Kategorie-Archiv: Werte

Eigentlich ist Leben einfach – 4

  

Jeder Mensch hat ein einzigartiges Wertesystem. Hier und Jetzt tritt dieses System in Aktion – durch (versprachlichte) Verhaltensweisen, Handlungen oder Entscheidungen treten einzelne Werte in die Sichtbarkeit. Analog zum physischen System, dessen individuelle Besonderheiten zum Beispiel durch Wachstum, Bewegungen oder Beeinträchtigungen sichtbar werden und dem psychischen System, dessen Individualität sich zum Beispiel durch Affekte, Regungen oder (versprachlichte) Kognitionen und Emotionen zeigt.

Während das psychische und physische System zur [Gesund-]Erhaltung des Menschen ihre Beiträge leisten, dient das Wertesystem dazu, für die in der Lebenswelt auf die Person wartenden Aufgaben gerüstet zu sein. Auch die Werte, die vermeintlich dafür gut sind, dass sich die Person gut fühlt, haben – weiter gedacht – ihren eigentlichen Auftrag darin, dass die Person sich in guter Verfassung mit den Aufgaben aus ihrer Lebenswelt befassen kann. So hat beispielsweise der Wert ‚Gesundheit‘ und ein diesem Wert entsprechendes Verhalten vordergründig nicht nur den Selbstzweck, den Zustand von Wohlbefinden zu bewirken. Vielmehr dient die Verwirklichung des Wertes Gesundheit dafür, um all das zu erhalten oder wieder aufzubauen, was erforderlich ist, individuell sinnvollen Lebensaufgaben gerecht werden zu können.

Schauen wir nun auf die drei beispielhaft dargestellten Personen. Jede von ihnen hat ein indiviuelles und originäres Wertesystem. Im Rahmen einer Werteanalyse wurden die Werte jeder Person in Gruppen zusammengeführt – eine solche Clusterung kann verschiedenartig vorgenommen werden, zum Beispiel haben wir unsere über 400 LebensWerte mit dem Kontext individueller Motive in Verbindung gebracht. Dabei entstanden die acht Cluster: Macht-Freiheit, Leistung-Ruhe, Stabilität-Veränderung, Bindung-Trennung. Eine weitere Gruppierung geht zurück auf das von Professor Clare entwickelte Modell einer evolutionär begründete Werteentwicklung.

Graves beschreibt in seiner Theorie der menschlichen Bewusstseinsentwicklung einen Prozess der Vergrößerung von Verhaltens- und Handlungsräumen zum Zwecke der Bewältigung komplexer werdender Themenstellungen. Graves nimmt dazu in seinem werteevolutionären Ansatz an, dass jeder Mensch durch verschiedene Stadien der Bewusstseinsentwicklung geht, wobei jede entwickelte Ebene [sie werden auch vMeme-Ebenen genannt – v = value / Meme = spezifischer Bewusstseinsinhalt] durch ein Set an Grundüberzeugungen, Werten, Einstellungen und Haltungen repräsentiert wird. Für eine schnellere Unterscheidung dieser Ebenen werden in der Literatur Farben eingesetzt – Sie sehen sie unten in den kleinen Rauten zu Beginn neuer Textpassagen.

Zu Beginn der Vorstellung soll betont werden, dass keine vMeme-Ebene per se ‚besser‘ oder ’schlechter‘ als eine andere ist. Vielmehr soll der Aspekt in den Vordergrund rücken, dass es stets situativ eine passende Gegenwarts-Bewusstheit [ein passendes vWerte-Meme] braucht, ergo es bei einer Abfolge unterschiedlicher, zu bewältigender Situationen auch unterschiedlich angemessener vMeme-Ebenen bedarf [welche Folgen dies im Thema ‚Krise‘ hat wird in späteren Beiträgen diskutiert, ebenso die Kritik an diesem theoretischen Modell].

Die vMeme-Ebenen in einer ersten Übersicht:

 Das Beige-Meme ist die erste Ebene im Graves Value System. Als „Überlebensmeme“ geht es hauptsächlich um die Bewältigung des Themas ‚Befriedigung der Grundbedürfnisse wie zum Beispiel Nahrung, Schlaf, Wärme, Sex‘. Neben Neugeborenen zeigen auch Menschen unter Drogeneinfluss ein mit diesem Meme verbundenes reflex- und instinktgesteuertes Verhalten. Der Rahmen individueller Fähigkeiten, auf ihre Umwelt zu reagieren ist deutlich begrenzt, es wird im Hier und Jetzt gelebt. Im archaisch-urzeitlichen Beige-Meme gibt es noch kein Konzept von moralischen Werten oder sozialen Normen.

In unserer modernen Gesellschaft ist ein erwachsenes Verhalten und Handeln im Beige-Meme meist nur in existenziellen Krisen zu beobachten, wenn die Verwirklichung von Werten höher entwickelter Ebenen als nicht (mehr) möglich erscheint. Global betrachtet werden aber viele Menschen und Gemeinschaften durch die sie gefährdenden Rahmenbedingungen genötigt, ihr Verhalten und Handeln in diesem Meme zu zeigen. Wenn Menschen mit traumatischen Ereignissen konfrontiert werden, wie z.B. Naturkatastrophen, Krieg oder Hunger, dann werden sie auf ihre Bewusstheit, grundlegendste Überlebensbedürfnisse befriedigen zu müssen, zurückgeworfen. Ihre Verhaltensweisen werden dabei von tief verwurzelten Instinkten und Gewohnheiten bestimmt und sind eher spontan. Im urzeitlich Kontext ist dieses Meme mit Begriffen wie Sammeln und Jagen, klimabedingte Migration oder Bildung schützender und unterstützender Horden verbunden.

Ohne Entwicklungsperspektive und dem Verharren im Beige-Meme zeigen sich negative Auswirkungen darin, dass Menschen sich in ständiger Angst vor Bedrohungen befinden und sich auf ichbezogene Überlebensstrategien konzentrieren, ohne sich am Aufbau sozialer Strukturen oder höherer Werte zu beteiligen.

 Das Purpur-Meme ist die zweite Bewusstheits-Ebene im Graves Value System. Auf ihr entsteht erstmals ein Wir-Bezug und eine Bewusstheit für den Wert einer Gemeinschaft. Die Suche nach einem gemeinsamen Daseins-Zweck und einer verbindenden Identität wird gestärkt durch den Glauben an Symbole, Rituale und Übernatürliches. Das Streben nach Harmonie mit den Kräften der Natur und erste Formen einer Kulturentwicklung – zum Beispiel Musik, Tanz oder erzählende Überlieferung – sind Merkmale dieses Meme. Ein starkes Bedürfnis nach Gemeinschaft, Zusammenhalt, Sicherheit und Geborgenheit in der Gruppe und ihre Befriedigung mittels zeremonieller Handlungen sowie ihre Empfänglichkeit für magische Momente zeigt sich auch heute unter anderem bei religiösen Gemeinschaften. Mit einer intensiven emotionalen Verbundenheit mit ihrer Gemeinschaft, die ohne institutionelle Klammer auskommt, betrachten Menschen im Purpur-Meme die Welt als ein geheimnisvolles und oft unerklärliches Universum, in dem alles miteinander verbunden ist.

Obwohl das Purpur-Meme auf den ersten Blick als naiv oder dem Kleinkindalter entsprechend erscheinen kann, ist es von großer Bedeutung in der menschlichen Entwicklung. Auf dieser Ebene steht das Lernen durch Nachahmung und damit ein tiefes Bedürfnis nach Zusammengehörigkeit in einer Gruppe im Vordergrund.

In unserer modernen Gesellschaft ist ein erwachsenes Verhalten und Handeln im Purpur-Meme oft im Thema ‚dazugehören wollen‘ zu beobachten. Familiär geprägte Organisationen, Stammeskulturen, Cliquen und Clans werden als Orte der Sicherheit empfunden, und die Anpassungsfähigkeit an das Gruppenverhalten gilt als notwendige Bedingung dafür, nicht in die Angst zu verfallen, aus der Gemeinschaft ausgestoßen zu werden. Loyalität gegenüber Ältesten und die Tradition der Gruppenkultur werden gepflegt; Kinder werden als Alterssicherheit angesehen.

Wenn Menschen mit Bindungs- und Vertrauensverlusten konfrontiert werden, wie dies z.B. bei der Scheidung der Bezugspersonen in der frühen Kindheit oder bei der Trennung von der Gemeinschaft durch Umzug entstehen kann, so werden die Werte dieses Meme verletzt. Ohne Entwicklungsperspektive und dem Verharren im Purpur-Meme zeigen sich negative Auswirkungen dann zuweilen darin, dass Menschen irrationalem Glauben, magischen Praktiken oder Sektierertum verfallen.

 Eigene Bedürfnisse nach Individualität zeigen sich im Graves Value System erstmals im Rot-Meme. Verhalten sich Menschen bei spezifischen Themen entlang dieses Werte-Meme, so zeigen sie ihr Bedürfnis nach Macht, Kontrolle und Dominanz an. Für Bedürfnisse anderer bringen sie in diesen Kontexten ein eher geringes Verständnis auf. Sie glauben an die Stärke und Überlegenheit des Individuums gegenüber der Gruppe und lehnen Autorität und Kontrolle ab, wenn sie nicht zu ihrem eigenen Vorteil sind.

Einen Vorgeschmack auf dieses Meme zeigen Kinder in der pubertären Trotzphase, wenn sie mit Einschüchterung und Kraft anderen ihren egozentrierten Willen aufzudrücken versuchen. Auch eine Tendenz zur [subtilen, manipulativen, kommunikativen oder physischen] Gewalt und Aggression ist möglich, wenn es darum geht, persönliche Ziele zu erreichen. Die ‚Siegen-wollen-Mentalität‘ steht dabei im Einklang mit einem Weltbild, das den Kampf um Ressourcen und Macht als erforderlich ansieht, das auf Omnipotenz oder gar Unsterblichkeit setzt und in dem Kritik von Außen als persönlicher Angriff und Beleidigung angesehen wird. Ein weiteres Merkmal des Rot-Memes ist ein impulsives, ‚aus-dem-Bauch-heraus-Handeln‘, ohne Rücksicht auf Konsequenzen oder die Bedürfnisse anderer. Eine sofortige Bedürfnisbefriedigung wird ungeduldig  angestrebt und die kleine oder große Welt ist dafür die Plattform, auf der Macht und Willenskraft demonstriert wird.

In unserer modernen Gesellschaft ist das ichzentrierte Rot-Meme durchaus präsent. Meist negativ konnotiert, wenn es sich im Kontext von Feudalherrschaften, dem Drang zum Erhalt von Imperien, Heldenverehrung kriegerischer Eroberungen, Gewalt in der Familie, Korruption usw. zeigt. Als positiv wird das Rot-Meme erlebt, wenn es um die persönliche Entschlusskraft geht, in passenden Situationen direktive Anweisungen mit Energie und Verve mitzuteilen oder wenn gegen Widerstände aus dem Umfeld der Wille für eigene Entdeckungen und Kompetenzaufbau aufrecht erhalten bleibt oder auch, wenn sich keine anderen Wege aufzeigen, gegen Unterdrückung oder Ohnmacht aufzubegehren.

