihn als nach Macht strebendes Wesen und die dritte, die Existenzanalyse mit der auf ihr operativ fußenden Logotherapie, stellt das nach Sinn strebende Wesen ihrem Menschenbild voran.

Wenn die Psychologie heute beschreibt, wohin es den Menschen zieht, was er will, dann beschreibt sie ihn nicht nur deskriptiv, sondern sie schreibt ihm in gewisser Hinsicht immer auch etwas vor. Präskriptiv beschreibt sie, wie er leben soll, so dass sein Leben gelingt. Dies geht sogar zuweilen soweit, dass sich in den Träumen des Patienten dessen momentane Therapiesituation widerspiegelt. So träumen Patienten, die sich in einer jungianisch geprägten Therapie befinden, phantasievoller und bunter als Patienten in den anderen Therapierichtungen – dies verwundert nicht, ist diese Richtung mit ihrer Arbeit rund um Archetypen und Mythen doch ein Wesensmerkmal dieser Therapie.

Und schaut man in die Peripherie, auf den wachsenden Berg der Lebenshilfe-Bücher, die vorgeben wollen, was der Mensch zu tun hat, damit es ihm gut gehen kann, dann sehen wir Masterpläne, Handlungstipps, Methoden der Selbstreflexion und Einladungen zu Trainings aller Art. Alle gemeinsam bedienen sie einen Wunsch nach schneller Hilfe, Ordnung im Leben und Expertenmeinung.

Jedoch, die Grundstrebung des Menschen herauszuarbeiten, ist nicht gerade ein anspruchsloses methodisches Problem. Der Idee, das, was einen Menschen in Motivation versetzt, theoretisch zu fassen, liegt per se ein Menschenbild zugrunde. Weder die Erziehung, die Pädagogik, die Menschenführung, die Seelsorge, die Therapie, das Coaching und andere Arbeitsfelder, in denen Menschen mit Menschen arbeiten, kommen ohne Menschenbild aus. Menschenbilder sagen etwas darüber aus, wie der Mensch interagiert, wofür er zwei freie Hände hat und darüber, dass es eine grundlegende Beziehung zwischen ihm und Welt gibt, durch die das, was der Mensch in seinem Dasein möchte auch zurückwirkt in die Welt.

Das Problem der jungen Wissenschaft Psychologie besteht nun darin, dass die meisten ihrer prominenten Vertreter einer Versuchung unterliegen, der irgendwann vielleicht jeder in seinem Fach einmal unterliegt. Der Versuchung, einen Teilbefund zum Gesamtbefund zu erheben. So war es im Kontext der Freud’schen Lehre vorstellbar, dass einfache Algorithmen wie zum Beispiel der, dass der Mensch luststrebig ist und das Realitätsprinzip diesem Streben einen Strich durch die Rechnung macht, übertragen werden konnte auf alle Bereiche der Menschheitsgeschichte [die Aufsätze Freuds dazu sind beredtes Beispiel für diese Algorithmuslust]. Da jeglichem menschlichen Wollen ein psychischer Prozess zugrunde liegt, kann jedes durch Wollen Entstandene psychoanalysiert werden – im Kontext der Psychoanalyse eben dahingehend, in welchem Maße die Luststrebigkeit, der Einfluss der Libido, den Wollensprozess steuerte.

Wird nun der Algorithmus zum Prinzip erhoben, dann ist der Mensch nicht bloß luststrebig, sondern er ist es primär, er ist nichts anderes als das. Diese prinzipiellen Algorithmen finden sich in allen Schulen, die den Menschen letztlich reduzieren auf sich selbst. So finden wir einen solchen auch in der Individualpsychologie, in der Jung’schen analytischen Psychologie und auch in der Verhaltenstherapie, die dem Algorithmus folgt, individuelles Handeln käme dadurch zustande, dass es oft genug belohnt und dadurch verstärkt wurde. Der Mensch sei daher nichts anderes als ein Wesen, das durch seine Umwelt geprägt wird und nichts anderes als das Resultat seiner Lerngeschichte.

Ein biologistischer Ansatz sieht den Menschen motiviert durch die endorphinösen Belohnungsprozesse der Amygdala. Der Mensch tut so letztlich das, was ihm mittels angenehm empfundener Stimuli von seinem Gehirn vorgegeben wird. Breite neurowissenschaftliche Diskussionen können so am Ende streng vereinfacht auf den Satz verkürzt werden: Der Mensch ist nichts anderes als sein neuronales Substrat.

