Schlagwort-Archiv: Werteentwicklung

Eigentlich ist Leben einfach – 3

Das genetische Substrat ist individuell einzigartig, aber nicht nur das. Für das Wertesystem eines Menschen gilt dies ebenso, wir können es metaphorisch als das noetische Substrat des Menschen verstehen – also als die geistig-seelische Grundlage, die sein Denken, Handeln und Erleben trägt. Viktor Frankl nennt die Werte einer Person ‚Sinn-Universalien‘, womit er zum Ausdruck bringt, dass jeder Mensch als Träger von Geist, Freiheit, Verantwortung und Würde auf Sinn ausgerichtet ist und den in jeder Situation gegebenen Sinn finden muss. Dabei wiederum unterstützt ihn sein individuelles und einzigartiges Wertesystem.

Aus Genetik und Noetik ergeben sich – hier beispielhaft dargestellt – drei in ihrer Lebenswelt agierende Personen, jeweils angesehen als ein absolutes Novum, als nie zuvor dagewesene und nie wieder in selber Form wiederkehrende Wesen.


                   stehen 

Stellen wir uns nun vor, diese drei Personen seien Kollegen, Freunde, Familienmitglieder oder durch andere Kontexte verbundene Menschen. Alle drei stehen gemeinsam vor einer belastenden Situation – es beginnt ein Kommunikationsprozess über Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungsoptionen. Alle drei wollen die Belastung durch die Situation mindern, jeder meint es auf seine Weise gut. Was nun, wenn sich trotz guter Absichten kein Ausweg findet? Wenn die Drei sich im „Ja, aber“ erschöpfen? Nicht selten wird der weitere Prozess dann über einen Machteinfluss [als Kompetenz, Geld, Status, Hierarchie …] gesteuert: ‚Ober sticht Unter‘; ‚Wer am lautesten spricht‘, ‚Wer zahlt, hat`s Sagen‘ … – wir kennen das. Wer von den Dreien wird ‚das Rennen‘ machen, die ‚finale Entscheidung‘ treffen, sich ‚durchsetzen‘ …? Wer wird wen damit womöglich ‚ab-werten‘?

Nehmen wir weiter an, die Situation ist nicht nur problematisch und belastend, sondern sogar eine zeitkritische Krisen. Hier einen langen Prozess der Konsensbildung in Kauf zu nehmen, wird sich kaum anbieten – ein (auch nicht immer) ‚billiges‘ Beispiel dafür ist die Frage, wer einen Elfmeter schießt, wenn es darum geht, die Meisterschale zu holen oder den Abstieg zu verhindern. Wer hier darauf trainiert ist, eben in diesem Moment die Nerven zu bewahren, das Getöse des Umfelds zu überhören und um seine Resilienz zu wissen, sollte die Aufgabe nicht zum gewünschten Ergebnis führen, der schnappt sich hoffentlich den Ball – oder soll er erst den Trainer, den Kapitän, das Publikum oder einen Telefon-Joker befragen?

Schauen wir genauer hin, dann finden sich in solchen Situationen auf der ‚Oberfläche‘ allerlei Kriterien, die Hinweise darauf geben können, warum Person X sich einer Krisensituation beherzt und mit Köpfchen annimmt: körperliche Fitness und psychische Belastbarkeit, stabiles persönliches Umfeld, ein bereits gut gefülltes Erfolgskonto, Qualifizierungen und manches mehr.

Schaut man tiefer, dann landet man letztlich im persönlichen Wertesystem – dem System, das sich ab der Kindheit immer weiter entwickelt und bis ins hohe Alter weiter entwickeln kann. Ein System, in dem elterliche Projektionen ebenso zu Hause sind wie selbständig beantwortete Lebensfragen. Je gereifter die Person ihre Selbst-Erfahrungen mit Selbst-Denken und Selbst-Fühlen vollzogen hat, je selbst-sicherer und selbst-vertrauensvoll kann sie sich den gegebenen Aufgaben stellen. Vielleicht bietet sich für ein solches ‚Gesamtpaket‘ vollzogener Reifung der Begriff ‚Selbst-Bewusstsein‘ an, ein Bewusstsein, das mit fortschreitender Entwicklung im Hier und Jetzt zu einer ‚Selbst-Bewusstheit‘ führt, mit der sich eine Person darüber bewusst ist, dass es an ihr ist, in der konkreten Situation und genau jetzt Stellung zu beziehen.