Wenngleich das Rot-Meme auf den ersten Blick als egoistisch und unmoralisch erscheinen kann, ist es von großer Bedeutung in der menschlichen Entwicklung. Auf dieser Ebene wird das Bedürfnis nach Herrschaft und Selbstbestimmung erkannt und geschätzt. Es betont die Bedeutung von Autonomie und Selbstbestimmung und schafft damit eine Grundlage für persönliches Wachstum und Selbstverwirklichung.

Wenn Menschen mit der Abwertung ihres Platzes und ihres Status in der Gesellschaft konfrontiert werden, so werden die Werte dieses Meme verletzt. Ohne Entwicklungsperspektive und dem Verharren im Rot-Meme zeigen sich negative Auswirkungen dann zuweilen darin, dass Menschen dazu neigen, situativ ihre Selbstsucht auf Kosten anderer auszuleben, Machtmissbrauch oder Rache auszuüben oder einen Hang zum Narzissmus zu entwickeln.

 Das Blaue-Meme ist die vierte Entwicklungsebene im Graves Value System. Nach der Fokussierung auf beige Grundbedürfnisse, purpurne Gemeinschaft und rote Machtbewussheit geht es hier um die Schaffung von Ordnung, Stabilität und Sicherheit durch Einhaltung von Gesetzen, Regeln, Vorschriften und Strukturen. Institutionen versprechen mit ihren Hierarchien Sicherheit in einer unberechenbaren Welt. Die Bewusstheit, dass für bestimmte Themen ein Schema wie Autorität, Gehorsamkeit, Disziplin, Moral oder auch Konvention und die Bewahrung ethischer Standards passend ist, verweist auf ein geringes Verständnis für Nuancen und Abweichungen. Die situative blaue Bewusstheit neigt zu einem Schwarz-Weiß-Bewertungsmuster, zu einer strengen Auslegung von Überzeugungen und kulturellen Normen.

Menschen mit entwickeltem Blau-Meme schätzen situativ die Ausrichtung an Tugenden, Sitten und aus ihrer Sicht moralischen Standards. Gradlinigkeit, Berechenbarkeit, Pflichtbewusstsein wird hoher Stellenwert beigemessen. Der Preis dafür kann sich in einer schnellen Polarisierung in gut-böse, richtig-falsch usw. zeigen, man bleibt unter sich und seinesgleichen, folgt Gesinnungsautoritäten, hält quasi-ideologisch an ewig Gültigem fest oder schwört Treue bis zum Schluss.

In unserer modernen Gesellschaft ist das wir-orientierte Blau-Meme dort präsent, wo Stabilität und Ordnung wichtiger sind als individuelle Freiheit und Kreativität. Politische, militärische, administrative und religiöse Institutionen sind oft blau geprägt. Die Einhaltung von Regeln und Vorschriften gilt dort als entscheidend für die Sicherheit der Gemeinschaft. Beim Einsatz einer blauen Bewusstheit wird auf hierarchische Systeme wie Kasten, Klassen oder Rassen rekurriert und sprachlich zeigen sich allerlei Grundüberzeugungen in Form von -ismen. Auch die Bereitschaft, sich für jemanden oder etwas zu opfern, um dafür später eine Belohnung zu erlangen, ist ein beobachtbarer Aspekt des Blau-Meme.

Wenn Menschen mit einer Diskreditierung der von ihnen geschätzten Strukturen, Ordnungen oder Regeln konfrontiert werden, so werden die Werte dieses Meme verletzt. Ohne Entwicklungsperspektive und dem Verharren im Blau-Meme zeigen sich negative Auswirkungen dann zuweilen darin, dass Menschen dazu neigen, andere selbstgerecht zu behandeln oder diejenigen zu unterdrücken, die nicht in ihr Weltbild passen. Sie können auch dazu tendieren, auf starre und kreative Problemlösungen erstickende Regeln und Normen zu setzen, anstatt – sofern entwickelt – auf ihr eigenes Urteilsvermögen und ihre eigene Intuition zu vertrauen.

 Auf der nächsten Werte-Ebene beschreibt Clare W. Graves eine Weltanschauung, die sich auf die Überwindung von Einschränkungen und die Maximierung des Erfolgs konzentriert. Das dabei eingesetzte Orange-Meme können wir auch das Meme der Leistung und des Wettbewerbs nennen. Menschen, die situativ dieses Gegenwarts-Bewusstheit in ihrem Verhalten präferiert zeigen, folgen ihrem Bedürfnis nach Verwirklichung von Werten und Motiven wie Fortschritt, Innovation, Leistung, Zielerreichung und Aufstieg. Eine starke Ausrichtung auf autonome Selbstverwirklichung, individuelles Wachstum und persönliche Entwicklung ist dann beobachtbar. Mit einer Tendenz zur Rationalität und Effizienz wird die Welt als eine Maschine angesehen, die optimiert werden kann, um maximale Ergebnisse zu erzielen. Zum Gelingen wird dabei auf wissenschaftliche Methoden und Analysen gesetzt, die als zweckdienlich für das Lösen komplexer Probleme angesehen werden.

In einer Gesellschaft ist das ich-zentrierte Orange-Meme dort weit verbreitet, wo messbarer Erfolg und das Ringen um Anteile an zu verteilenden Ressourcen eine wichtige Rolle spielen. In diesem Kontext neigt diese Ebene zu einer elitären Haltung, die Wachstum und Expansion heilig spricht und in der Loyalität auf Nützlichkeitsüberlegungen beruht. Als Ergebnis der Werteverwirklichung auf Orange locken Glück, Konsummöglichkeiten und Vergnügen.

Eine starke Kritik wird gegen dieses Meme laut, wenn die ihm zueigenen Verhaltens-/Handlungsweisen als reines Eigeninteresse an Status, Rang, Prestige, Profit oder auf Kosten anderer gehend empfunden werden. Der stark auf kurzfristige Ergebnisse fokussierte faktenbasierte Pragmatismus bei Entscheidungen im Orange-Meme wird zuweilen einerseits als bewundernswerter Handlungswille gewürdigt. Werden jedoch Manipulationen der Handelnden an der Natur, an Zahlenwerken, an menschlicher Integrität und Würde oder als Angriff gegen ein bestehendes Gerechtigkeitsgefühl von anderen Menschen wahrgenommen, so folgen auf der anderen Seite meist Einwände hinsichtlich der Auswüchse von Kapitalismus, Materialismus oder Individualismus.

Wenn Menschen mit der Abwertung ihrer Qualifizierung und ihres Erfolgswillens in der Gesellschaft konfrontiert werden, so werden die Werte dieses Meme verletzt. Ohne Entwicklungsperspektive und dem Verharren im Orange-Meme zeigen sich negative Auswirkungen dann zuweilen darin, dass Menschen dazu neigen, situativ ihre ‚Ellenbogen-Verdrängung‘ als taktisches Mittel zur Verteidigung zum Beispiel ihrer erreichten Karrierestufe auszuleben, selbstgefährdende Arbeitsüberlastungen einzuleiten oder zuzulassen oder einen Hang zu einem der zahlreichen Facetten eines Suchtverhaltens zu entwickeln.

Das Orange-Meme zeigt, dass die menschliche Entwicklung nicht auf der Ebene der Gemeinschaft und Stabilität stagnieren muss, sondern dass wir in der Lage sind, uns auf individueller Ebene weiterzuentwickeln und persönliche Erfolge zu erzielen. Wie bei allen anderen Meme auch, zeigt sich die individuelle oder kollektive menschliche Entwicklung in Form einer Reise, bei der jede erreichte Ebene auf den vorherigen aufbaut. [Anmerkung: Auch das Beige-Meme, das ich als  Überlebens-Meme vorstellte und das unter anderem die Gegenwarts-Bewusstheit des Neugeborenen beschreiben hilft, hat entsprechende Vorläufer. Beim Neugeborenen sind es die elterlich entwickelten Bewusstheitsebenen auf der Entwicklungslinie “Rolle als Vater/Mutter‘. Je nach Meme kann die Rolle, die sich beispielsweise ein Vater zuschreibt umrissen werden als Familienmensch und Beschützer (purpur), Oberhaupt der Familie (rot), Erziehungsberechtigter und Versorger (blau), Antiautoritärer Trainer und Wissensvermittler (orange), Empathischer Gesprächspartner und Wertevermittler (grün). Es liegt nahe anzunehmen, dass eine präferierte Rollenbewusstheit als mitprägender Einfluss auf die psychische Entwicklung des Kindes ab dessen Beige-Meme einwirkt.]

 Mit dem Grün-Meme erreichen die Bewusstheits-Ebenen die Werte im Kontext von Menschlichkeit, Gleichheit, Kooperation, sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Nachhaltigkeit. Im individuellen oder kollektiven Verhalten zeigt sich ein Streben nach Harmonie, Ausgleich in Beziehungen und in der Gesellschaft als Ganzes, eine starke Betonung von Toleranz und Akzeptanz gegenüber unterschiedlichen Lebensstilen und Meinungen sowie eine auf Diversität und Inklusion achtende Grundhaltung. Dass jeder Mensch gleiche Rechte und Chancen haben sollte, führt im Grün-Meme zur Verhaltenstendenz, die persönliche Entwicklung mit sozialen Verantwortlichkeiten zu verbinden. Menschen auf dieser Stufe suchen nach einem sozialen Zweck in ihrem Leben und engagieren sich entsprechend.

In vielen modernen Gesellschaften zeigt sich das wir-orientierte Grün-Meme insbesondere bei Einzelpersonen, Gruppen, Institutionen und Organisationen, die einen Schwerpunkt ihres Engagements den vielen Brennpunkten widmen, die im Kontext der Kritik an einer zu starken Leistungsgesellschaft (orange) entstehen und sich in den Themen wie Armutsbekämpfung, Bildungsgerechtigkeit, Fairness gegenüber Minderheiten, Chancenfeldern für Migranten, gerechtere Ressourcenverteilung, Weltgesundheit und vielen mehr zeigen.

Das Grün-Meme wird so als Gesellschaftsbild vorgestellt, in dem ein dogmatisches Klammern an vorausgegangenen Bewusstheits-Ebenen abgelöst wird durch einen pluralistischen und relativistischen Zugang zur Welt. Dieser Zugang ist verbunden mit zahlreichen Forderungen zum Beispiel an eine neue political/people/social/ communicative/ …- correctness, an eine konsensuale Streitkultur, tragfähigere Strukturen für soziale Teilhabe, Infragestellung unbegrenzter Wachstumsphantasien, Nivellierung einst diskriminierender Rollen und Klassenunterschiede, Dezentralisierung von Entscheidungsstrukturen oder dem Lebenswohl für alle Lebewesen.

