Kategorie-Archiv: Ken Wilber

2023 – neu: 6. Theme + Scheme = Meme

Es ist an der Zeit, die Theorie des Integralen Bewusstseins in ihren wesentlichen Facetten zu beschreiben. Das Material, das sich hierzu im Web und in der Literatur findet, ist derart umfangreich, dass die Suche nach einem passenden individuellen Zugang ein wenig anmutet wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Mir persönlich hat diese Video-Zusammenstellung einen sehr guten Überblick ermöglicht. Gerne empfehle ich sie als tiefergehenden Theorieeinstieg weiter, hier daher nur das, was ich für meinen späteren Brückenschlag zwischen Wilber und Frankl benötige.

Die Integrale Theorie von Ken Wilber ist eine umfassende und holistische Theorie, die versucht, alle Aspekte des menschlichen Lebens und der Realität zu integrieren. Wilber argumentiert, dass es vier grundlegende Perspektiven [vier Quadranten] gibt, aus denen ‚Welt‘ betrachtet werden kann: die innere und äußere Perspektive des Individuums sowie die kollektive innere und äußere Perspektive der Gesellschaft.

  • Die Innere Perspektive des Individuums (Innenwelt der Person), adressiert die Werte, Haltungen, Einstellungen, Gefühle, Gedanken, Wahrnehmungen, Empfindungen, Motive einer Person – letztlich ihr ‚Selbstkonzept‘.
  • Die Äußere Perspektive des Individuums (Innenwelt der Person ins Außen übertragen) nimmt Wissen, Fähigkeiten, Verhaltens- und Handlungsmuster, verbale und nonverbale Kommunikationsformen, den Lebens-/Erziehungs-/Führungsstil usw. einer Person in Augenschein.
  • Die Innere Perspektive des Kollektivs (konkrete Außenwelt als Summe aller Innenwelten und ihrer Vernetzungen) fokussiert unter anderem auf den Umgang miteinander, den kulturellen Hintergrund, Sprache, geteilte Werte.
  • Die Äußere Perspektive des Kollektivs (abstrakte Außenwelt) betrachtet unter anderem die Strukturen im sozialen System, Technologien, Produkte und Dienstleistungen, Formen sozialer Beziehungen, Prozesse, Gesetze.

In jedem dieser vier Quadranten finden sich unterschiedliche, sogenannte Entwicklungslinien [siehe dazu die oben empfohlene Videoreihe], deren Auswahl kontextuell vorgenommen wird. Durch verschiedene Wissenschaftler wurden unter anderem erforscht: die kognitive, die emotionale, die ethisch-moralische, die ästhetische, die zwischenmenschliche, die spirituelle Entwicklungslinie und einige weitere mehr. Pragmatisch verweisen Entwicklungslinien auch auf Rollen, die Menschen zum Beispiel beruflich einnehmen. Erst kommt der Schüler, der sich für ein Fach interessiert, dann ein Lehrling, dann ein Geselle, dann der Meister usw. – mit jeder Rollenentwicklung hat sich eine Person in aller Regel auf verschiedenen Linien weiterentwickelt. 

Oder: Begleitet ein Therapeut zum Beispiel einen Klienten, der einen Sterbehilfewunsch äußert, indem er mit diesem Gespräche über bestehende Werteverwirklichungsmöglichkeiten führt, so würden diese Gespräche den Quadranten ‚innere Perspektive des Individuums‚ adressieren. Würde der Klient nach diesem Gesprächen seine Einstellung zum Thema Sterbehilfe überdenken, weil er einen von ihm bislang nicht wahrgenommenen Sinnimpuls erfühlt hat, so birgt eine diesem Impuls folgende Einstellungsmodulation in seinem Sterbehilfewunsch das Potenzial für ein neues Niveau auf der Entwicklungslinie ‚Wertebewusstheit‘.

Der Therapeut könnte zudem auch die ‚Äußere Perspektive des Individuums‘ betrachten und dabei einen Blick auf die Entwicklungslinie ‚kognitives Lernverhalten‘ des Klienten werfen. Sollte er dabei aus den Erzählungen und gegebenenfalls verfügbaren Dokumenten des Klienten herauslesen können, dass dieser sich in seinem Leben immer wieder intensiv und selbstmotiviert mit komplexen Sachverhalten auseinandergesetzt hat, so könnte dies ein Hinweis dafür sein, dass das vorgetragene Sterbehilfeanliegen auf einen autonomen, rational geprägten Lebensstil verweist und zum Beispiel nicht mehr ein Punkt auf der Linie ist, wo ein Mensch aus einem eher unreflektierten negativen Affekt heraus seinem Leben ein Ende bereiten will.

Würde der Therapeut nun nicht versäumen, auch die ‚Innere Perspektive des Kollektivs‘, so wäre ein Aspekt über den er mit dem Klienten spräche vielleicht der Reifegrad des gesellschaftlichen Umfeldes, in dem der Klient lebt. Hier wäre womöglich die ‚moralische‘ Entwicklungslinie des Kollektivs und ihr Umgang mit individuellen existenziellen Themen wie Leid, Tod oder Abschied ein Aspekt. Gäbe der Klient zum Beispiel zu verstehen, dass sein Umfeld das Thema Sterbehilfe tabuisiert und ein offener Diskurs dort erschwert ist, ließe sich durch eine therapeutische Unterstützung, die auf eine Vergrößerung der sozialen Kontakte hinwirkt, eine bessere Kommunikation auf Augenhöhe erreichen.

Und letztlich könnte der Therapeut auch den Quadranten der ‚abstrakten Außenwelt‘ ansprechen. Hier könnte angeschaut werden, wie sich auf der Entwicklungslinie des ‚medizinischen Fortschritts‘, der dem Klienten vielleicht nicht hinreichend bewusst ist, eine neue Perspektive erschließen ließe.