Selbst-Bewusstheit können wir aus dieser Perspektive verstehen als ‚auf den Punkt der Gegenwart‘ zusammengebundener, kondensierter Prozess der Bewusstseinsentwicklung. Wer sich diesen Prozess bewusst gemacht hat und durch ihn seiner Werte bewusst ist, der hat Selbst-Erkenntnis aufgebaut und kann damit entlang seines individuellen, selbstentwickelten Wertesystems ’selbst-verantwortlich‘ entscheiden und handeln.

Schauen wir in einem nächsten Schritt dazu einmal genauer auf dieses besondere System.

Eigentlich ist Leben einfach – 2

So genetisch einzigartig der Bauplan, die ‚Software‘ jedes Menschen ist, so einzigartig ist auch das Reich seiner Werte. Bedenken wir dabei, dass wir im deutschen Sprachgebrauch derzeit gut 400 Begriffe finden, die wir in sinntheoretischer Anschauung als Wertebegriffe verstehen, dann ergeben sich daraus schier unendliche Kombinationen an Wertesystemen, die Menschen ausprägen können. Viele der individuellen Wertesysteme orientieren sich dabei an soziokulturellen Normen. Diese können durch die Ursprungsfamilie und-oder durch andere Systeme, in denen sich die Person bewegt und verhält, als ‚wertvoll‘ definiert worden sein – sich ihnen anzupassen oder sich ihnen entgegen zu positionieren, liegt in der Freiheit und Verantwortung jeder Person. Wer sein Verhalten an zu vielen Werten ausrichtet, die den Verhaltens- und damit Werteerwartungen des jeweiligen Systems zuwiderlaufen, wird extremer formulierte Feedbacks (zum Beispiel positiv: Held …, negativ: Nichtsnutz…) erhalten als die Menschen, die sich in einem Erwartungskorridor verhalten.

Nimmt die Komplexität eigener privater und beruflicher Aufgaben zu, entstehen mit ihnen eigene und fremde Verhaltenserwartungen, die – können sie anfangs vielleicht nur unzureichend erfüllt werden – zu Werteentwicklungsprozessen führen. Beispiel: Eine Person hat mehrere berufliche Stationen mit zunehmender Personalverantwortung hinter sich. Aus ihrer Begabung, sich mit anderen Menschen konstruktiv austauschen und sie gut unterstützen zu können, erwächst die Überlegung, mit einer Mediationsausbildung das bestehende Rollenrepertoire zu professionalisieren. Auf ihrem Lernprozess erkennt die Person den Stellenwert eines Mediatoren-Verhaltens im Kontext von Diskretion, Neutralität und Respekt. Sie erkennt, dass sie in früheren Rollen dem Wert Neutralität kaum gerecht werden musste, eher im Gegenteil wurde von ihr Positionierung und eigene Lösungsstärke erwartet. In ihren ersten Mediationsgesprächen fühlt es sich für die Person gut an, eine allparteiliche Vorgehensweise zu praktizieren, und mit der Zeit schätzt sie den Wert Neutralität für sich als sinnvolle Ergänzung ihres Wertesystems.

Wer sein Wertesystem aktiv entwickeln will, kann mit Blick auf das, was an zunehmender Komplexität in der nächsten Lebensphase zu erwarten ist, ein Szenario dafür erstellen, welchen neuen Werten wohl mehr Raum zur Entwicklung gegeben werden sollte. Hierbei können qualifizierte Gesprächspartner, die nicht nur im Kontext der Kompetenzentwicklung, sondern auch im Thema Werteentwicklung fundiert arbeiten, hilfreich unterstützen.