Kritiker des Grün-Meme argumentieren, dass die Betonung von Gleichheit und Zusammenarbeit auf Kosten individueller Freiheiten und persönlicher Leistung gehen kann. Konstruktiv wird dabei betont, es sei lohnend, ein Gleichgewicht zwischen diesen Werteebenen zu finden und sicherzustellen, dass alle Stimmen gehört und berücksichtigt werden. Destruktiv wird dieses Meme als Zeitgeist-Phantasma etikettiert, das nicht in der Lage sei, sich den globalen Weltkonflikten schnell und wirkungsvoll entgegenzustellen.

Wenn Menschen mit der Abwertung ihrer gemeinwohlorientierten Verantwortungsbereitschaft konfrontiert werden, so werden die Werte dieses Meme verletzt. Ohne Entwicklungsperspektive und dem Verharren im Grün-Meme zeigen sich negative Auswirkungen dann zuweilen darin, dass Menschen dazu neigen, situativ ihre weisheitsbeanspruchende Selbstgefälligkeit regelbrechend auf Kosten anderer auszuleben oder spezifische Formen einer Gesinnungsethik durchsetzen zu wollen. Aber auch das Phänomen, Konflikte zu vermeiden und Entscheidungsprozesse auf Kosten der Effektivität und Leistungsfähigkeit zugunsten einer Gruppenidentität zu entschleunigen, zeigt sich situativ.

Insgesamt verweist das Grün-Meme darauf, dass menschliche Entwicklung nicht auf der Ebene der individuellen Leistung stagnieren muss, sondern dass wir als Gesellschaft in der Lage sind, uns auf sozial verantwortungsvolle Weise weiterzuentwickeln.

Mit den nächsten Werte-Ebenen, beginnend mit dem Gelb-Meme, öffnet sich ein neuer Raum der Weltbetrachtung. Ein Raum, der sukzessive immer mehr systemische, holistische und kosmische Aspekte für die Bewältigung komplexer überindividueller Themenstellungen vorhält und auf den sich nur unpassende Antworten in den Meme bis einschließlich Grün finden lassen.

 Das erste dieser Ebenen ist das Gelb-Meme, das oft als Stufe der Integration und des Systemdenkens bezeichnet wird. Es repräsentiert eine komplexe und integrative Sichtweise auf die Welt, bei der Menschen die Welt als ein System betrachten, in dem alles miteinander verbunden ist [also auch alle Werte-Ebenen bis einschließlich Grün] und wo es erforderlich ist, verschiedene Perspektiven und Weltanschauungen zu integrieren und zu verstehen, ohne sich auf eine bestimmte Sichtweise festzulegen. Mit dieser umsichtigen Haltung des Einschließens aller Zugänge zur Lösung komplexer Probleme leistet das Gelb-Meme einen Beitrag zu einer mentalbarrierefreieren Kommunikation.

Dem Gelb-Meme liegt es an sich fern, andere Werte-Ebenen abzuwerten, vielmehr können Menschen in Situationen, die dieses Meme erfordern, mehrere Standpunkte einnehmen und gleichzeitig aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten [eine Fähigkeit, die jedoch häufig bei Menschen, die das Gelbe-Meme noch nicht integriert haben, Irritationen hervorruft, weil sich diese Menschen womöglich einen festen Standpunkt, eine klare Ansage oder eine schnelle Lösung erhoffen, zu denen Gelb entlang ihrer Entwicklungsgeschichte eine gewisse Distanz aufgebaut haben]. Die Verhaltens- und Handlungsweisen des Gelb-Meme wirken integrierend und sind befreit von Erwartungen anderer und von Bindungen aus der Vergangenheit. Das Bedürfnis nach öffentlicher Anerkennung ist gering, das nach Wissen, Flexibilität und Kompetenzentwicklung hat Vorrang vor Macht, Status oder Gruppenempfindlichkeiten.

Obwohl das Gelb-Meme ein Menschenbild adressiert, das den Menschen so nimmt wie er werden könnte und die Wege, die er ging, um zu werden, der er heute ist, lediglich als Grundlage für weitere Entwicklungsschritte ansieht, gibt es auch Kritik an dieser Ebene. So wird argumentiert, dass die Betonung systemischeren Denkens zu einem Mangel an Akzeptanz früher entwickelter Werte führen kann oder dass Entscheidungen, die situativ mit dem Gelb-Meme getroffen werden, Menschen nicht dort abholen, wo sie stehen. Bei dieser Kritik wird jedoch womöglich übersehen, dass es zur Entwicklung des Gelb-Memes oft genug die Konfrontation mit Themen bis ‚grün‘ gab und dass Menschen, die diese Bewusstseinsentwicklung zu Gelb vollzogen haben, auf authentische Beispielgeber in ihrer Biografie verweisen können, durch deren gelber Weltanschauung eine positive Wirkung auf gesellschaftlich hochkomplexe Themenstellungen beobachtbar war.

Zudem muss einem Menschen, der sich hin zu Gelb entwickelt bewusst sein, dass sich der kommunikative Zugang zu vielen Menschen alleine deshalb erschweren kann, weil diese in ihrem Alltag mit Themenstellungen konfrontiert werden, die diese Werte-Ebene nicht benötigen. Der Preis, den Menschen mit einem entwickelten Gelb-Meme dann zuweilen zu zahlen haben, ist eine Art intellektueller Verarmung. ‚Stell Dir vor, die Probleme werden hochkomplex und keiner denkt der Situation angemessen mit‘ – wer sich in einem solchen Umfeld wahrnimmt, muss lernen, auf psychischer Ebene mit Entfremdungsgefühlen umzugehen. Demgegenüber steht im Gelb-Meme ein hohes Maß an Reflexion und Wertebewusstsein, das dabei hilft, eigene Grenzen und die Wirkung eigener Überzeugungen zu erkennen und zu akzeptieren. Die Einstellung, Wissen in den Kontext eines unendlichen Prozesses zu stellen und als Konsequenz davon Bildung als kontinuierlichen Prozess lebenslangen Lernens anzusehen, kann konstruktiv zu einer Blickfelderweiterung führen, die das Finden von Lösungen an für viele andere Menschen unerwarteten Stellen ermöglicht. Negative Auswirkungen einer unverhältnismäßigen Betonung des Gelb-Memes wären hingegen endlose Diskussionen und Reflexionen, ohne zu praktischen Lösungen zu kommen. Auch die Vernachlässigung der Bedeutung von emotionalen Aspekten und menschlichen Beziehungen werden bei Gelb zuweilen beobachtet.

 Noch über dieses systemische Gelb-Meme hinaus verweist eine Verhaltens- oder Handlungsweise von Menschen, die situativ eine ganzheitliche Sicht auf die Welt einnehmen: es das im Graves Value System genannte Türkis-Meme. Menschen auf dieser Werte-Ebene haben ein wirkliches Verständnis davon, dass alle Dinge in einem größeren Kontext miteinander dynamisch verbunden sind und dass ihre Handlungen und Entscheidungen die Welt um sie herum ebenso dynamisch beeinflussen.

Eine wichtige Eigenschaft des Türkis-Meme ist die Fähigkeit, Paradigmenwechsel voranzutreiben. Menschen auf dieser Stufe sind in der Lage, neue Ideen und Konzepte zu entwickeln, die grundlegende Veränderungen in der Gesellschaft bewirken können. Sie haben ein tiefes Verständnis dafür, dass allgesellschaftlich komplexe Probleme nur durch ganzheitliche und integrative Ansätze gelöst werden können. In meinem Verständnis wäre eine Rolle im türkisen Meme die eines Gesellschaftscoachs, und in meiner Hoffnung entspräche diese Meme-Bewusstheit auf politischer Ebene die eines Bundespräsidenten, der seinen Beitrag dafür leisten will, die Gesamtgesellschaft  auszurichten auf Themen, die zeitlich weit über das Leben aller hinausreicht, die aktuell Bürger des Staates sind.

Das Türkis-Meme wird zwar oft mit spirituellen Traditionen und östlichen Philosophien in Verbindung gebracht, da es eine starke Betonung auf Achtsamkeit, Mitgefühl und das Streben nach höheren Bewusstseinszuständen hat. Diese Erklärung greift jedoch zu kurz, denn anderen Meme-Ebenen eben diese menschlichen Qualitäten indirekt abzusprechen, ist mit der tiefen Gelassenheit, mit der im Türkis-Meme auf das Wohl aller Menschen und des Planeten geschaut wird, nicht vereinbar. Vielleicht ist es angemessener, dieser Werte-Ebene die Form eines holistischen Weisheitsvertrauens zuzuschreiben, das den Gedanken, dass jedwedem Problem eine Lösung – wo und wann auch immer – gegenübersteht, mit dem Willen integriert, Hindernisse, die das Finden dieser Lösungen erschweren, mit Besonnenheit und Demut zu identifizieren und zu kommunizieren. Eine günstige Konkretisierung auf Verhaltens- oder Handlungsebene erfährt das Türkis-Meme in konsensbasierten und allfriedensorientierten Kooperationen mit Selbstorganisation und Selbstregulierung innerhalb der Gesellschaft. Dem Blick auf die Welt als eine unteilbare Einheit wird eine gesamtweltliche Suche nach geistig sinnvollen Wegen für die drängenden Probleme, für wen, wo und wie sie sich auch immer zeigen, zur Seite gestellt. Gelingt der Transfer des Türkis-Meme in praktisches Handeln nicht, so zeigt sich womöglich eine Art Elfenbeinturm-Transzendenz, die mehr Welt-Distanzierung zum Ausdruck bringt als die der an sich dem Meme inhärenten Liebe zu tiefer Integration aller Perspektiven im Kontext der jeweiligen Themenstellung.

 Eher noch im Forschungsfeld der Bewusstseinspsychologie und daher hier nur minimal skizziert findet sich das Korall-Meme im Graves Value System. Auch dieses Meme ist geprägt von einem tiefen Verständnis der Einheit und Verbundenheit aller Dinge, doch zeigen Menschen, die Themen mit dieser Werte-Ebene adressieren, in ihrem Verhalten oder in ihren Handlungen einen kristallinen Glauben an das kosmische Mysterium und die Existenz von Meta-Ebenen des Bewusstseins.

Graves und Frankl im Berufskontext

Beige – Überleben. Frankl sieht in der Trotzmacht des Geistes die zentrale Ressouce dafür, auch die kritischsten Lebensmomente und Grenzerfahrungen meistern zu können.

Berufsbeispiel:
Eine Lagerarbeiterin verliert durch eine Unternehmensschließung ihre Existenzgrundlage. Sie weiß nicht, wie sie ihre Miete zahlen soll, die Angst lähmt sie. In diesem Moment findet sie Sinn, indem sie all ihre Kräfte mobilisiert: Sie organisiert kleine Nebenjobs, verzichtet auf Komfort, hält durch. Ihre Sinnfindung besteht darin, nicht zu resignieren, sondern Tag für Tag das Überleben ihrer Familie zu sichern – getragen von der inneren Freiheit, der Verzweiflung nicht das letzte Wort zu lassen.