Kontextbezogen führt ein ‚integraleres Denken‘ also stets zu einer ersten Vergrößerung der Komplexität durch Anschauung der Vielzahl relevanter Entwicklungslinien. Und für jede dieser Entwicklungslinien kann nun ein Gespräch über die Entwicklungsebene [der Wertekontext] vorgenommen werden. [Spätestens an dieser Stelle treten meist die Kritiker auf, die die Wilbersche Theorie bereits als zu abstrakt, komplex und anwendungsunfreundlich bewerten. Jedoch, bei Themenstellungen die in ihrer Folgenabschätzung als riskant, existenziell, ressourcengefährdend oder irreversibel gelten, bietet die Investition in eine Methode, die die ohnehin gegebene Komplexität adäquat abbildet, einen angemesseneren Zugang zur Bewältigung als zum Beispiel leichtgängige und viele Einflussfaktoren ausblendende Wenn-Dann-Logiken.]

Nun also erste Worte zu den Entwicklungsebenen: In seinen Schriften schlägt Ken Wilber oftmals eine Brücke zu  den Forschungsergebnissen des New Yorker Psychologieprofessors Clare W. Graves. Das nach ihm benannte Graves Value System ist eine Theorie der menschlichen Entwicklung. Sie beschreibt, wie Menschen im Laufe ihres Lebens verschiedene Denk- und Verhaltensmuster entwickeln und wie sich diese Muster im Kontext ihrer kulturellen und sozialen Umgebung verändern. Der zentrale Transporteur neuer Muster ist dabei die Kommunikation.

Werden Ideen, Gedan­ken und Infor­mations­muster durch Kommu­nika­tion verbreitet und reproduziert, so kann dies als kul­tu­rel­les Pendant zum bio­chemischen Gen aufgefasst werden. Zusammengefasst könnte man von kulturellen Strukturen oder von Schemata sprechen, die sich mittels Kommunikation re­pro­duzieren, mit der Umwelt in­ter­agie­ren und sich dieser anpassen. 

Graves argumentierte, dass sich die menschliche Entwicklung solcher Schemata je nach den auf das Individuum einwirkenden Themen dynamisch von einer Ebene zu einer neuen Ebene vollzieht. Jede neu entwickelte Ebene und der mit ihr verbundenen neuen spezifischen Art des Empfindens, Denkens, Fühlens und Handelns gründet letztlich auf einem erweiterten Werte-System. Ein Werte-System, das alle Werte davor entwickelter Ebenen einschließt und diese um die Werte ergänzt, die für den Umgang mit den Themen auf der aktuell entwickelten Ebene erforderlich sind.

Wird einem gegenwärtig individuell oder gesellschaftlich relevantem ‚Thema‘ ein adäquates ‚Schema‘ zur Seite gestellt, so nenne ich diese Kombination aus Thema und Schema nun ein ‚kontextstimmiges Meme‘ oder auch eine ‚passende Gegenwarts-Bewusstheit‘. Wird jedoch einem Thema ein für seine Bewältigung unpassendes Werte-System – ein unpassendes Meme – zur Seite gestellt, so bewirkt dies eine Eskalation in Form von Problemen, Konflikten, Hindernissen oder auch Krisen.

Arbeiten wir uns nun mit einer ersten Skizze an die von Graves destillierten Werte-Systeme heran:

Die ersten beiden Werte-Systeme, die von Graves identifiziert wurden, sind das Instinkt-System und das Tribal-System. Diese beiden Systeme sind stark von den physischen Bedürfnissen und den Anforderungen der Überlebenssicherung geprägt und betonen die Bedeutung von Sicherheit, Schutz und Zugehörigkeit.

Die nächsten drei Werte-Systeme sind das Autoritäts-System, das Leistungs-System und das Selbst-Verwirklichungs-System. Diese Systeme betonen jeweils die Bedeutung von Hierarchie, Erfolg und persönlichem Wachstum und Entfaltung.

Die bislang letzten drei Werte-Systeme, die von Graves beschrieben wurden, sind das Integrative-System, das Holistische-System und das Systemisch-Integrale-System. Diese Systeme betonen die Bedeutung von globaler Zusammenarbeit, umfassendem Verständnis und Integration aller Perspektiven.

Graves betonte, dass diese Werte-Systeme nicht hierarchisch angeordnet sind, sondern dass sie sich in einer dynamischen Wechselwirkung und Entwicklung [vergleiche dazu die Terminologie von Wilber: ‚Einbeziehen‘ und ‚Transzendieren‘] befinden. Individuen und Gesellschaften können sich von einem System zum anderen entwickeln, je nach den Anforderungen und Herausforderungen, denen sie begegnen.

2023 – neu: 5. Defizienz und die Kritik am Status Quo der Wilber’schen Theorie

Zahlreiche philosophische Denker wie Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Auguste Comte, Herbert Spencer oder der in den letzten Texten bereits genannte Jean Gebser haben Beiträge zur Erklärung gesellschaftlicher Wandlungs- und Entwicklungsprozesse geleistet. Der unter anderem von Gebser ins philosophische Feld geworfene Begriff der Defizienz postuliert dabei eine besondere gesamtmenschliche Fähigkeit. Sie besteht in meiner Anschauung darin, dass eine große Gruppe von Menschen [zum Beispiel die deutsche Gesellschaft] mit ihren zahllosen Einzelinteressen dennoch in der Lage ist, eine Fortschreibung des an seine Kapazitätsgrenzen geratene ‚Mehrheitsbewusstseins‘ als ‚Irrtum‘ anzuerkennen und in dessen Folge in die Bereitschaft zu investieren, ein den Anforderungen an die Zukunftsfähigkeit besseres gesamtmenschliches Bewusstsein schöpferisch herauszuformen.