 

2023 – neu: 15. Integraleres Denken

Im letzten Beitrag habe ich zur Arbeit an individuellen Sinnleere-Empfindungen die Perspektive eröffnet, dass ein von einer solchen Empfindung betroffener Mensch die jenseits seiner aktuellen Weltausschnittsgrenzen liegenden Sinnimpulse wahrnehmen könnte, würde er sein bestehendes Wertesystem öffnen und damit bereit werden für die Gelegenheiten, die sich im erweiterten Möglichkeitsraum des Lebens zeigen. Was sich dieser Weltöffnung häufig in den Weg stellt, sind Verlust-Ängste aber auch das bislang für das Leben ausreichend gewesene konzeptionelle, konditionierte Denken des Intellekts. Dieses Denken, das wir alle in unserem Kulturkreis so facettenreich anerzogen, antrainiert bekommen und ausgeformt haben, ist dann, wenn sich Sinnleere breitmacht, das gern zitierte ‚dicke Brett, das es zu bohren gilt‘. Es ist deshalb so dick, weil dieses Denken mit Zielen, Zwecken, Zeiten, Absichten, Kompetenzen und Aktionen verbunden ist, die allesamt ihre Beiträge dafür leisteten, dass der Mensch seinem Leben eine Form hat geben können. Solange diese Form mit Inhalten verbunden ist, auf die sich der Mensch mit Motivation ausrichten kann, sind Zustände wie Zufriedenheit, Genugtuung oder Wohlbehagen wahrscheinlich die Folge. Kommt das Denken des Intellekts jedoch an seine Grenzen und findet es immer weniger Inhalt vor, kommt der Mensch mit noch mehr Intellekt, mit noch mehr Gehirn-Geist, Verstand und Ratio auch nicht weiter. Es braucht also etwas anderes.

Albert Einstein meinte einmal: „Die Evolution ist eine Intelligenz von einer solchen Erhabenheit, dass verglichen damit das ganze systematische Denken und Handeln des Menschen ein höchst unbedeutender Abglanz ist.“ Und Evolution im Kontext der hier besprochenen Theorie von Wilber meint ‚integraleres Denken‘. Ein Denken, das sich ‚locker macht‘ von festen Formen, Dogmen, Glaubenssätzen. Schauen wir dazu auf die Werte-Ebenen, so findet sich dieses Denken ab dem Gelb-Meme. Bis dahin denkt der Mensch im Rahmen seiner psychischen Verfassung. Ab Gelb hingegen erwächst eine besondere, neue Freiheit. Die Freiheit, fest davon überzeugt sein zu müssen, irgendwie zu wissen, wie die Dinge sind oder wie sie sein sollten. Und – im Sinne Frankls – auch in der Verantwortung dafür zu stehen, diese einst psychisch fest verankerten Überzeugungen nun im Gelb-Meme zu lockern.

Bei Sätzen wie diesen muss man auf den nächsten Kaperungsversuch der Psyche nicht lange warten, schließlich sieht sie es als ihre Aufgabe an, den Menschen zu unterstützen, ‚die Form zu wahren‘. Und – wie angemerkt – solange die Form [und sei es auch eine lebensungünstige] passt, passt die Psyche den Menschen immer wieder und weiter an diese Form an. Never touch a running system, oder wie die Lateiner wussten: Quidquid recipitur, ad modum recipientis recipitur [Was auch immer empfangen wird, wird gemäß der Weise des Empfangenden erfasst].