Purpur – Zugehörigkeit. Frankl sieht in Beziehungen einen zentralen Ort der Sinnfindung, da hier Werte verwirklicht werden können, die durch Liebe, die Erfahrung der Einzigartigkeit anderer Menschen und die gegenseitige Zuwendung geprägt sind.

Berufsbeispiel:
Ein junger Softwareentwickler fühlt sich in einer neuen Stadt einsam und orientierungslos. Er zweifelt an seiner Entscheidung, den Job anzunehmen. Halt findet er, als er sich einem Kollegen-Stammtisch anschließt. Durch kleine Rituale – gemeinsames Kochen, wöchentliche Treffen – erlebt er Zugehörigkeit. Sinn entsteht nicht primär durch seine Arbeit, sondern durch das Gefühl, eingebettet und gebraucht zu sein. Er erkennt: In der Gemeinschaft findet er eine Aufgabe – füreinander da zu sein.

Rot – Macht. Frankl sieht in der Macht des Geistes die Person zur Stellungnahme aufgerufen.

Berufsbeispiel:
Eine Vertriebsmitarbeiterin erlebt, wie ihr Vorgesetzter sie ständig kleinredet und ihr Aufträge entzieht. Sie fühlt sich gedemütigt. Anstatt sich zurückzuziehen, beschließt sie, selbstbewusst ihre Ergebnisse sichtbar zu machen und ein eigenes Projekt durchzusetzen. Sie findet Sinn darin, sich gegen Ungerechtigkeit zu behaupten. Ihr Mut, Grenzen zu setzen und für ihre Würde einzustehen, macht die Situation erträglich – auch wenn das Risiko besteht, anzuecken.

Blau – Ordnung, Struktur, Pflicht. Frankl sieht die „Pflicht“, im Sinne einer Anerkennung der Verantwortung für die eigene Lebenswelt als einen wichtigen Weg zur Sinnfindung, indem man sich aktiv einer Sache widmet, indem man sich einer Person oder Gruppe hingibt, oder indem man auch in unveränderbaren Situationen die Einstellung bewahrt, über das eigene Ego hinauszuwachsen.

Berufsbeispiel:
Ein Beamter im Bauamt ist frustriert: Die Flut an Anträgen wächst, Bürger beschweren sich, er fühlt sich angegriffen. Er findet Sinn, indem er sich bewusst macht, dass seine Arbeit nicht nur Aktenberge bedeutet, sondern Rechtssicherheit für alle. Er sagt sich: „Wenn ich korrekt arbeite, ermögliche ich Menschen, ihre Häuser sicher zu bauen.“ Pflichtbewusstsein und die Treue zum Wert der Gerechtigkeit geben ihm Halt – er sieht seine Aufgabe im größeren Rahmen.

Orange – Leistung. In Frankls Sinnlehre wird ein Weg der Sinnfindung darin gesehen, schöpferische Werte wie Leistung, Arbeit oder Fleiß zu verwirklichen.

Berufsbeispiel:
Eine Ingenieurin wird durch Dauerstress und Konkurrenzdruck ausgebrannt. Sie fragt sich, wofür sie das alles macht. Sinn findet sie, als sie ein innovatives Produkt entwickelt, das Energie spart und Unternehmen nachhaltiger macht. Hier erkennt sie: „Meine Leistung trägt zu etwas bei, das über meinen Bonus hinausgeht.“ Ihr Wille zum Sinn verwandelt den bloßen Karriere-Ehrgeiz in ein Motiv, einen spürbaren Beitrag zu leisten.

Grün – Gemeinwohl.  Frankl zufolge lässt sich Sinn darin finden, indem man sich für etwas engagiert, das nicht auf einen selbst zurückfällt, also für eine Aufgabe, ein Projekt oder für andere Menschen.  

Berufsbeispiel:
Eine Teamleiterin in einer NGO erlebt Überlastung: zu viele Projekte, zu wenig Ressourcen. Sie droht, sich im Chaos zu verlieren. Sinn findet sie, indem sie auf die Bedürfnisse ihres Teams eingeht: Sie organisiert Gesprächsrunden, fördert gegenseitige Unterstützung. In dem Moment, in dem sie erlebt, dass ihre Arbeit die Menschen um sie herum stärkt, spürt sie: „Auch wenn es anstrengend ist – wir schaffen gemeinsam etwas, das trägt.“

Gelb – Integration und systemisch-synergetisches Denken. Frankl gibt zu verstehen, dass der Mensch nie frei ist von Bedingungen aller Art [hier können wir auch alternativ sagen, nie frei ist von Bedingungen im Kontext der vMeme von Beige bis Grün], die sein Leben mitbestimmen. Aber er ist stets frei und verantwortlich für unendlich viele Perspektiven, die ihm den Bereich des Möglichen eröffnen.

Berufsbeispiel:
Ein Projektmanager arbeitet in einem internationalen Konzern, wo Kulturen und Abteilungen ständig aneinandergeraten. Konflikte und Sackgassen frustrieren ihn. Statt aber vorschnell Partei zu ergreifen, beginnt er, Muster zu analysieren und flexiblere Lösungen zu entwickeln. Er erkennt, dass er Situationen nicht beherrschen, sondern gestalten kann. Sinn findet er in seiner Freiheit, unterschiedliche Sichtweisen zu verbinden und neue Spielräume zu öffnen.

Türkis – Ganzheit. Frankl betont das eigentliche Humane, das Geistige (Spirituelle) der Person und damit – wie Max Scheler – die besondere Stellung des Menschen im Kosmos

Berufsbeispiel:
Eine Ärztin in einem Entwicklungsprojekt in Afrika erlebt Ohnmacht angesichts von Armut und Krankheit. Statt an der Überforderung zu zerbrechen, spürt sie Sinn darin, dass jeder geheilte Patient, jedes kleine Stück Aufklärung, Teil eines sehr viel größeren Prozesses der Heilung ist. Sie erkennt: Ihr Handeln ist eingebettet in das Ganze der Menschheit. Der Sinn liegt nicht in der schnellen Lösung aller Probleme, sondern darin, durch ihr Tun zur Balance des Lebens beizutragen.


 

  

Wenn wir nun die drei Personen mit ihren Wertesystemen –  gefärbt nach dem Graves System – anschauen, dann erkennen wir deutliche Unterschiede. Die Person links zeigt ein recht differenziertes Wertesystem mit einem weiten Spektrum, bei der mittlere Person dominieren die vMeme von rot, blau und orange und bei der rechten Person von orange, grün bis gelb.

Würde die rechte Person vor einer Aufgabe stehen, die einer ‚gemeinwohl orientierten‘ grünen Werte-Bewusstheit bedarf, dann kann angenommen werden, dass sie für diese Aufgabe Verhaltens- und Handlungsmuster bereit hält, die der Person in der Mitte aufgrund ihrer bisherigen Entwicklung noch nicht zur Verfügung stehen. Würde dieser, mittleren, Person die Aufgabe übertragen, wäre zu erwarten, dass sie mit ihr deshalb überfordert ist, weil sie mit ihren bestehenden Grundüberzeugungen der Komplexität der Aufgabe nicht gerecht werden kann. Würde dies nicht rechtzeitig erkannt, wäre zu erwarten, dass sie mit ihrer starken rot-blauen Wertebewusstheit versuchen würde, die Aufgabe anzugehen. Als Folge davon könnte sich über kurz oder lang ein kritisches Feedback ergeben, insbesondere von Personen, die über eine grüne oder darüber hinausreichende Wertebewusstheit verfügen. Der mittleren Person stünde nun zwar der Weg offen, die Werte zu entwickeln, sich also mit der Komplexität der Aufgabenstellung zu befassen und ‚ihr Mindset‘ entsprechend weiter auszurichten. Wird eine solche Entwicklung aber zum Beispiel aus Zeitdruck heraus erschwert und steht die Person dadurch bedingt unter Stress, darf die positive Aussicht auf eine gelingende Persönlichkeitsentwicklung als eher erschwert eingeschätzt werden. Aus präventiver Sicht wäre es hier erfreulich, hätte die Person ihr Wertesystem rechtzeitig einmal analysiert, um sich darüber die Option zu bewahren, die sie potenziell belastende Aufgabe wertebewusst abzulehnen.

Wieder anders sieht es bei der Person links aus. Hier zeigt sich ein recht heterogenes Wertebild mit deutlichen Hinweisen auch auf eine gelbe und türkisfarbene Werte-Bewusstheit. Mit dieser Person müsste womöglich darüber gesprochen werden, wann sie die Übernahme der Aufgabe gegebenfalls langweilen könnte, da die Verwirklichung gelber und türkiser Werte bei dieser Aufgabe weniger in Aussicht steht.

Eigentlich ist Leben einfach – 3

Das genetische Substrat ist individuell einzigartig, aber nicht nur das. Für das Wertesystem eines Menschen gilt dies ebenso, wir können es metaphorisch als das noetische Substrat des Menschen verstehen – also als die geistig-seelische Grundlage, die sein Denken, Handeln und Erleben trägt. Viktor Frankl nennt die Werte einer Person ‚Sinn-Universalien‘, womit er zum Ausdruck bringt, dass jeder Mensch als Träger von Geist, Freiheit, Verantwortung und Würde auf Sinn ausgerichtet ist und den in jeder Situation gegebenen Sinn finden muss. Dabei wiederum unterstützt ihn sein individuelles und einzigartiges Wertesystem.

Aus Genetik und Noetik ergeben sich – hier beispielhaft dargestellt – drei in ihrer Lebenswelt agierende Personen, jeweils angesehen als ein absolutes Novum, als nie zuvor dagewesene und nie wieder in selber Form wiederkehrende Wesen.


                   stehen 

Stellen wir uns nun vor, diese drei Personen seien Kollegen, Freunde, Familienmitglieder oder durch andere Kontexte verbundene Menschen. Alle drei stehen gemeinsam vor einer belastenden Situation – es beginnt ein Kommunikationsprozess über Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungsoptionen. Alle drei wollen die Belastung durch die Situation mindern, jeder meint es auf seine Weise gut. Was nun, wenn sich trotz guter Absichten kein Ausweg findet? Wenn die Drei sich im „Ja, aber“ erschöpfen? Nicht selten wird der weitere Prozess dann über einen Machteinfluss [als Kompetenz, Geld, Status, Hierarchie …] gesteuert: ‚Ober sticht Unter‘; ‚Wer am lautesten spricht‘, ‚Wer zahlt, hat`s Sagen‘ … – wir kennen das. Wer von den Dreien wird ‚das Rennen‘ machen, die ‚finale Entscheidung‘ treffen, sich ‚durchsetzen‘ …? Wer wird wen damit womöglich ‚ab-werten‘?