Wann die Summe der kritischen Faktoren erreicht wird, die das Platzen einer Defizienzblase begünstigt, stellt natürlich das Forschungsinteresse jeder Einzelwissenschaft entlang der gesamtgesellschaftlichen Wissensentwicklung dar. Und nicht erst seit gestern wissen wir, dass das Platzen einer dieser Blasen Wechselwirkungen in alle anderen zeitigt. Platzt eine Blase, so ist das mit ihr unmittelbar verbundene System an seine Grenzen gekommen. Zuweilen und frühzeitig erkannt, kann eine solche Grenze entlastet werden, zuweilen aber platzt sie und hinterlässt chaotische Zustände. Die Grenzen des Wachstums, die Grenzen des Wissens, die Grenzen der Freiheit, die Grenzen der Verantwortung, die Grenzen der Werte, die Grenzen des Lebens oder – im Kontext dieser Beiträge rund um das Theoriegebäude von Ken Wilber – die Grenzen des Bewusstseins: An diesen und vielen weiteren Grenzen spielen sich Prozesse ab, in denen es letztlich für Wilber um die Kunst des Einbeziehens und Transzendierens geht.

Der einzelne Mensch, der sich betroffen fühlt von den herumfliegenden Fetzen einer oder mehrerer – womöglich bislang als stabil empfundenen – Facetten des eigenen Lebensmodells sieht sich zahllosen Fragen konfrontiert. Eingefärbt von der individuellen psychischen Verfassung fragen sich Menschen, ob und was sie eingedenk der neuen [Grenz-]Situation zu erdulden haben, ob und für was sich zu kämpfen lohnt oder ob es günstiger ist, das Lebensmodell partiell zu verabschieden, indem die Auseinandersetzung mit dem Neuen gemieden oder verdrängt wird.

Will man sich von diesen drei psychischen ‚Auswegen‘ das eigene Leben nicht alles vorschreiben lassen, so bieten sowohl Frankl als auch Wilber einen anderen Weg: Den Weg der Transzendenz. Einmal darin geübt, diesen – nur Menschen möglichen – Weg zu gehen, fällt es leichter anzuerkennen, dass jedes Platzen einer Bewusstseins-Defizienzblase mit Gewinnen und Verlusten einhergeht, der Glaube an ‚bessere‘ Zeiten also ebenso hinderlich ist wie der Glaube daran, dass früher alles besser war. Das, was sich an die Stelle dieser Glaubenssätze stellt, ist die jedem Menschen mögliche neue Balancierung von Freiheit und Verantwortung. War der Mensch vor dem Platzen der Blase frei, in seinem Leben Felder seiner Verantwortung zu bestimmen, so wird er mit dem Platzen der Blase verantwortlich, neue Felder seiner Freiheit zu entdecken. Gelingt ihm dieser Entwicklungssprung, so hat der Mensch eine Bewusstheit dafür bewiesen, dass ihm daran gelegen war, aus der Defizienz des Gewesesen und Gewordenen heraus in den Gewinn einer neuen räumlichen und zeitlichen Freiheit einzutreten.

Während es nun in der konkreten Anwendung des Gedankenguts von Viktor Frankl im Rahmen der Entwicklungsbegleitung von Menschen zahllose Belege dafür gibt, dass Menschen dieser Perspektivenwechsel gelingen kann, stellt sich die Frage, ob und wie die Integrale Theorie von Ken Wilber mit ihrer Grundidee des ‚Einbeziehens und Transzendierens‘ ihrerseits bereits auf robusten Beinen steht und Menschen Handlungsalternativen aufzeigt, die über die der individuellen psychischen Reaktionen auf das Platzen von Defizienzblasen hinausgehen. Dazu ein Blick in die jüngste Vergangenheit.

Als Wilber 1999 sein Opus magnum ‚Sex, Ecology, Spirituality‘ vorlegte und mit ihm zum Versuch einlud, ohne Rekurs auf eine ‚fertige Theorie‘ in einem weltoffenen Diskurs alle Erkenntnisse natur-, human- und geisteswissenschaftlicher Denkansätze mit all ihren prämodernen, modernen und postmodernen Weltsichten von Ost bis West und Nord bis Süd in ein zusammenhängendes Gesamtgebäude zu integrieren, war die Euphorie mancherorts überwältigend. Endlich traute sich jemand, dem ewigen Treiben nach mehr Wissen im allertiefsten Detail einen alternativen Zugang zur Welt zur Seite zu stellen. Und da neue Ideen meist nur dann Chance auf Gehör haben, wenn sie kommunikativ breit ausgerollt werden, fanden sich schnell Protagonisten, die die Weichen stellten, um eine kritische Masse zu erreichen  – und [sic!] mit dieser Masse auch Geld zu verdienen. Wer damals dieser Entwicklung folgte, konnte den Eindruck gewinnen, dass konventionelle Denkmuster immer stärker in Frage gestellt wurden und dies nicht nur auf der Basis von Entwicklungssprüngen in Einzelwissenschaften oder einzelnen Gesellschaftsbereichen. Es schien ein Ruck durch die Welt zu gehen.