Empfindet eine Person nun in ihrem Leben eine Sinnleere, stellt das Bewahren der bisherigen Form [hier also die Umgangs-Form in existenziellen Belastungen] kaum eine Verbesserung der Situation in Aussicht. Es gilt daher, einen Transzendenzprozess auf eine höhere Bewusstheit einzuleiten. Auf den Werte-Ebenen bis Grün findet diese Transzendenz im Modus des konzeptionellen, konditionierten Denkens statt, ab dem Übergang von Grün zu Gelb transzendiert die Person in eine Bewusstheit, in der sie sich verzerrungsbefreiter mit ihrem Leben verbunden fühlt und sich dieses Lebens als gleichwertig mit allem Leben gewahr wird. Ein starkes Signal dafür, dass man in dieser Bewusstheit lebt, ist das Erstaunen darüber, dass man sich immer zunehmender in Konfliktfreiheit mit sich, anderen und allem fühlt. Geht man den Gründen für das Erstaunen nach, so entdeckt man an sich das Phänomen, anders als früher multidimensionaler zu denken, generativer zu sprechen, Paradoxes und Unsicheres nicht abzuwehren, vielmehr es als Ressource zur Entwicklung eines immer stärker werdenden Unterscheidungsvermögens anzunehmen. Ab Gelb empfindet man einiges im Verhalten bis Grün als langweilig. Beige-Hilferufe, Purpurnes-Geplauder, Rote-Befehle-und-Anweisungen, Blaue-Erlasse-und-Debatten, Orange-Erklärungen-und-Diskussionen, Grüne-Aushandlungen-und-Dialoge – ab Gelb hat man diese Wege der Kommunikation eingeschlossen und transzendiert die Gesprächsführung von einer reinen Ich-Du-Wir-Form hin zu einer Gesellschaftsperspektive.

Machen wir es konkret: Angenommen, ein Mensch empfindet Sinnleere in seiner aktuellen beruflichen Situation. Seine beruflichen Erfolge bleiben seit einiger Zeit aus, das Feedback hinsichtlich seiner Karrieremöglichkeiten bleibt hinter den eigenen Erwartungen zurück und die Aussicht auf Stillstand ist gegeben, die Verteilung von Ressourcen erlaubt keine anspruchsvolleren Projekte, die bisherigen Aufgaben werden durch Einsatz von Technologien ausgedünnt. Man macht zunehmend einen Job ohne wirkliche Erfüllung. Die Werte des Orange-Meme sind immer weniger verwirklichungsfähig. Allfällige Versuche, die Form beizubehalten, aber mit neuen Orange-Inhalten zu befüllen, scheitern [z.B. Bewerbungen in vergleichbare Funktionen in andere Unternehmen gelingen nicht, der Sprung in die Selbstständigkeit unter Beibehalt bisheriger Inhalte werden vom Markt nicht goutiert …]. Was also tun? ‚Dienst nach Vorschrift‘ wäre eine mögliche Form des blauen Meme, die Suche nach einer Vorstandsrolle im Fußballverein eine im roten Meme. Der Selbstzweifel in Form einer Depressionserkrankung kann als Ausdruck des beigen Meme angesehen werden. Solche Formgebungen sind deshalb leicht umsetzbar, da das orange-Meme alle vorherigen Meme einschließt. Neu wäre somit die Transzendenz ins Grün-Meme, der Suche nach Sinn in einem gemeinwohlorientierten, empathiezentrierten und durchaus auch das Orange-Meme einschließenden Umfeld. Wäre die Person dahingehend weltoffen, könnte sie grüne Sinn-Impulse wahrnehmen, womöglich über Kommunikationskanäle [Beobachtungen, Gespräche, Literatur usw.], die bislang nicht zu den präferierten gehörten, da nicht anschlussfähig für die als notwendig angesehenen Verhaltens- und Handlungsweisen im Orange-Meme.