Nehmen wir weiter an, die Situation ist nicht nur problematisch und belastend, sondern sogar eine zeitkritische Krisen. Hier einen langen Prozess der Konsensbildung in Kauf zu nehmen, wird sich kaum anbieten – ein (auch nicht immer) ‚billiges‘ Beispiel dafür ist die Frage, wer einen Elfmeter schießt, wenn es darum geht, die Meisterschale zu holen oder den Abstieg zu verhindern. Wer hier darauf trainiert ist, eben in diesem Moment die Nerven zu bewahren, das Getöse des Umfelds zu überhören und um seine Resilienz zu wissen, sollte die Aufgabe nicht zum gewünschten Ergebnis führen, der schnappt sich hoffentlich den Ball – oder soll er erst den Trainer, den Kapitän, das Publikum oder einen Telefon-Joker befragen?

Schauen wir genauer hin, dann finden sich in solchen Situationen auf der ‚Oberfläche‘ allerlei Kriterien, die Hinweise darauf geben können, warum Person X sich einer Krisensituation beherzt und mit Köpfchen annimmt: körperliche Fitness und psychische Belastbarkeit, stabiles persönliches Umfeld, ein bereits gut gefülltes Erfolgskonto, Qualifizierungen und manches mehr.

Schaut man tiefer, dann landet man letztlich im persönlichen Wertesystem – dem System, das sich ab der Kindheit immer weiter entwickelt und bis ins hohe Alter weiter entwickeln kann. Ein System, in dem elterliche Projektionen ebenso zu Hause sind wie selbständig beantwortete Lebensfragen. Je gereifter die Person ihre Selbst-Erfahrungen mit Selbst-Denken und Selbst-Fühlen vollzogen hat, je selbst-sicherer und selbst-vertrauensvoll kann sie sich den gegebenen Aufgaben stellen. Vielleicht bietet sich für ein solches ‚Gesamtpaket‘ vollzogener Reifung der Begriff ‚Selbst-Bewusstsein‘ an, ein Bewusstsein, das mit fortschreitender Entwicklung im Hier und Jetzt zu einer ‚Selbst-Bewusstheit‘ führt, mit der sich eine Person darüber bewusst ist, dass es an ihr ist, in der konkreten Situation und genau jetzt Stellung zu beziehen.

Selbst-Bewusstheit können wir aus dieser Perspektive verstehen als ‚auf den Punkt der Gegenwart‘ zusammengebundener, kondensierter Prozess der Bewusstseinsentwicklung. Wer sich diesen Prozess bewusst gemacht hat und durch ihn seiner Werte bewusst ist, der hat Selbst-Erkenntnis aufgebaut und kann damit entlang seines individuellen, selbstentwickelten Wertesystems ’selbst-verantwortlich‘ entscheiden und handeln.

Schauen wir in einem nächsten Schritt dazu einmal genauer auf dieses besondere System.

Eigentlich ist Leben einfach – 2

So genetisch einzigartig der Bauplan, die ‚Software‘ jedes Menschen ist, so einzigartig ist auch das Reich seiner Werte. Bedenken wir dabei, dass wir im deutschen Sprachgebrauch derzeit gut 400 Begriffe finden, die wir in sinntheoretischer Anschauung als Wertebegriffe verstehen, dann ergeben sich daraus schier unendliche Kombinationen an Wertesystemen, die Menschen ausprägen können. Viele der individuellen Wertesysteme orientieren sich dabei an soziokulturellen Normen. Diese können durch die Ursprungsfamilie und-oder durch andere Systeme, in denen sich die Person bewegt und verhält, als ‚wertvoll‘ definiert worden sein – sich ihnen anzupassen oder sich ihnen entgegen zu positionieren, liegt in der Freiheit und Verantwortung jeder Person. Wer sein Verhalten an zu vielen Werten ausrichtet, die den Verhaltens- und damit Werteerwartungen des jeweiligen Systems zuwiderlaufen, wird extremer formulierte Feedbacks (zum Beispiel positiv: Held …, negativ: Nichtsnutz…) erhalten als die Menschen, die sich in einem Erwartungskorridor verhalten.

Nimmt die Komplexität eigener privater und beruflicher Aufgaben zu, entstehen mit ihnen eigene und fremde Verhaltenserwartungen, die – können sie anfangs vielleicht nur unzureichend erfüllt werden – zu Werteentwicklungsprozessen führen. Beispiel: Eine Person hat mehrere berufliche Stationen mit zunehmender Personalverantwortung hinter sich. Aus ihrer Begabung, sich mit anderen Menschen konstruktiv austauschen und sie gut unterstützen zu können, erwächst die Überlegung, mit einer Mediationsausbildung das bestehende Rollenrepertoire zu professionalisieren. Auf ihrem Lernprozess erkennt die Person den Stellenwert eines Mediatoren-Verhaltens im Kontext von Diskretion, Neutralität und Respekt. Sie erkennt, dass sie in früheren Rollen dem Wert Neutralität kaum gerecht werden musste, eher im Gegenteil wurde von ihr Positionierung und eigene Lösungsstärke erwartet. In ihren ersten Mediationsgesprächen fühlt es sich für die Person gut an, eine allparteiliche Vorgehensweise zu praktizieren, und mit der Zeit schätzt sie den Wert Neutralität für sich als sinnvolle Ergänzung ihres Wertesystems.

Wer sein Wertesystem aktiv entwickeln will, kann mit Blick auf das, was an zunehmender Komplexität in der nächsten Lebensphase zu erwarten ist, ein Szenario dafür erstellen, welchen neuen Werten wohl mehr Raum zur Entwicklung gegeben werden sollte. Hierbei können qualifizierte Gesprächspartner, die nicht nur im Kontext der Kompetenzentwicklung, sondern auch im Thema Werteentwicklung fundiert arbeiten, hilfreich unterstützen.

 

Eigentlich ist Leben einfach – 1

Woran erkennt man, dass ein Mensch lebt? Einfach gesagt daran, dass er sich verhält. Körperlich und/oder psychisch, in den meisten Situationen psychophysisch. Damit ist noch nicht gesagt, ob er gut lebt, gesund lebt, … Und auch ist damit nicht erkannt, warum er so lebt, wie er lebt. Und auch nicht, worum es ihm geht, wenn er lebt. Um Antworten auf diese Fragen zu finden, müssen wir dahin schauen, was der Urgrund individuellen Verhaltens ist. Es sind die Werte der Person.

Wir wissen, das Genom ist die komplette Erbinformation eines Lebewesens. Es besteht aus DNA und enthält alle Gene, die nötig sind, um den Organismus aufzubauen und seine Funktionen zu steuern. Epigenetische Marker können dabei beeinflussen, welche Gene ein- oder ausgeschaltet werden, ohne die DNA-Sequenz selbst zu ändern. Dabei docken kleine Moleküle an einen DNA-Strang an. Sie verhindern, dass eine benachbarte Gensequenz abgelesen und in ein Protein übersetzt wird. Der Genabschnitt bleibt stumm. Es gibt Hinweise darauf, dass bestimmte Umweltfaktoren, Stress oder Traumata solche epigenetischen Marker erzeugen können, die dann wie das Genom selbst an Nachkommen weitergegeben werden.

Insgesamt kann man das Genom wie einen Bauplan oder eine ‚Software‘ für den menschlichen Körper verstehen. Was jedoch die Person aus diesem Bauplan macht, liegt in ihrer Freiheit und Verantwortung. Ob ich also eine Stupsnase habe, liegt am Genom, ob ich andere an der Nase herumführe oder nicht, am Einsatz meiner Freiheit und Verantwortung.

Ein Beispiel: Eine legasthenische Störung (Legasthenie) ist eine spezifische, weitgehend genetisch bedingte Entwicklungsstörung des Lesen- und Schreiblernens, die durch tiefgreifende, dauerhafte Schwierigkeiten im Schrifttexterwerb gekennzeichnet ist. Eine diagnostizierte Störung ist zu ca. 70% vererbt. Mehr als zwanzig verschiedene Gene oder Genorte sind bekannt, die eine Rolle bei der Entstehung einer Legasthenie spielen. Allgemein kann man sagen: Vieles an einem genetischen Bauplan, wie zum Beispiel der beschriebenen Störung, kann die Person nicht direkt beeinflussen – hier braucht es zur Unterstützung der Person geeignete Hilfsmittel.

Eine Lese-Rechtschreib-Schwäche dagegen ist eine weitgehende erworbene, oft vorübergehende Schwierigkeit, die durch äußere Umstände wie schlechte Lernmethoden, familiäre Probleme oder physische Ursachen wie eine längere Krankheit verursacht wird und wieder behoben werden kann. Dass hierbei nun – nach der fachmännischen Aufklärung des Phänomens – die Freiheit und Verantwortung der betroffenen Person zum Einsatz kommen muss und maßgeblich den Erfolg des Entwicklungsprozesses bestimmt, liegt auf der Hand. Damit dies geschieht, hat die Person auf eine Frage ihres Lebens zu antworten, eine Frage, die in diesem Fall vielleicht lautet: „Willst Du mich, Dein Leben, ohne eigenständigen Zugang zu geschriebenen Geschichten, Dokumenten, Büchern und Nachrichten führen?“ Lautet die Antwort nein, weiß die Person offenbar, worum es ihr nun zu gehen hat. Dann hat sie einen guten Grund für ihre Stellungnahme. Lautet die Antwort ja, dann hat die Person offenbar bereits einen Grund, den sie in der Lage sein sollte, auszusprechen. 

Kurz: Alles, was ein Mensch durch seine Umwelt, durch Übung und Erfahrung lernt oder auch nicht lernt, wird nicht direkt durch die DNA [hier ein KI generiertes Bild] vorgegeben. Wenn es das Genom also weitgehend nicht ist, was einen Menschen in seine Entwicklung mittels Lernen und Selbstdenken führt, dann stellt sich die Frage, was es denn dann ist? Was löst der Mensch aus, wenn er seine genetische ‚Software‘ in Anwendung bringt?

Für die Antwort auf diese Frage können wir nun neben der Welt der Gene das Reich der Werte stellen. Werte werden durch Verhalten sichtbar. Was bereits ein Kind an Verhalten bei anderen Menschen wahrnimmt, sind letztlich sichtbar gewordene Werte dieser Personen. Wir können annehmen, dass die unmittelbaren Bezugspersonen des Kindes mit ihren Verhaltensweisen die ihnen zugrunde liegenden Werte auf das Kind projizieren – bewusst oder unbewusst. Inwieweit das Kind diese Projektionen dauerhaft internalisiert, liegt in der Freiheit und Verantwortung des Kindes. Dabei können wir annehmen, dass ein Kind, das Verhaltensweisen entwickelt, die den Wertmaßstäben der Bezugspersonen Rechnung tragen, Wertschätzung erfährt. Ein solches Kind ist dann ‚einer von uns‘, ‚aus meinem Holz geschnitzt‘, ‚wie der Vater so der Sohn‘ usw. – ein solches Kind zeigt eine Art Deckungsgleichheit der Werte an. Man könnte es auch so formulieren: die Bezugsperson hat ihren berechtigten Auftrag, das Kind zu sich zu ziehen, angenommen und wahrgenommen. ‚Er-Ziehung‘ hat funktioniert. Eines Tages wird sich der erwachsene Mensch dann womöglich darüber wundern, dass er Verhaltensweisen zeigt, die er irgendwie mit denen der Bezugsperson(en) als vergleichbar ansieht.