Die seismische Welle erreichte auch mich. Auf Einladung nahm ich teil an der Konzeption der vom Bundesland Niederösterreich initiierten Internationalen Zukunftsakademie in Wien Ende der 1990er Jahre, ich besuchte verschiedene Lehrgänge im integralen Denken und studierte einiges an Literatur im Kontext der neuen Bewegung. Nach und nach – und bis heute – wurde Ken Wilber Raum in meinen Coachingausbildungen als auch im konkreten Coaching von Führungskräften gegeben – jedoch längst nicht in dem Umfang, der möglich gewesen wäre. Die Gründe meiner – bisherigen – Zurückhaltung will ich knapp umreißen und damit auch meine – weiterhin – kritische Position. Sie besteht im Kern darin, dass es in meiner Wahrnehmung den an sich aberwitzigen Prozess im Kreis der Integralen Community gibt, das, was unter ‚integralem Denken und Handeln‘ verstanden werden soll, mit einer ähnlichen Detailverliebtheit zu erforschen wie ebendiese als Ausgangskritik für die Theorie im Raum stand. Die Folge dieses ‚Energieflusses‘ ist bis heute für mich spürbar und ist mit der Formel ‚Erkenntnisgewinn statt Handlungsraumvergrößerung‘ beschrieben. Bis heute vermisse ich insbesondere – und ich hoffe, dies beruht nur auf meinen eigenen blinden Flecken – eine ‚integrale Lautstärke‘ von Anwendern, die über die Defizienzblasen im Kontext mächtiger globaler Erschütterungen sprechen. Verenge ich den Blick auf die Äußerungen derjenigen gesellschaftlichen Elite, die ich mit meinen Ressourcen verarbeiten kann, so fehlt mir jeglicher ausgesprochener Brückenschlag zwischen integraler Theorie und Themenbergen wie Klimawandel, Armutsbekämpfung, der Idee der Vereinigten Staaten von Europa, Bildungspolitik bis hin zu vermeintlich ‚unmittelbareren‘ Problemfeldern wie Fachkräftemangel, Verkehrsinfrastruktur, Sterbehilfe und vielem mehr. Da, wo hierzulande dieser Brückenschlag vielleicht am ehesten zu erwarten wäre, an den deutschen Hochschulen, findet sich der Diskurs über Ken Wilber überhaupt nicht [zumindest teilt er sich damit die ärgerliche curriculare Ignoranz, die auch dem Begründer der Dritten Wiener Schule für Psychotherapie, Viktor Frankl, permanent zuteil wird].

Es entsteht so die Frage, wann die spezielle Defizienz, die mir offenkundig der Kommunikation von Wilbers Theoriegebäude anhaftet, ihrerseits platzt und sich der Möglichkeitsraum für ihre konkrete Anwendung mit ihren Chancen für die Gesellschaftsentwicklung eröffnet. Weitergedacht stelle ich mir die Frage, wann die Suche nach den eine Anwendung ‚unmöglichmachenden Theorieaspekten‘ zugunsten eines vielleicht ‚nur‘ paretooptimalen Beginns der Theorie-Praxis-Transformation hintangestellt wird. Denn, soweit sind sich die Kritiker einig, unschön sind in Wilbers Denkarchitektur Allgemeinplätze, von ihm als Konsens hingeworfene persönliche Meinungen, eine zuweilen skurrile gurueske – vielleicht den US-amerikanischen Erwartungen an Entertainment entsprechende – Selbstdarstellung, die Nichtberücksichtigung von aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen oder auch Quellenverweise, die in unserem Kulturkreis das Prädikat ‚unwissenschaftlich‘ verdienen würden. Diese Mangellage jedoch als ausreichend für die Nichtbetrachtung des Meta-Werkes anzusehen, ist in einer Welt, in der die immer weiterführende Detailbetrachtung auch nicht stets und exklusiv das Mittel der Wahl ist, zumindest frivol.

Blendet man das Imperfekte in Wilbers Gedankengut aus, so lohnt doch allemal, seine Theorie mit konkreten gesellschaftspolitischen wie individuellen Problemstellungen in eine praktische Verknüpfung zu überführen. In meinem eigenen Themenfeld der ‚Individuellen Krisenprävention‘ und den dort erarbeiteten Unterstützungstools hat Wilber bereits seine Spuren hinterlassen. Beim Blick ins Web finden sich weitere, wenn auch nur wenige Anwendungsbeispiele, insbesondere im Kontext der Führungskräfteentwicklung, der Unternehmenskulturanalyse oder des Meetingmanagements. So recht konkret jedoch will der Wilbersche Funken noch nicht auf die Probleme des ‚Menschen-Alltags‘ überspringen. Anlass genug, dass ich im Verlauf der weiteren Beiträge Anregungen zu eben diesem Transfer vorstelle.

2023 – neu: 4. Zwei Facetten der Transzendenzfähigkeit

Transzendieren und Einbeziehen sind für Wilber die beiden Seiten der Medaille ‚Bewusstseinsentwicklung‘. Es braucht beides. Und beides vermögen Wesen mit Bewusstsein. Jedoch, es herrscht die Ansicht vor, dass sich Bewusstsein nicht kontinuierlich entwickelt, sondern sprunghaften, diskontinuierlichen Wandlungen unterliegt. Erst, sobald eine Bewusstseinsstruktur ‚defizient‘, erschöpft ist und sich destruktiv auszuwirken beginnt, gelangt eine andere, neue zum Durchbruch. Diesem Entwicklungsverständnis, das zum Beispiel vom Schweizer Bewusstseinsforscher Jean Gebser vertreten wurde, haftet ein reaktives Menschenbild an. Es muss erst etwas geschehen, was die Defizite der bisherigen Entwicklung offenlegt und sich in extremo zu einer existenziellen Krise [in meinem Verständnis eine destabilisierende, demotivierende und desintegrierende Situation, die einer Person den Zugang zu ihrer per se gegebenen Transzendenzfähigkeit blockiert] ausformt. Dann erst könne sich Bewusstseins-Entwicklung vollziehen.