Ein zweites Beispiel: Angenommen, eine Person empfindet Sinnleere in ihrer aktuellen privaten Situation. Nach dem plötzlichen Tod des Lebenspartners, mit dem in den vergangenen Jahren verschiedene Gemeinschaftsprojekte initiiert wurden, die Freude an der Verbesserung vieler individueller Lebenslagen ein kontinuierlicher Wegbegleiter der beiden Partner war, eigene schwierige, insbesondere gesundheitliche und finanzielle Störungen durch Aufrechterhaltung einer grundsätzlichen Zukunftszuversicht und Fröhlichkeit beseitigt oder relativiert werden konnten, steht nun eine neue Phase der Lebensführung zur Gestaltung an. Die Person wird von einem lange nicht mehr erlebten Empfinden von Aussichtslosigkeit erfasst, die Psyche macht sich bemerkbar durch Angstgefühle und Endzeitgedanken. Nach ein paar Wochen stellt in einem Gespräch mit einem Bekannten dieser die Frage: „Was wäre gewesen, wärst Du vor Deinem Partner gestorben?“ Die Antwort kommt schnell: „Das wäre für ihn ganz schlecht gewesen, das hätte er kaum ertragen.“ Und der Bekannte sagt darauf: „Dann ist das ja Deinem Partner durch Dich erspart geblieben, auch wenn es nun für Dich bedeutet, ihn zu betrauern und Deinen Weg weiterzugehen.“ Mit diesem kurzen Gespräch konnte die Person eine neue Einstellung zu den weiterhin gegebenen Möglichkeiten entwickeln, sie kam wieder in ihre Kraft und nahm kurze Zeit später verwundert zur Kenntnis, dass sie – trotz ihres Verlustes – das, worum es an sich immer ging, fortsetzen konnte und wollte. Die Illusion, die Aufgaben müssten stets gemeinsam an sie und ihren Partner gebunden sein, wurde aufgegeben. Die Liebe zu den Aufgaben blieb erhalten, ein Gefühl von gelassener Freiheit wurde berichtet.

Bei diesem Übergang vom Grün-Meme in eine gelbe Bewusstheit des Gelassen-Seins half der Person letztlich nur ein einziges Gespräch. Man könnte dieses Gespräch als Sinn-Impuls begreifen, ein Impuls, der dazu beitrug, dass der Kaperungsversuch der Psyche in Richtung Angst und Aussichtslosigkeit zugunsten eines Erhalts der Weltoffenheit abgewendet wurde.

2023 – neu: 6. Theme + Scheme = Meme

Es ist an der Zeit, die Theorie des Integralen Bewusstseins in ihren wesentlichen Facetten zu beschreiben. Das Material, das sich hierzu im Web und in der Literatur findet, ist derart umfangreich, dass die Suche nach einem passenden individuellen Zugang ein wenig anmutet wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Mir persönlich hat diese Video-Zusammenstellung einen sehr guten Überblick ermöglicht. Gerne empfehle ich sie als tiefergehenden Theorieeinstieg weiter, hier daher nur das, was ich für meinen späteren Brückenschlag zwischen Wilber und Frankl benötige.

Die Integrale Theorie von Ken Wilber ist eine umfassende und holistische Theorie, die versucht, alle Aspekte des menschlichen Lebens und der Realität zu integrieren. Wilber argumentiert, dass es vier grundlegende Perspektiven [vier Quadranten] gibt, aus denen ‚Welt‘ betrachtet werden kann: die innere und äußere Perspektive des Individuums sowie die kollektive innere und äußere Perspektive der Gesellschaft.

  • Die Innere Perspektive des Individuums (Innenwelt der Person), adressiert die Werte, Haltungen, Einstellungen, Gefühle, Gedanken, Wahrnehmungen, Empfindungen, Motive einer Person – letztlich ihr ‚Selbstkonzept‘.
  • Die Äußere Perspektive des Individuums (Innenwelt der Person ins Außen übertragen) nimmt Wissen, Fähigkeiten, Verhaltens- und Handlungsmuster, verbale und nonverbale Kommunikationsformen, den Lebens-/Erziehungs-/Führungsstil usw. einer Person in Augenschein.
  • Die Innere Perspektive des Kollektivs (konkrete Außenwelt als Summe aller Innenwelten und ihrer Vernetzungen) fokussiert unter anderem auf den Umgang miteinander, den kulturellen Hintergrund, Sprache, geteilte Werte.
  • Die Äußere Perspektive des Kollektivs (abstrakte Außenwelt) betrachtet unter anderem die Strukturen im sozialen System, Technologien, Produkte und Dienstleistungen, Formen sozialer Beziehungen, Prozesse, Gesetze.