Was aber, wenn das eigene Kind ‚aus der Art schlägt‘, wenn es Verhaltensweisen zeigt, die sich mit den eigenen Vorstellungen nicht in Deckung bringen lassen? Gelingt es der Bezugsperson, dieses ‚Anders-werden‘ des Kindes anzuerkennen, dann kann auch dies als Ausdruck bestimmter Werte angesehen werden, die es ihr erlauben, ein solches ermöglichendes Verhalten zu zeigen. Mit Viktor Frankl kann argumentiert werden: Jeder Mensch hat Bedingungen (hier: jeder Bezugsperson werden durch ihr Kind Bedingungen aufgezeigt), doch jeder Mensch kann sich frei und verantwortlich so oder so zu diesen Bedingungen stellen (zum Beispiel so: abweisend, sanktionierend oder so: ermöglichend, unterstützend). Umgekehrt gilt dies auch für das Kind.

Findet durch Entwicklung zunehmender Reflexivität des Kindes, des Jugendlichen, ein Prozess des Selbstdenkens statt, dann vermag die junge Person sich gegen die projizierten Verhaltensmuster und die ihnen zugrundeliegenden Werte aufzulehnen oder sie als gut für die eigenen Entwicklung anzukennen, sie zu revidieren oder umzuformen. So entsteht sukzessive das eigene Wertesystem, in dem internalisierte und akzeptierte Werteprojektionen auf der einen Seite und durch Selbstdenken entwickelte, individuelle Werte auf der anderen Seite zusammenkommen. Der selbstdenkende Mensch setzt so – analog zum Bild der epigenetischen Marker – seine Wertemarker.

In einer Werteanalyse lässt sich herausarbeiten, welche Werte in einem individuellen Wertesystem sich als Werteprojektion und welche als Ergebnis eigener Werteentwicklungsprozesse angesehen werden können. Zuweilen formulieren Menschen dann im Rahmen einer solchen Analyse den Wunsch, für die vor ihnen liegende Lebensphase weiteren Werten mehr Bedeutung einzuräumen oder sich von (weiteren) Werteprojektionen zu lösen. Solche Prozesse sind möglich – an sich lebenslang. Eine Entscheidung dafür kann nie die Empfehlung von Dritten sein – denn jede Empfehlung basiert letztlich auf dem Wertesystem des Empfehlenden. Würde eine Person einer solchen Empfehlung folgen, dann liefe sie Gefahr, an einem wesentlichen Punkt das Leben eines anderen zu leben. In der Logotherapie oder im Sinncoaching stellen wir daher ’nur‘ die Mittel zur Verfügung, nicht aber das ‚Rezept‘ aus für diese Form der Entwicklung. Es ist zu beachten: Eine Werteentwicklung hat Folgen, zum Beispiel hinsichtlich eigener Erziehungsformen, dem Beibehalt angenommener Rollen und Beziehungen, der Veränderung von teilweise lange etablierten Verhaltensweisen und anderem mehr. Dies darf und kann nur in der Freiheit und Verantwortung dessen stehen, der sich auf seine persönliche Reise ins Reich der Werte aufmacht.

Geschafft. Das neue Buch ‚Sinncoaching‘ ist fertiggestellt.

Wie kann Coaching bei existenziellen Zukunftsfragen wirksam unterstützen? In einer Welt geprägt von multiplen Krisen, gesellschaftlichen Umbrüchen und wachsender Komplexität rückt die Frage nach Sinn verstärkt in den Fokus vieler Menschen. Dieses Praxishandbuch richtet sich an Coachs, die ihre Klientinnen und Klienten dabei unterstützen wollen, Orientierung zu finden, persönliche Werte zu klären und sinnerfüllte Lebensentscheidungen zu treffen.

Das Buch beleuchtet theoretische Grundlagen, existenzphilosophische Bezüge und methodische Zugänge des Sinncoachings – inspiriert durch das Menschenbild Viktor Frankls. Es zeigt, wie Sinnimpulse erkannt, reflektiert und in konkretes Handeln überführt werden können – auch dann, wenn emotionale Erschöpfung, Lebenszweifel oder Überforderung das Erleben dominieren.

Elf Kapitel verbinden Konzepte wie Zuversicht, Wertevielfalt, Trotzmacht und Träume mit ausführlich beschriebenen Coachingprozessen. Anhand realer Beispiele wird deutlich, wie Sinncoaching in unterschiedlichen Lebenskontexten wirkt.

Dieses Buch richtet sich an erfahrene Coaching-Professionals, die mit Tiefe und Haltung arbeiten möchten. Es erweitert das Methodenspektrum für existenziell ausgerichtete Coachings und unterstützt dabei, auch in unsicheren Zeiten tragfähige Antworten zu ermöglichen – wertebewusst, ressourcenorientiert und sinnerfüllt.

Sinn ist der eigentliche und tiefste Beweggrund eines Menschen, um zu handeln, schrieb Frankl 1946. Und nicht nur das. Bereits willentlich auf die Suche nach Sinn zu gehen, sich für den Sinn im Leben zu motivieren, offen zu werden oder zu bleiben für das, was in der Welt an Menschen und Aufgaben auf einen wartet – all das sind Aspekte auf der Reise hin zum Sinn. Coaching-Klienten bringen vieles davon mit. Eine innere Stimme sagt ihnen, dass es Zeit ist, eine Wendung vorzunehmen.

Manchmal leitet der Klient mit einer Sinnfrage das Coaching ein, explizit und drängend. Manchmal fragt er, ob es noch sinnvoll sei, dies oder das zu entscheiden oder zu unternehmen. Manchmal taucht die Frage nach Sinn erst auf, nachdem das anfänglich formulierte Anliegen während des Coachingprozesses durch hinzutretende Ereignisse nicht mehr relevant ist. Manchmal geben Klienten zu verstehen, dass sie sich schon lange mit dem Sinn im Leben beschäftigen. Und manchmal fragen sie, ob das, was sie aktuell fühlen, wohl so etwas wie eine Sinnkrise sein könnte. Hier setzt die Begleitung von Coaching an, alles mit dem Ziel, dem Klienten eine Stärkung seiner Sinnwahrnehmung zu ermöglichen und ihm dabei zu helfen, Unentscheidbares entscheiden zu können.

2024 – neu: 16. Erste Idee für eine Integrale Logotherapie

Da wird man nichtsahnend in die Welt geworfen und wird mit dem ersten Luftschnapper auf Konfrontation geeicht. Von einem Jemand oder einem Etwas. Der Raum der Erwartungen, in den man da hineinkonfrontiert wird, ist vollgestopft mit Vorstellungen, Idee, Wünschen, Hoffnungen und Motiven anderer. Man wird erzogen, belehrt, sozialisiert, ausgerichtet, indoktriniert, unterrichtet, instrumentalisiert, geprägt, … – meist mit guten Absichten, in liebevollen Beziehungen, Strukturen und gar nicht mal so selten mit dem Gedanken der Eltern, mit eigenen Kindern der Welt etwas zurückgeben zu können, was man selbst einst empfangen hat: mit Leben. Ausgleich, Bindung, Ordnung: diese drei Prinzipien dürfen in keinem System verletzt werden, ansonsten drohen Stress, Konflikt oder Krieg. Systemiker haben aus diesen Überlegungen heraus zentrale ‚Systemgesetze‚ abgeleitet [einfach mal nach diesem Begriff die Suchmaschine anwerfen]. Wird das Selbstsystem, das Familiensystem, das Arbeitssystem, …, das Gesellschaftssystem, … nicht entlang dieser  Gesetze gestaltet und gesteuert, dann gibt’s über kurz oder lang Probleme, Störungen, Krankes und Verletzendes.

Wer sich durch Geburt in sein Leben hineinwirft, hat es demnach bereits mit bestehenden Prinzipien zu tun, die diesem Leben einen ‚gesetzten‘ Rahmen verleihen. In den ersten Jahren hat das Kind mit den elterlichen Interpretationen dieser Prinzipien zu tun, in der Pubertät wird an diesen dann mehr oder weniger gerüttelt und später dann ‚erwächst‘ die Freiheit und die Verantwortung dafür, erlebte Verletzungen der Prinzipien durch Eltern, Mitschüler, Lehrer, Geistliche … zur Heilung zu bringen. Systemisch arbeitende Therapeuten können dabei helfen, manchmal reicht aber bereits eine angeborene oder entwickelte Resilienz, um hinter sich lassen zu können, was nach hinten gehört.

Eine andere ‚Alternative‘ bieten zuweilen Sekten, gewisse Parteien oder manipulative Menschenfänger an, die suggerieren, sie könnten quasi die Arbeit für die real oder vermeintlich von Systemverletzungen betroffene Person erledigen. Dafür müsse die Person sich einfach bei ihnen abgeben, sie wählen oder sie auf ihrer schiefen Bahn begleiten. Dass sich Menschen davon beeindrucken und beeinflussen lassen, war schon immer so und wird – sollten nicht mehrere Wunder geschehen –  leider wohl auch immer so bleiben. Damit nun diese ‚Alternativen‘ mit ihren toxischen Energien in Grenzen gehalten werden, müssen sich die Systemgesetze als robust erweisen, ohne dabei die Freiheit und Verantwortung des Einzelnen zu erwürgen. Ein solcher Prozess ist immer eine Gratwanderung, ihn aufzugeben oder auf dem Grat falsch abzubiegen jedoch führt geradewegs ins dystopische Verderben.

Auf Wunder warten? Auf dem Grat womöglich falsch abbiegen? Das klingt anstrengend, riskant, allemal untauglich und genau genommen dem Menschen mit seinen heute schier unendlichen Möglichkeiten der individuellen Entwicklung auch gewissermaßen unwürdig. Wenn nun aber – zumindest in unserer Kultur – die Würde des Menschen unantastbar ist, dann mag sich anbieten darüber nachzudenken, dass dieser Grundsatz unseres Zusammenlebens keine Einbahnstraße ist. Auf der Gegenspur darf er so verstanden werden, dass jeder Mensch in der Verantwortung steht, sich seiner Selbstwürde bewusst zu werden. Von innen kommende Selbstwürde und von außen kommende Menschenwürde bilden letztlich gemeinsam das Fundament, damit die ‚Systemgesetze‘ ihre Kraft behalten und entfalten.