Was aber meint nun ‚Bewusstsein‘? Gängig ist die Definition, dass es sich um die Gesamtmenge aller Sinnesempfindungen, Gedanken und Emotionen handelt, die einem Menschen im Kontext eines bestimmten Zeitraums bewusst sind und über die er aus der Erste-Person-Perspektive berichten kann. Es konnte mir bislang nicht einleuchten, warum diese ‚Gesamtmenge‘ erst defizient werden muss, damit eine Person ihr Bewusstsein weiterentwickelt und damit ihre Transzendenzfähigkeit ‚re-aktiviert‘. Ich will nicht in Frage stellen, dass wahrgenommene Entwicklungsdefizite einen Turbo zünden können, das Feld des Bewusstseins zu vergrößern. Ebenso wenig will ich aber bezweifeln, dass das gegenwärtige Bewusstsein eines Menschen stets eine Vorstellungskraft darüber bereithält, die die Transzendenzfähigkeit in einem künftigen Möglichkeitsraum adressiert. Wäre diese spezifisch menschliche Fähigkeit nicht gegeben, wären zahllose nicht-defizitbasierte, selbstgesteuerte Lernprozesse in ein bislang unbekanntes Wissensfeld hinein ebenso Unfug wie die Behauptung, man hätte auf etwas eine Vorfreude oder man hätte eine Vision einer Welt von morgen oder man hätte eine Krisenprävention betrieben im Sinne einer Verantwortungsübernahme, die über den Umgang mit der eigenen Person hinausreicht.

Defizienz als einzigen Ausgangspunkt von Bewusstseinsentwicklung zu fixieren wird daher meines Erachtens der Sache nicht gerecht. Sie kann ein Ausgangspunkt sein, ebenso aber auch ein Erste-Person-Perspektivenraum, der aus einem Überschuss an Transzendenzfähigkeit – an der Fähigkeit, sich in Liebe oder Hingabe auf eine Person [die man nicht selbst ist] oder eine Aufgabe [die nicht dem Eigenwohl dient] auszurichten – pro-aktiv in Bewusstseinsentwicklung mündet.

Meine Frage an Ken Wilber lautet daher: Kann dem Reduktionismus: ‚Der Mensch ist nichts anderes als ein sich erst durch eskalierende Bewusstseinsdefizite entwickelndes Wesen‘ ein Holismus: ‚Der Mensch ist ein Wesen, dessen proaktive Bewusstseinsentwicklung durch Selbstvergessenheit initiiert wird‘ gegenübergestellt werden?

Bevor ich auf die Antwortsuche gehe, will ich aber in Ergänzung zum ‚Prozess-Begriff‘ Bewusstsein noch den bereits bemühten ‚Moment-Begriff‘ Bewusstheit definieren. Ihn werden wir benötigen, um ‚Malus-Momente‘, in denen Bewusstseinsentwicklung aus einem Defizit heraus geschieht, von ‚Bonus-Momenten‘, verstanden als Bewusstseinsentwicklung aus Selbstvergessenheit [so man dies, ähnlich wie bei Frankl, auch in Wilbers Theorie finden sollte], differenzieren zu können.

Bewusstheit soll verstanden werden als psychische Disposition, die das unmittelbare Wahrnehmen dessen beschreibt, was einen Menschen in eigener Achtsamkeit im Hier und Jetzt bewegt und ihm aktuell durch Körperempfindungen, Sinneswahrnehmungen, Gefühle, Phantasien, Denkweise und Impulse gewahr wird [in der Achtsamkeitsmeditation nennt man dies auch ‚offenes Gewahrsein‘].

2023 – neu: 3. Transzendenz und Einbeziehung

Ken Wilbers Ärger würde ich nach meinem Verständnis metaphorisch so umschreiben: Die Menschheit weiß heutzutage viel über das linke hintere Bein einer Spinne, im letzten Detail, in der vermeintlich letzten Ausdifferenzierung. Dennoch setzt die Wissenschaft viel Energie ein, um auch noch das letzte Haar an diesem Bein, das letzte Folliken an diesem Haar usw. zu erforschen. Forschung heute wird so zu einer Disziplin, die wie ein Ringen um den richtigsten Blick ins tiefste Detail anmutet. Was aber auf der anderen Seite fehlt, ist Überblicksforschung. Und dieser Überblick geht auch beim Blick auf den Menschen leicht verloren – in der Frankl’schen Psychotherapie nennen wir dieses Phänomen Overdetermination. Damit ist gemeint, dass wir die Psyche des Menschen diagnostisch in so viele Einzelteile zerlegen und einer Untersuchung unterziehen können, dass der Blick auf die ganze Person mit der Fokussierung über die einzelnen Teile hinweg verloren geht. Sich den Blick auf Alles nicht dadurch zu verunmöglichen, weil man gefangen ist mit seinem Blick durch ein Schlüsselloch, würde ich als das Motto der von Wilber formulierten Integralen Theorie ansehen.

Der 1949 in Oklahoma City geborene Philosoph versucht daher, alle Forschungsbereiche in einem einzigen Modell des Weltverständnisses zu integrieren. Dabei folgt er der Idee, dass jedes Wissensgebiet mindestens einen Aspekt von ‚Wahrheit‘ enthält, es mithin ein förderliches Vorgehen sei, eine Versöhnung von Allem anzustreben, anstatt über Abwertungsprozesse zwischen den unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen Energievergeudung zu betreiben, die es der Menschheit erschwert, sich weiterzuentwickeln [wer aus dieser Perspektive auf aktuelle Reizthemen wie die Energiewende schaut, kann meines Erachtens leicht erkennen, wie Individualinteressen im Mikrokosmos oder das Lobbying von gebündelten Brancheninteressen eine solche konstruktive Versöhnung erschweren].