In jedem dieser vier Quadranten finden sich unterschiedliche, sogenannte Entwicklungslinien [siehe dazu die oben empfohlene Videoreihe], deren Auswahl kontextuell vorgenommen wird. Durch verschiedene Wissenschaftler wurden unter anderem erforscht: die kognitive, die emotionale, die ethisch-moralische, die ästhetische, die zwischenmenschliche, die spirituelle Entwicklungslinie und einige weitere mehr. Pragmatisch verweisen Entwicklungslinien auch auf Rollen, die Menschen zum Beispiel beruflich einnehmen. Erst kommt der Schüler, der sich für ein Fach interessiert, dann ein Lehrling, dann ein Geselle, dann der Meister usw. – mit jeder Rollenentwicklung hat sich eine Person in aller Regel auf verschiedenen Linien weiterentwickelt. 

Oder: Begleitet ein Therapeut zum Beispiel einen Klienten, der einen Sterbehilfewunsch äußert, indem er mit diesem Gespräche über bestehende Werteverwirklichungsmöglichkeiten führt, so würden diese Gespräche den Quadranten ‚innere Perspektive des Individuums‚ adressieren. Würde der Klient nach diesem Gesprächen seine Einstellung zum Thema Sterbehilfe überdenken, weil er einen von ihm bislang nicht wahrgenommenen Sinnimpuls erfühlt hat, so birgt eine diesem Impuls folgende Einstellungsmodulation in seinem Sterbehilfewunsch das Potenzial für ein neues Niveau auf der Entwicklungslinie ‚Wertebewusstheit‘.

Der Therapeut könnte zudem auch die ‚Äußere Perspektive des Individuums‘ betrachten und dabei einen Blick auf die Entwicklungslinie ‚kognitives Lernverhalten‘ des Klienten werfen. Sollte er dabei aus den Erzählungen und gegebenenfalls verfügbaren Dokumenten des Klienten herauslesen können, dass dieser sich in seinem Leben immer wieder intensiv und selbstmotiviert mit komplexen Sachverhalten auseinandergesetzt hat, so könnte dies ein Hinweis dafür sein, dass das vorgetragene Sterbehilfeanliegen auf einen autonomen, rational geprägten Lebensstil verweist und zum Beispiel nicht mehr ein Punkt auf der Linie ist, wo ein Mensch aus einem eher unreflektierten negativen Affekt heraus seinem Leben ein Ende bereiten will.

Würde der Therapeut nun nicht versäumen, auch die ‚Innere Perspektive des Kollektivs‘, so wäre ein Aspekt über den er mit dem Klienten spräche vielleicht der Reifegrad des gesellschaftlichen Umfeldes, in dem der Klient lebt. Hier wäre womöglich die ‚moralische‘ Entwicklungslinie des Kollektivs und ihr Umgang mit individuellen existenziellen Themen wie Leid, Tod oder Abschied ein Aspekt. Gäbe der Klient zum Beispiel zu verstehen, dass sein Umfeld das Thema Sterbehilfe tabuisiert und ein offener Diskurs dort erschwert ist, ließe sich durch eine therapeutische Unterstützung, die auf eine Vergrößerung der sozialen Kontakte hinwirkt, eine bessere Kommunikation auf Augenhöhe erreichen.

Und letztlich könnte der Therapeut auch den Quadranten der ‚abstrakten Außenwelt‘ ansprechen. Hier könnte angeschaut werden, wie sich auf der Entwicklungslinie des ‚medizinischen Fortschritts‘, der dem Klienten vielleicht nicht hinreichend bewusst ist, eine neue Perspektive erschließen ließe.

Kontextbezogen führt ein ‚integraleres Denken‘ also stets zu einer ersten Vergrößerung der Komplexität durch Anschauung der Vielzahl relevanter Entwicklungslinien. Und für jede dieser Entwicklungslinien kann nun ein Gespräch über die Entwicklungsebene [der Wertekontext] vorgenommen werden. [Spätestens an dieser Stelle treten meist die Kritiker auf, die die Wilbersche Theorie bereits als zu abstrakt, komplex und anwendungsunfreundlich bewerten. Jedoch, bei Themenstellungen die in ihrer Folgenabschätzung als riskant, existenziell, ressourcengefährdend oder irreversibel gelten, bietet die Investition in eine Methode, die die ohnehin gegebene Komplexität adäquat abbildet, einen angemesseneren Zugang zur Bewältigung als zum Beispiel leichtgängige und viele Einflussfaktoren ausblendende Wenn-Dann-Logiken.]