Alle diese Perspektiven beschreiben etwas am Menschen, aber sie beschreiben eben auch den Menschen als Etwas. Als ein Etwas, das durch die Libido gesteuert wird oder ein Etwas, das bestrebt ist, ein empfundenes Minderwertigkeitsempfinden auszugleichen mit einer ihm angeborenen Suche nach Geltung und Macht. Oder als ein Etwas, das nach Anerkennung strebt und dafür ein Verhalten erlernt, um den Erwartungen seines Umfeldes zu entsprechen. Kommt es zu den erhofften Belohnungen, verankert sich die Lernerfahrung als innere Stimme eines Eltern-Ichs, die dem Etwas vorgaukelt, das Beibehalten des Verhaltens würde auch weitere Anerkennung sichern.

Diese und viele weitere Denkschulen, die das Bild vom Menschen in den Jahren seit Freud stark beeinflusst haben, führen dazu, dass das Subjekt an die Stelle des Objekts gesetzt wird, dass darum mehr in den Fokus rückt, wie es dem Menschen psychisch geht [Zustand] als um die Frage, worum [Gegenstand] es ihm in seinem Leben geht. Der Philosoph Max Scheler unterscheidet an dieser Stelle zuständliche und gegenständliche Gefühle. Zuständliche Gefühle sind vollständig, wenn man sie erlebt. Aggression ist ein solches in sich vollständiges Gefühl. Hass jedoch ist ein gegenständliches Gefühl, es bedingt ein Etwas oder ein Jemand, auf das er gerichtet ist. Freude ist ein vollständiges, zuständliches Gefühl, Dankbarkeit bedingt wiederum einen Gegenstand, also zum Beispiel gegenüber einer Person, die einen Grund dafür bot, in einer Situation Glück zu erleben. Auch zwischen Trauer [einem gegenständlichen Gefühl, das einen Verlust eines Wertes zum Ausdruck bringt], Traurigkeit [als schnell aufkommendes und ebenso schnell verschwindendes, zuständliches Gefühl] und Depression [anhaltende negative Grundstimmung] verwischen die sprachlichen Grenzen immer wieder und machen die Exploration dessen, was in Therapie oder Coaching zur Bearbeitung ansteht nicht gerade leichter.

In der Schule fragt die Lehrerin, was ein Trauerfall ist. Hans: „Wenn ich mein Handy verliere!“ „Nein“ sagt die Lehrerin, „das nennt man einen Verlust!“ Franz: „Wenn ein Loch in unserm Dach ist, und es hereinregnet!“ „Nein“ sagt die Lehrerin wieder, „das nennt man einen Schaden!“ Chantal: „Wenn unser Direktor sterben würde!“ „Richtig“ sagt die Lehrerin, „das wäre ein Trauerfall, aber kein Schaden und kein Verlust!“

In einer holländischen Forschungsreihe hat sich gezeigt, dass zum Beispiel in Bewerbungssituationen ein gewisses Selbstwertgefühl vorteilhaft ist und, wie wohlbekannt, unterstützen viele Ratgeber und Coachs ihre Klienten eben darin, sich zum Beispiel mit positiven Affirmationen, sich selbst gegenüber freundlichen Ritualen und Sätzen usw. ein solch positives Selbstwertgefühl einzureden.

Im genannten Forschungsprojekt wurden nun die Probanden gebeten, sich zehn Minuten lang alle erdenklichen positiven Eigenschaften zuzuschreiben. Und in der Tat: Zwanzig Minuten nach dieser Übung konnte ein deutlich stärkeres Selbstwertgefühl nachgewiesen werden, um jedoch bereits wenige Minuten später abrupt nachzulassen und sogar unter das vor der Übung gemessene Level zu fallen. Der Grund für das Phänomen wurde schnell gefunden. In der ersten Phase setzen Trancezustände ein, die das positive Gefühl bewirken und in der zweiten Phase schaltet sich förmlich der Rest des Menschen ein, indem das quasi aufgeladene Selbstbild verglichen wird mit dem eigentlichen. Die hierbei auftretende Diskrepanz verunsichert, mit der Folge der Abwertung der eigenen Person.