„Niemand ist schlau genug, um immer zu 100 % falsch zu liegen“, meint Wilber ironisch. Und so könnte es doch im Gegenteil schlau sein, sich auf das wirklich Schlaue, das Jeder und Jedes bereithält zu konzentrieren. Ein schlichtes Beispiel dazu: Auf einem Kongress für Logotherapie stellte einst der Osnabrücker Psychologe Julius Kuhl seine Persönlichkeits-Systeme-Interaktionen-Theorie vor. Nach wenigen Powerpoint-Folien sagte er: „Das war nun der Kern der Theorie aus einem Buch mit 700 Seiten. Sie müssen es sich eigentlich nicht mehr kaufen.“ Das Schlaueste hatte Kuhl vorgestellt. Nun, ich habe das Buch doch gekauft, nicht aber, um einen vielleicht in der ein oder anderen statistischen Berechnung des Professors gemachten Fehler ausfindig zu machen oder um mich über all die wichtigen Einzelschritte hin zum Schlauen kundig zu machen, sondern um die Anknüpfungsmöglichkeiten der von Kuhl beschriebenen Aspekte der psychischen Dimension mit den von Frankl dargelegten Aspekten der geistigen Dimension herauszuarbeiten. Die Verknüpfung des aus meiner Sicht ‚Schlauen‘ beider Perspektiven fand anschließend Einzug in eigenen Publikationen – ein winziger Schritt, der längst nicht die Vorstellung Wilbers adressiert, würde dieser doch die Schlauheitsverknüpfung deutlich weiter auslegen. Er würde wohl dazu ermuntern, bei einer gegebenen Forschungsfrage [bei mir die Frage, wie das Schlaue von Kuhl und Frankl im Kontext eines Modells individueller Krisenprävention genutzt werden kann] neben den Theorien der Psychologie auch die der Theologien, Soziologien, Ökonomien, Biologien, Philosophien … in eine Art ‚Theory of Everything‘ aufzunehmen.

Alles hängt mit allem zusammen. Will man diese Erkenntnis nicht als Binsenweisheit verstehen, sondern als Anruf ans Denken, so wird die Begrenztheit des eigenen kognitiven Möglichkeitsraums schnell wahrnehmbar. Wir leben in Ausschnitten von Welt und jeder Versuch, diesen Ausschnitt zu vergrößern, setzt die Bereitschaft voraus, die Aufmerksamkeit lange auf das Feld des Neuen zu lenken und sich zu hemmen, allzu schnell wieder in die Arme des Bekannten zurückzufallen. Die Erweiterung der Denkwelt bedingt eine Haltung der Weltoffenheit, und Offenheit erwartet einen gelasseneren Umgang mit Unsicherheit, Staunensbereitschaft, Reflexivität und einer entwickelten Intuition, die Spreu vom Weizen trennen zu können [Stichwort Fake News]. Offenheit führt also auch dazu, dass neue Theorien und deren Protagonisten Einfluss auf das eigene Leben nehmen dürfen. Das ist schon allerhand.

Meine eigene Offenheit den Wilberschen Gedanken gegenüber hat zu tun mit einem starken Lernmoment bei der Literatur seiner Theorie [zu zentralen Inhalten wird in den Folgebeiträgen mehr Auskunft gegeben]. Im Kern führte dieser Moment bei mir zu der Erkenntnis, dass jede Handlung und jede Entscheidung aus einer spezifischen Jetzt-Bewusstheit gespeist wird und dass Situationen dann zu Krisen eskalieren, wenn die betroffene Person für diese spezifische Situation nicht über die für sie angemessene Bewusstheit verfügt, diese auch nicht in angemessener Schnelligkeit entwickeln kann und letztlich mit ihrem unvollständigen Set an Bewusstheit versucht, dennoch der Lage Herr zu werden.

Eine Konsequenz dieses Gedankens ist nun die, dass ein Mensch, der von sich sagt, eine Krisensituation gemeistert zu haben, nicht in einer Krise gewesen sein kann, sondern [nicht abwertend gemeint ‚lediglich und immerhin‘] in der Lage war, eine komplex-komplizierte Problemstellung dank bereits vorhandener Ressourcen positiv zu wenden. Aus dieser Folgerung ergibt sich der nächste Gedanke, dass Menschen darin unterstützt werden sollten, Bewusstheiten für existenzielle Belastungssituationen präventiv zu entwickeln.

Zurück zu meinem Verständnis von Wilbers Integraler Theorie.

Wenn in allem, was in dieser Welt als Theorie gebildet wurde und wird, etwas Schlaues enthalten ist, dann unterscheiden sich Weiterentwicklungen dieser Theorien darin, den Grad an Unvollständigkeit im Sinne einer noch vorhandenen Unwissenheit oder Unverbundenheit des Bisherigen zu verringern. Alle Jetzt-Bewusstheit kann damit als erreichter Punkt auf einer nie endenden Achse der Bewusstseins-Entwicklung verstanden werden.

Als Beispiel dazu will ich einen Menschen anschauen, der sein Leben als brüchig ansieht, diesen Bruch mental wie emotional nicht zu schließen vermag und ihn mit dem Zustand ‚depressiv‘ etikettiert. Für einen solchen Menschen wäre es nun aus integraler Perspektive ein fundamentaler Denkfehler, würde er versuchen, diesen Zustand – in dem sich viel Schlaues verbirgt – ‚auslöschen‘ zu wollen [die Psyche hat eine Reihe von Taktiken auf Lager, einen solchen Löschvorgang zu initiieren. Selbstschuldzuweisung, Sucht oder auch Suizid sind nur einige davon]. Wagt hingegen die Person einen individuellen Evolutionssprung, so gelingt dieser eben nicht durch Auslöschung, sondern durch „Transzendieren und Einbeziehen“ [Wilber]. Jeder wirklich neue Punkt auf der Achse der Bewusstseinsentwicklung folgt diesem Prinzip, quasi von der einzelnen Zelle bis hin zum gesellschaftlichen System bis hin zum Kosmos. Jedes Weiterentwickelte hat Vorhergehendes einbezogen und es durch Transzendenz in eine neue Bewusstheit überführt, in etwas Wesentlicheres vervollständigt.