Stimmt man nun der Annahme zu, dass jeder Mensch einen individuellen Schatz der Selbstwürde in sich trägt, dann ließe sich daraus eine Fülle von Fragen ableiten, die sich jeder Mensch stellen könnte, um sich über den Status dieses Schatzes bewusst zu werden – zum Beispiel:

  • Würde ich es mit mir selbst vereinbaren können, dass durch meine Entscheidungen und Handlungen andere Menschen direkt oder indirekt zu Schaden kommen?
  • Würde ich es mit mir selbst vereinbaren können, dass von mir beauftragte, gewählte, empfohlene Personen oder Personengruppen mit ihren Entscheidungen und Handlungen andere Menschen direkt oder indirekt existenziellen Schaden zufügen?
  • Würde ich es mit mir selbst vereinbaren können, dass ich im Falle eines durch mich [oder durch meine Beauftragung, Wahl oder Empfehlung von Personen oder Personengruppen] entstandenen direkten oder indirekten existenziellen Schaden an anderen Menschen meine Verantwortung für diesen Schaden nicht übernehme?
  • Würde ich es mit mir selbst vereinbaren können, dass ich im Fall der Bejahung einer dieser Fragen durch die Gemeinschaft der Menschen in meinem Kulturkreis weiterhin als Mensch gewürdigt werde? Und wenn ja, womit würde ich dies begründen?

Fragen wie diese wenden sich letztlich an eine innere Instanz, die Viktor Frankl das ‚Sinn-Organ‘ nannte. Damit meint Frankl das menschliche Gewissen, das – trotz aller Einflüsse von Außen – einem Menschen als Kompass für eigenes Verhalten, eigene Entscheidungen und Handlungen dient. Je nach Ausrichtung der Nadel des individuellen Kompasses orientiert sich der Mensch an einem spezifischen Bündel von Werten. Diese Werte zu kennen, ist wichtig. Sie sich nicht bewusst zu machen, hat zur Folge, dass – wie bei einem Magneten, der in der Lage ist, die Kompassnadel zu beeinflussen – der Mensch Gefahr läuft, sich selbst zu verfehlen, den Selbstwert nicht zu erkennen und letztlich das Leben Anderer zu führen. Ein solcher Mensch ist manipulierbar, kontrollierbar, berechenbar.

Die Folgen eines derartig unausgereiften ‚Kompasses‘ zeigen sich auf brutale Weise insbesondere in der Jugend. Gerade in der Lebensphase der Adoleszenz sind Jugendliche hochsensibilisiert für alle moralischen und wertegeleiteten Fragen, die ihnen ihr Leben stellt. Sie suchen Orientierung, doch nicht jede Familie kann ihnen einen Rahmen ermöglichen für Wertevermittlung und -diskurs, für Halt, Orientierung und Toleranz zur Selbstwertentwicklung. Die Gründe dafür finden sich oft in der Biografie der Ursprungsfamilie, im Zugang zur Bildung oder eben auch in der Nähe von Personen oder Personengruppen, die die Suche und Empfänglichkeit von Jugendlichen ausnutzen. Auch der Schule als Institution fällt es schwer, den Problemen Jugendlicher in schwierigen Lebenslagen gerecht zu werden. Immer häufiger sind die Folgen Alkohol- und Drogenmissbrauch, Schulverweigerung, Gewalt, Fremdenhass, Depressionen oder sogar Suizid an Stelle eines aktiv gestalteten, sinnvollen Lebens mit Kompass.

Was also tun? Die nach den Grundlagen der Logotherapie von Viktor Frankl arbeitenden Therapeuten und Coachs haben bereits überzeugende Formen der Gesprächsführung und unterstützende Methoden hervorgebracht, um Jugendlichen wie natürlich auch Erwachsenen jeden Alters dabei zu helfen, das eigene Wertesystem zu klären. Ihr humanistisches, nicht reduktionistisches Menschenbild beachtet sensibel den fundamentalen Wunsch jedes Menschen, angenommen zu sein [Systemgesetz Bindung/ Beziehung/Anschluss].

Der Fokus auf den jedem Menschen innewohnenden Willen zum Sinn und das Bemühen, im Gespräch existenzielle Fragen auszuhalten und skeptisch gegenüber vorschnellen Antworten zu bleiben [Systemgesetz Struktur/Ordnung/Transparenz] halten zudem den Möglichkeitsraum für den Gesprächspartner offen und damit auch die Freiheit und Verantwortung zu einer gewissenhaften Stellungnahme zu den Lebensthemen, die gerade zur Bewältigung anstehen.

Schließlich wird durch die Arbeit mit Sinn und Werten der Grundstein für eine bewusstere und damit gesündere Lebensführung, eine fruchtbarere Zusammenarbeit und eine Verbesserung der Liebes-, Arbeits- und Leidensfähigkeit geschaffen. Ein Leben auf dieser Basis hält auch schwierige Zeiten aus, die Person bleibt Herr in ihrem Haus und sie kann ihrerseits Menschen besser unterstützen, die ihrer Hilfe oder ihrem Rat bedürfen [Systemgesetz Ausgleich/Balance/Dankbarkeit].

Wird das Konzept der Logotherapie integral erweitert und reichen sich Viktor Frankl und Ken Wilber quasi die Hand, entsteht ein spannendes neues Entwicklungsfeld. Ohne an dieser Stelle bereits alle Facetten dieser Kombinationsberatung oder -therapie aufzeigen zu können, sei ein erster Ausschnitt hervorgehoben. Für Frankl ist es zentral, dass der Mensch nicht derjenige ist, der sein Leben zu befragen hat, was dieses Leben ihm wohl bieten könne. Vielmehr ist es das Leben, das den Menschen danach befragt, ob und wie sinnerfüllt eben dieser Mensch sein Leben gerade jetzt lebt. Mit dieser Perspektive lädt das Leben den Menschen ein, sich mit der aktuell existenziellen Thematik zu befassen. Einer Thematik, die zuweilen wenig erfreulich oder erbauend ist. Wilber nennt hier in seinen Schriften bereits Beispiele, wir könnten aus unserer Arbeit in Therapie und Coaching mühelos weitere anführen und haben dies in unseren Büchern auch vielfach verschriftlicht: existentielle Depression (Gefühl von Lebensstillstand und Sinnlosigkeit), Inauthentizität (Mangel an Akzeptanz der eigenen Sterblichkeit), existentielle Isolierung (ein starkes Selbst, das sich aber in der Welt nicht zu Hause fühlt), unterdrückte Selbstverwirklichung (Unzufriedenheit in Folge des Nichtausschöpfens der eigenen Möglichkeiten), existentielle Angst (vor dem eigenen Tod, vor der Einschränkung oder dem Verlust körperlicher und geistiger Fähigkeiten) [Wilber]

Der gedankliche Umgang mit einem solchen Stress- und Belastungsthema können wir unter Nutzung des Konzepts der in früheren Beiträgen beschriebenen Werte-Meme meist schnell einem dieser Meme zuordnen. Da die Person zu diesem Thema offenbar nicht das passende Umgangs-Schema entwickelt hat, sondern vielmehr ein unpassendes einsetzt, um die leidige Situation zu verbessern [was leider aber allzu oft in eine Art Verschlimmbesserung führt], kann sie nun im Rahmen einer Integralen Logotherapie darin begleitet werden, diejenigen Werte zu entwickeln, derer es bedarf, um mit dem Thema funktional stimmig umgehen zu können.

Der Gewinn aus einer derartigen Integralen Logotherapie besteht für den belasteten Menschen darin

  • konkrete Empfehlungen zur Werteentwicklung zu erhalten, die in der Lage sind, eine Verminderung der Belastung durch das akute existenzielle Lebensthema zu erhalten
  • sensibel zu werden für den psychischen Mechanismus der ‚Hyperreflexion’, die die Person immer stärker hineinführt in Selbstzweifel, Grübeleien und Schuldzuschreibungen
  • zu lernen, nicht gegen sich selbst zu arbeiten und den eigenen guten Absichten nicht zuwider zu handeln
  • den gesunden wie den ungesunden Anteilen der Persönlichkeitsakzentuierung gleichermaßen Aufmerksamkeit zu schenken und
  • – regelmäßig von uns beobachtbar – zum Ende des Beratungsprozesses ein meist lange verschollenes Phänomen wiederzuentdecken: Das Staunen über sich selbst und den gefundenen Entwicklungsweg.

2023 – neu: 15. Integraleres Denken

Im letzten Beitrag habe ich zur Arbeit an individuellen Sinnleere-Empfindungen die Perspektive eröffnet, dass ein von einer solchen Empfindung betroffener Mensch die jenseits seiner aktuellen Weltausschnittsgrenzen liegenden Sinnimpulse wahrnehmen könnte, würde er sein bestehendes Wertesystem öffnen und damit bereit werden für die Gelegenheiten, die sich im erweiterten Möglichkeitsraum des Lebens zeigen. Was sich dieser Weltöffnung häufig in den Weg stellt, sind Verlust-Ängste aber auch das bislang für das Leben ausreichend gewesene konzeptionelle, konditionierte Denken des Intellekts. Dieses Denken, das wir alle in unserem Kulturkreis so facettenreich anerzogen, antrainiert bekommen und ausgeformt haben, ist dann, wenn sich Sinnleere breitmacht, das gern zitierte ‚dicke Brett, das es zu bohren gilt‘. Es ist deshalb so dick, weil dieses Denken mit Zielen, Zwecken, Zeiten, Absichten, Kompetenzen und Aktionen verbunden ist, die allesamt ihre Beiträge dafür leisteten, dass der Mensch seinem Leben eine Form hat geben können. Solange diese Form mit Inhalten verbunden ist, auf die sich der Mensch mit Motivation ausrichten kann, sind Zustände wie Zufriedenheit, Genugtuung oder Wohlbehagen wahrscheinlich die Folge. Kommt das Denken des Intellekts jedoch an seine Grenzen und findet es immer weniger Inhalt vor, kommt der Mensch mit noch mehr Intellekt, mit noch mehr Gehirn-Geist, Verstand und Ratio auch nicht weiter. Es braucht also etwas anderes.

Albert Einstein meinte einmal: „Die Evolution ist eine Intelligenz von einer solchen Erhabenheit, dass verglichen damit das ganze systematische Denken und Handeln des Menschen ein höchst unbedeutender Abglanz ist.“ Und Evolution im Kontext der hier besprochenen Theorie von Wilber meint ‚integraleres Denken‘. Ein Denken, das sich ‚locker macht‘ von festen Formen, Dogmen, Glaubenssätzen. Schauen wir dazu auf die Werte-Ebenen, so findet sich dieses Denken ab dem Gelb-Meme. Bis dahin denkt der Mensch im Rahmen seiner psychischen Verfassung. Ab Gelb hingegen erwächst eine besondere, neue Freiheit. Die Freiheit, fest davon überzeugt sein zu müssen, irgendwie zu wissen, wie die Dinge sind oder wie sie sein sollten. Und – im Sinne Frankls – auch in der Verantwortung dafür zu stehen, diese einst psychisch fest verankerten Überzeugungen nun im Gelb-Meme zu lockern.

Bei Sätzen wie diesen muss man auf den nächsten Kaperungsversuch der Psyche nicht lange warten, schließlich sieht sie es als ihre Aufgabe an, den Menschen zu unterstützen, ‚die Form zu wahren‘. Und – wie angemerkt – solange die Form [und sei es auch eine lebensungünstige] passt, passt die Psyche den Menschen immer wieder und weiter an diese Form an. Never touch a running system, oder wie die Lateiner wussten: Quidquid recipitur, ad modum recipientis recipitur [Was auch immer empfangen wird, wird gemäß der Weise des Empfangenden erfasst].