Was man beim Einsatz von Drogen [Auslöser zuständlicher Gefühle] erhält, ist eine Belohnung als ob – nur, dass es das ob nicht gibt. Die Ausrichtung auf das Zuständliche, die sich im Kern als offensichtlich hedonistische Lebenshaltung erweist, findet sich oft bei Menschen mit neurotischen Persönlichkeitsakzentuierungen. Wenn es letztlich für solche Menschen nur um das Zuständliche geht, um das, wie es einem selbst geht, und wenn gleichermaßen das Objekt aus den Augen verloren wird, dann wird der Mensch abhängig von seinen volatilen Gefühlen. Hieraus lässt sich schließen: ein Ich, das sich in bloße Abhängigkeit von Empfindungen und den von ihnen ausgehenden Gefühlen ergibt, wähnt sich frei, macht sich jedoch abhängig davon, wie andere Menschen auf es einwirken und von inneren Zuständen, gegen die dann zum Beispiel mit Süchten aller Art versucht wird, gegenzusteuern.

Wenn nun ein Mensch sich abhängig macht von seinen egozentrierten, zuständlichen Gefühlen, dann wird nachvollziehbar, warum er so oft danach strebt, dass es ihm gut geht – also zum Beispiel durch Glück, Selbstwert, Lachen, Erfolg, Zufriedenheit, Glaube, Liebe, Hoffnung, Entspannung, Freude. Nur, hier stellt sich die Frage: Kann dies auf direktem Weg intendiert werden? Die Antwort ist so einfach, aber doch für viele Menschen so schwer zu akzeptieren: Alles, was den Menschen seelisch bereichert, lässt sich nicht direkt anstreben – vielmehr: es braucht einen guten Grund, von dem es getragen wird.

‚Je mehr der Mensch nach Glück jagt, umso mehr verjagt er es auch schon‘, wusste Frankl. Wäre es nicht so und damit eine einfache Sache mit dem Glück – eine Disziplin wie die der Psychotherapie und womöglich auch die des Coachings wäre obsolet.

Ein guter Grund wird in der Sinnlehre Frankls auch Sinnobjekt genannt. Menschen, die sich zumeist auf die Verbesserung ihrer zuständlichen Gefühle ausrichten, vermögen oftmals nicht zu erkennen, was um sie herum konkret auf ihre Handlungen förmlich wartet. Anstatt durch ihr Handeln etwas in die Welt zu schaffen, was in der Folge etwas bewirkt, das ihnen gut tut, schaffen sie letztlich nur etwas aus der Welt, nämlich ihr Problem, sich mit dem befassen zu müssen, wofür es an sich gut wäre, sich einzusetzen. Dabei geht es nicht darum, dass ein Mensch sich überfordert. Vielmehr soll der Mensch lernen, seine beliebten Abkürzungen zu erkennen und in Frage zu stellen. Abkürzungen, zum Beispiel in Form von Vorstellungen, Vorurteilen oder inneren Wahrscheinlichkeitsrechnungen darüber, was man wohl in einer Situation erwarten wird, obwohl man selbst über keinerlei Ersterfahrung in diesem Kontext verfügt. Oder die Abkürzung über Glaubensannahmen, warum man wohl aus diesen oder jenen Gründen nicht geeignet sei, wenngleich man bislang keinerlei Erprobung vorgenommen hat. Die im Coaching vermutlich am häufigsten gehörte Abkürzung dürfte das ‚ja, aber‘ sein. Kurzfristig mag ein Mensch sich sogar gut fühlen, wenn sein ‚ja, aber…‘ fruchtet.

Hört der Klient letztlich auf seine innere Stimme, die ihm sagt, dass es trotz der psychischen ‚ja, aber‘-Abwehr etwas gibt, das ‚wenn nicht von mir, von wem denn dann‘ in die Welt geschafft gehört, dann wirkt dies dem Empfinden von Sinnverlust entgegen und verweist auch auf ein neues Gefühl. Aus einem ‚ich fühle mich gut‘ wird ein ‚ich fühle mich gut, um…‘. Und Frankl bringt es auf den Punkt, wenn er sagt: „Das Bewusstsein, einer Aufgabe zu dienen, hat eine lebensverlängernde und krankheitsverhütende Wirkung“.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein erfreuendes, gesundes und nach vorne gerichtetes Neues Jahr.