Anmerkung: Ein ‚wirklich neuer Punkt‘ entspricht in meinem Verständnis des Werks von Viktor Frankl einem Sinnimpuls. Einen solchen Impuls hält nach Frankl die Welt jedem Menschen zu jeder Zeit bereit – so er sich diese Welt ‚offen‘ hält. In der KrisenPraxis habe ich diesen Aspekt der Sinntheorie Frankls hinreichend beleuchtet, und es bleibt spannend, ob und in welcher Weise nun Ken Wilber diesen Gedanken in seiner Integralen Theorie aufgreift und seinerseits transzendiert.

2023 – neu: 2. Individuelle Messlatten in der Bewertung der Theoriegüte

Das Haltbarkeitsdatum von Theorien gehört für mich zu den spannendsten Aspekten in der Wissenschaftswelt. Jeder Mensch, der schon ein paar Jahrzehnte lebt und seine Wachheit in seinem, meist beruflichen, Tätigkeitsfeld bewahrt hat, wird sich an Theorien erinnern, die einst als Hype in jedem Meeting, in jeder Fachzeitschrift, in jeder Weiterbildung Erwähnung fanden, unglaubliche Summen für Qualifizierungen und Zertifizierungen verschlangen, ihre Kenntnis als Kriterium für persönliche Karrierewege galt  oder ganze Wertschöpfungsketten veränderten. Zumeist waren und sind diese Theorien mit dem Namen einzelner oder weniger Personen verbunden. In meinen ‚Gewerken‘ der Betriebswirtschaftslehre und der Psychologie reihten sich irgendwann nach Erich Gutenberg und Eugen Schmalenbach Wissenschaftler wie Peters und Waterman, Hammer und Champy, Nonaka und Takeuchi, Drucker und Malik und viele weitere Vor- und Nachdenker der mittel- oder unmittelbaren Unternehmensführung. Nicht weniger zahlreich begleiten mich bis heute die Protagonisten psychologischer ‚Schulen‘. Ob Freud, Adler, Jung, Berne, Bühler, Maslow, Rogers und – natürlich – Viktor Frankl, sie alle inspirierten. Von den starken ‚Seitenarmen‘, die aus der Soziologie und Systemtheorie, den Kunst- und  Geschichtstheorien und – natürlich – der Philosophie stammen, ganz zu schweigen.

Irgendwann knarrt das Regal eingedenk des Gewichts der vielen Bücher, es brummt der Schädel und man begreift, dass sich manch früherer Hype relativiert oder abgenutzt hat, manches sich schlau weiterentwickelt hat, aber nur weniges wirklich dauerhaft trägt und bis heute robust geblieben ist.

Dem Rat zu folgen: ‚so prüfe, was sich ewig bindet‘ ist nicht wirklich voraussetzungslos. Welche sind die individuellen Messlatten, über die eine Theorie springen muss, um als robust zu gelten und für das eigene [Arbeits-]Leben eine Grundlage zu bieten? Für mich sind es drei Messlatten.

Die erste adressiert die Frage: Worüber hat sich der Wissenschaftler geärgert [was war ihm arg], so dass ihn dieser Ärger dazu aufrief, sich ans erforschende Werk zu machen? Wenn mich die sich aus dem Ärger ergebende Forschungsfrage ebenso reizt, dann freue ich mich darüber, mitzudenken und bei eigener Kompetenz auch ein Mitentwickler zu sein [allzuoft bescheide ich mich jedoch aus Mangel an Primärkompetenz mit einer Zuschauerrolle, wenn es beispielsweise um die Fragen geht, die sich die Physiker im CERN, die F&E Teams in der pharmazeutischen Industrie oder die Philosophen im Kontext ethischer Fragen im Umgang mit der KI stellen].

Die zweite schaut auf das Menschenbild, das der Theorie ihr Fundament verleiht. In vielen Theorien und ihren Operationalisierungen bleibt der anthropologische Hintergrund völlig ungeklärt, in anderen zeigt sich rasch ein Reduktionismus im Sinne eines ‚der Mensch ist nichts anderes als …‘. Für mich ist hier Vorsicht geboten, insbesondere dann, wenn eben dieser Reduktionismus – so sehr er sich für eine Forschung im Kontext begrenzter Ressourcen auch anbieten mag –  nicht explizit gemacht wird, sondern im Gegenteil aus ihm heraus ein subtiler Wahrheitsanspruch über die zuvor ‚reduzierte‘ Forschungsfrage hinaus abgeleitet wird. Eine robuste Theorie stellt in meinem Verständnis hingegen dann ein System wissenschaftlich begründeter Aussagen zur Erklärung bestimmter Tatsachen oder Phänomene dar, wenn darauf verzichtet wird, sie implizit bereits als ‚allumfassend‘ vorzustellen.

Und als dritte Messlatte ist für mich von Interesse, in welcher Weise aus der Theorie heraus für die heutigen Fragen der Menschheit handlungsorientierte Antworten gegeben werden oder abgeleitet werden können. Was hat die Theorie für den Lebensvollzug konkret mitzuteilen? Kann sie uns Menschen logisch, wie ethisch und ästhetisch voranbringen? Nachdem ich mir diese drei Messlatten vorgelegt und sie als Rahmen um die Sinntheorie von Viktor Frankl gezogen habe, fühlt es sich für mich stimmig an, diese als robust zu bezeichnen und sie in meiner eigenen Lebensführung und im Kontext meiner Arbeitsleistungen als Kompass einzusetzen. Hier in der KrisenPraxis steht nun für mich an, in ähnlicher Weise auf die Integrale Theorie von Ken Wilber zu schauen.