Nun also erste Worte zu den Entwicklungsebenen: In seinen Schriften schlägt Ken Wilber oftmals eine Brücke zu  den Forschungsergebnissen des New Yorker Psychologieprofessors Clare W. Graves. Das nach ihm benannte Graves Value System ist eine Theorie der menschlichen Entwicklung. Sie beschreibt, wie Menschen im Laufe ihres Lebens verschiedene Denk- und Verhaltensmuster entwickeln und wie sich diese Muster im Kontext ihrer kulturellen und sozialen Umgebung verändern. Der zentrale Transporteur neuer Muster ist dabei die Kommunikation.

Werden Ideen, Gedan­ken und Infor­mations­muster durch Kommu­nika­tion verbreitet und reproduziert, so kann dies als kul­tu­rel­les Pendant zum bio­chemischen Gen aufgefasst werden. Zusammengefasst könnte man von kulturellen Strukturen oder von Schemata sprechen, die sich mittels Kommunikation re­pro­duzieren, mit der Umwelt in­ter­agie­ren und sich dieser anpassen. 

Graves argumentierte, dass sich die menschliche Entwicklung solcher Schemata je nach den auf das Individuum einwirkenden Themen dynamisch von einer Ebene zu einer neuen Ebene vollzieht. Jede neu entwickelte Ebene und der mit ihr verbundenen neuen spezifischen Art des Empfindens, Denkens, Fühlens und Handelns gründet letztlich auf einem erweiterten Werte-System. Ein Werte-System, das alle Werte davor entwickelter Ebenen einschließt und diese um die Werte ergänzt, die für den Umgang mit den Themen auf der aktuell entwickelten Ebene erforderlich sind.

Wird einem gegenwärtig individuell oder gesellschaftlich relevantem ‚Thema‘ ein adäquates ‚Schema‘ zur Seite gestellt, so nenne ich diese Kombination aus Thema und Schema nun ein ‚kontextstimmiges Meme‘ oder auch eine ‚passende Gegenwarts-Bewusstheit‘. Wird jedoch einem Thema ein für seine Bewältigung unpassendes Werte-System – ein unpassendes Meme – zur Seite gestellt, so bewirkt dies eine Eskalation in Form von Problemen, Konflikten, Hindernissen oder auch Krisen.

Arbeiten wir uns nun mit einer ersten Skizze an die von Graves destillierten Werte-Systeme heran:

Die ersten beiden Werte-Systeme, die von Graves identifiziert wurden, sind das Instinkt-System und das Tribal-System. Diese beiden Systeme sind stark von den physischen Bedürfnissen und den Anforderungen der Überlebenssicherung geprägt und betonen die Bedeutung von Sicherheit, Schutz und Zugehörigkeit.

Die nächsten drei Werte-Systeme sind das Autoritäts-System, das Leistungs-System und das Selbst-Verwirklichungs-System. Diese Systeme betonen jeweils die Bedeutung von Hierarchie, Erfolg und persönlichem Wachstum und Entfaltung.

Die bislang letzten drei Werte-Systeme, die von Graves beschrieben wurden, sind das Integrative-System, das Holistische-System und das Systemisch-Integrale-System. Diese Systeme betonen die Bedeutung von globaler Zusammenarbeit, umfassendem Verständnis und Integration aller Perspektiven.

Graves betonte, dass diese Werte-Systeme nicht hierarchisch angeordnet sind, sondern dass sie sich in einer dynamischen Wechselwirkung und Entwicklung [vergleiche dazu die Terminologie von Wilber: ‚Einbeziehen‘ und ‚Transzendieren‘] befinden. Individuen und Gesellschaften können sich von einem System zum anderen entwickeln, je nach den Anforderungen und Herausforderungen, denen sie begegnen.