2023 – neu: 1. Bewusstheitsentwicklung als Reifungskonzept und Krisenprävention

Im wissenschaftlichen Arbeiten steht in der Regel eine zentrale Forschungsfrage im Vordergrund. Auch in meiner eigenen Fokussierung als Therapeut und Krisentheoretiker gibt es eine solche Frage. Sie lautet: Müssen Menschen Krisen erleben, um zu reifen? In der Entwicklungspsychologie und Psychotherapie gibt es zahlreiche Autoren, die ein solches Erfordernis postulieren [in der KrisenPraxis wurde darüber von mir schon geschrieben]. Ich will nicht in Frage stellen, dass Krisensituationen mit ihren unterschiedlichen Bewährungsproben nach ihrem hoffentlich guten Ausklang Menschen dazu befähigen, mit künftigen extremen Belastungssituationen besser umgehen zu können. Aber ist es angemessen und human, entlang der heutigen Möglichkeiten der Persönlichkeitsentwicklung und Prävention immer noch der Ansicht zu sein, ‚der Mensch müsse immer nur einmal mehr aufstehen als er hingefallen ist‘? Meine knappe Antithese lautet: Nein, Krise muss nicht sein, um als Mensch reifen zu können.

Welche Alternative bietet sich für einen selbstgesteuerten Reifungsprozess an? Zwei Perspektiven folge ich, seit ich mir meine Forschungsfrage vor vielen Jahren vorlegte. Die erste gründet im Menschenbild des österreichischen Arztes und Begründer der Logotherapie, Viktor E. Frankl.

Frankl sieht den Menschen an als sinnstrebiges Wesen. In zahlreichen Texten in der KrisenPraxis habe ich Frankls Werk im Krisenkontext reflektiert und vorgestellt. Stark zusammengefasst bringt Frankl zum Ausdruck, dass ein Mensch, dessen Leben durchdrungen ist von einem Sinn, auch existenziell schwierigsten Situationen mit ihren Belastungen auf psychischer und-oder körperlicher Ebene trotzen kann. Sinnfindung ist damit gleichsam Krisenprävention und die Prozesse der Sinnfindung stellen für meine konkrete Entwicklungsarbeit mit Menschen die eigentlichen und humanen Reifungsschritte von Menschen dar. Die Stichworte in diesem Kontext lauten Selbsttranszendenz, Trotzmacht des Geistes, Weltoffenheit, Freiheit und Verantwortung.

Die zweite Perspektive, die aus meiner Sicht in der Lage ist, das Werk von Viktor Frankl in eine spannende Erweiterung zu führen, ist die Integrale Theorie des amerikanischen Philosophen Ken Wilber. In seiner holistischen Theorie argumentiert er, dass es vier grundlegende menschliche Betrachtungen auf die Welt gibt: Die innere und äußere Perspektive des Individuums sowie die kollektive innere und äußere Perspektive der Gesellschaft. Was dies bedeutet, soll unter anderem Thema von Folgebeiträgen werden.

Innerhalb dieser vier Perspektivenfelder können nun nach Wilber verschiedene Entwicklungslinien [beispielsweise eine kognitive, eine emotionale, eine ästhetische Linie und zahlreiche mehr] und auf diesen wiederum verschiedene Bewusstheitsebenen ausgemacht werden, die ein Individuum oder eine Gesellschaft durchlaufen kann. Diese Ebenen können von einer primitiven Instinkt- und Impulssteuerung bis zu einer höchsten Stufe der integralen Bewusstheit reichen. Jede dieser Bewusstheiten hat ihre Berechtigung und ihren situativen Auftrag. Jede ist wichtig und keine besser oder schlechter als eine andere. Jedoch, eine Bewusstheit, die in einer Situation zum Einsatz kommt, kann angemessen oder unangemessen sein. Um im Kontext einer Krise nun eine angemessene Bewusstheit zu ihrer Bewältigung einzusetzen, ist es zweckdienlich, die individuell- oder system-biografische Entwicklung der Bewusstheit anzuschauen, ihre Lücken zu erkennen und selbstgesteuert zu schließen sowie Vorurteile abzubauen, die nicht selten entstehen, wenn ein Mensch [oder ein System] wahrnimmt, wie ein oder mehrere andere Menschen [oder Systeme] einen gegebenenfalls völlig anderen Umgang zum Beispiel mit einer Belastungssituation pflegen. Auch hierüber wird in der KrisenPraxis zu gegebener Zeit berichtet werden.

Die Integrale Theorie von Ken Wilber hat viele Anhänger und Befürworter, aber auch Kritiker, die argumentieren, dass die Theorie zu abstrakt und komplex und dass ihre Anwendung in der Praxis schwierig sei. Diese letzte Ansicht kann ich nicht teilen – aber ohne Bereitschaft, sich vielschichtiger als vielleicht üblich mit der Frage zu befassen, mit welcher Bewusstheit ein einzelner Mensch oder kleine wie große Systeme von Menschen ihren Umgang mit Themenstellungen [zum Beispiel hier im Fokus ‚Krise‘] pflegen, lässt sich Wilbers Konzept nicht greifen.

Aber, dieser Aufwand lohnt, denn die Integrale Theorie kann auf verschiedene Bereiche angewendet werden, einschließlich persönlicher Entwicklung, der Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen, der Entwicklung einer Gesellschaftsform, einer Institution, eines Unternehmens, eines Vereins, einer Familie – und deren Kultur.

Nachdem die ‚Sinnfindung‘ im Konzept Frankls bereits umfassend beleuchtet wurde, soll nun also die Bewusstheitsentwicklung im Konzept Wilbers in meinen nächsten Beiträgen in dieser KrisenPraxis vorgestellt werden. Dabei werde ich anfangs einige Begriffsbestimmungen vornehmen, die mir in eigener Arbeitspraxis hinreichend anschlussfähig in der Arbeit mit meinen Klienten sind. So meine Ausführungen von Wilber-Insidern gelesen werden sollten, so können diese vielleicht andere Termini oder Beschreibungen für ‚richtiger‘ halten. Diesen Dissenz muss und werde ich gerne in Kauf nehmen.