Empfindet eine Person nun in ihrem Leben eine Sinnleere, stellt das Bewahren der bisherigen Form [hier also die Umgangs-Form in existenziellen Belastungen] kaum eine Verbesserung der Situation in Aussicht. Es gilt daher, einen Transzendenzprozess auf eine höhere Bewusstheit einzuleiten. Auf den Werte-Ebenen bis Grün findet diese Transzendenz im Modus des konzeptionellen, konditionierten Denkens statt, ab dem Übergang von Grün zu Gelb transzendiert die Person in eine Bewusstheit, in der sie sich verzerrungsbefreiter mit ihrem Leben verbunden fühlt und sich dieses Lebens als gleichwertig mit allem Leben gewahr wird. Ein starkes Signal dafür, dass man in dieser Bewusstheit lebt, ist das Erstaunen darüber, dass man sich immer zunehmender in Konfliktfreiheit mit sich, anderen und allem fühlt. Geht man den Gründen für das Erstaunen nach, so entdeckt man an sich das Phänomen, anders als früher multidimensionaler zu denken, generativer zu sprechen, Paradoxes und Unsicheres nicht abzuwehren, vielmehr es als Ressource zur Entwicklung eines immer stärker werdenden Unterscheidungsvermögens anzunehmen. Ab Gelb empfindet man einiges im Verhalten bis Grün als langweilig. Beige-Hilferufe, Purpurnes-Geplauder, Rote-Befehle-und-Anweisungen, Blaue-Erlasse-und-Debatten, Orange-Erklärungen-und-Diskussionen, Grüne-Aushandlungen-und-Dialoge – ab Gelb hat man diese Wege der Kommunikation eingeschlossen und transzendiert die Gesprächsführung von einer reinen Ich-Du-Wir-Form hin zu einer Gesellschaftsperspektive.

Machen wir es konkret: Angenommen, ein Mensch empfindet Sinnleere in seiner aktuellen beruflichen Situation. Seine beruflichen Erfolge bleiben seit einiger Zeit aus, das Feedback hinsichtlich seiner Karrieremöglichkeiten bleibt hinter den eigenen Erwartungen zurück und die Aussicht auf Stillstand ist gegeben, die Verteilung von Ressourcen erlaubt keine anspruchsvolleren Projekte, die bisherigen Aufgaben werden durch Einsatz von Technologien ausgedünnt. Man macht zunehmend einen Job ohne wirkliche Erfüllung. Die Werte des Orange-Meme sind immer weniger verwirklichungsfähig. Allfällige Versuche, die Form beizubehalten, aber mit neuen Orange-Inhalten zu befüllen, scheitern [z.B. Bewerbungen in vergleichbare Funktionen in andere Unternehmen gelingen nicht, der Sprung in die Selbstständigkeit unter Beibehalt bisheriger Inhalte werden vom Markt nicht goutiert …]. Was also tun? ‚Dienst nach Vorschrift‘ wäre eine mögliche Form des blauen Meme, die Suche nach einer Vorstandsrolle im Fußballverein eine im roten Meme. Der Selbstzweifel in Form einer Depressionserkrankung kann als Ausdruck des beigen Meme angesehen werden. Solche Formgebungen sind deshalb leicht umsetzbar, da das orange-Meme alle vorherigen Meme einschließt. Neu wäre somit die Transzendenz ins Grün-Meme, der Suche nach Sinn in einem gemeinwohlorientierten, empathiezentrierten und durchaus auch das Orange-Meme einschließenden Umfeld. Wäre die Person dahingehend weltoffen, könnte sie grüne Sinn-Impulse wahrnehmen, womöglich über Kommunikationskanäle [Beobachtungen, Gespräche, Literatur usw.], die bislang nicht zu den präferierten gehörten, da nicht anschlussfähig für die als notwendig angesehenen Verhaltens- und Handlungsweisen im Orange-Meme.

Ein zweites Beispiel: Angenommen, eine Person empfindet Sinnleere in ihrer aktuellen privaten Situation. Nach dem plötzlichen Tod des Lebenspartners, mit dem in den vergangenen Jahren verschiedene Gemeinschaftsprojekte initiiert wurden, die Freude an der Verbesserung vieler individueller Lebenslagen ein kontinuierlicher Wegbegleiter der beiden Partner war, eigene schwierige, insbesondere gesundheitliche und finanzielle Störungen durch Aufrechterhaltung einer grundsätzlichen Zukunftszuversicht und Fröhlichkeit beseitigt oder relativiert werden konnten, steht nun eine neue Phase der Lebensführung zur Gestaltung an. Die Person wird von einem lange nicht mehr erlebten Empfinden von Aussichtslosigkeit erfasst, die Psyche macht sich bemerkbar durch Angstgefühle und Endzeitgedanken. Nach ein paar Wochen stellt in einem Gespräch mit einem Bekannten dieser die Frage: „Was wäre gewesen, wärst Du vor Deinem Partner gestorben?“ Die Antwort kommt schnell: „Das wäre für ihn ganz schlecht gewesen, das hätte er kaum ertragen.“ Und der Bekannte sagt darauf: „Dann ist das ja Deinem Partner durch Dich erspart geblieben, auch wenn es nun für Dich bedeutet, ihn zu betrauern und Deinen Weg weiterzugehen.“ Mit diesem kurzen Gespräch konnte die Person eine neue Einstellung zu den weiterhin gegebenen Möglichkeiten entwickeln, sie kam wieder in ihre Kraft und nahm kurze Zeit später verwundert zur Kenntnis, dass sie – trotz ihres Verlustes – das, worum es an sich immer ging, fortsetzen konnte und wollte. Die Illusion, die Aufgaben müssten stets gemeinsam an sie und ihren Partner gebunden sein, wurde aufgegeben. Die Liebe zu den Aufgaben blieb erhalten, ein Gefühl von gelassener Freiheit wurde berichtet.

Bei diesem Übergang vom Grün-Meme in eine gelbe Bewusstheit des Gelassen-Seins half der Person letztlich nur ein einziges Gespräch. Man könnte dieses Gespräch als Sinn-Impuls begreifen, ein Impuls, der dazu beitrug, dass der Kaperungsversuch der Psyche in Richtung Angst und Aussichtslosigkeit zugunsten eines Erhalts der Weltoffenheit abgewendet wurde.

2023 – neu: 14. Die vierte Hauptstraße zum Sinn

Wie hatte Frankl noch einmal die Sinnquellen beschrieben, die jedem Menschen zur Verwirklichung von Werten bereit stehen? Eine erste Quelle, in der Menschen Sinn finden können, ist die der Aufgaben, die nicht erledigt und gelöst würden, wäre der Mensch nicht ein homo faber, der arbeitende Mensch, der unternimmt und schöpferisch tätig wird.

Als zweite Quelle steht das Erleben bereit. Der homo amans – der liebende Mensch – empfängt und genießt mit Freude in Welt der Natur, der Kultur, des Miteinanders. ‚Erst die Arbeit, dann das Vergnügen‘, mit dieser Formel wurden in meiner Kindheit diese beiden für Frankl gleichwertigen Quellen in eine Hierarchie gebracht. Heute macht sich in meiner Anschauung ein sonderbares Streben nach Balance zwischen Aufgabenerfüllung und Selbsterfüllung auf angestrengte Weise breit. Zuweilen scheint es mir, als wäre eine gelungene Umkehrung der alten Formel eine Art Verhandlungserfolg des Einzelnen über seine Welt. Aber das ist meine Wahrnehmung und sie steht hier nicht weiter in Rede. Eher soll auf die dritte Quelle hingewiesen werden, die Frankl für diejenigen Situationen im Leben benennt, in denen der Zugang zu den beiden anderen erschwert oder sogar verunmöglicht wird. In diesen Situationen ist der homo patiens gefragt, der Mensch, der angesichts eines Leids, einer zu verantwortenden Schuld oder im Wissen um den nahenden Tod, zu einer existenziellen Stellungnahme aufgefordert ist.

Auf diesen drei Hauptstraßen zum Sinn kann sich nach Frankl der Mensch bewegen und in dieser Bewegung verwirklicht der Mensch bestehende individuelle Werte, seien es schöpferische Werte [wie zum Beispiel Leistung, Arbeit, Aufbau, Beitrag, Neuerung, Tatkraft …], Erlebniswerte [wie zum Beispiel Anmut, Zünftigkeit, Geschicklichkeit, Schönheit, Flair …] oder Einstellungswerte [wie zum Beispiel Tapferkeit, Faulheit, Versöhnlichkeit, Askese, Resolutheit ..].

Und wie das Leben so spielt, beginnt jeder Tag mit einer neuen Reise über diese Straßen. So kann ein Mensch:

  • beim Zähneputzen [Handlung, aufbauend auf schöpferischen Werten]
  • ein paar Lieder im Radio hören [Handlung, aufbauend auf Erlebniswerten],
  • sich dann wettertaugliche Kleidung anziehen [Handlung, aufbauend auf schöpferische Werte],
  • über den Lieblingsweg mitten im Grünen zur Arbeit radeln [Handlung, aufbauend auf Erlebniswerten und schöpferischen Werten],
  • dann dabei unterbrochen werden, weil man eine Unfallstelle sichert und, weil man das tut, den ersten Termin im Büro verpassen wird [Handlung, aufbauend auf Einstellungswerten und schöpferische Werten],
  • dann verspätet ankommen und die Überraschung annehmen, von Kollegen mit einem Geburtstagskuchen begrüßt werden [Handlung, aufbauend auf Erlebniswerten] usw. usw.

Andererseits kann die Person auch reflektieren, entlang welcher Werte-Meme sie ihren Tag gestaltet hat:

  • Beim Zähneputzen ein paar Lieder im Radio zu hören [kann ein Hinweis auf blaues Meme sein: Strukturierter Tagesbeginn],
  • sich dann wettertaugliche Kleidung anzuziehen [kann ein Hinweis auf orange sein, adäquate Leistungserbringung für die Bewältigung möglicher Wetterprobleme],
  • über den Lieblingsweg mitten im Grünen zur Arbeit zu radeln [kann ein erneuter Hinweis auf blau sein, Nutzung eines Routineprozesses, vielleicht auch mit grünem Anteil aufgrund der Geringhaltung von umweltbeeinträchtigende Handlungen],
  • dann dabei unterbrochen zu werden, weil man eine Unfallstelle sichert und weil man das tut, den ersten Termin im Büro verpassen wird [kann ein Hinweis auf blau sein, eine Entscheidung aufgrund intrinsischer moralischer Verpflichtung, vielleicht auch mit rotem Anteil aufgrund der Selbstbemächtigung, diese Entscheidung willensstark auch gegen mögliche Konflikte zu treffen],
  • dann verspätet anzukommen und von Kollegen mit einem Geburtstagskuchen begrüßt zu werden [vielleicht ein Hinweis auf türkis, wenn der Moment angenommen wird so wie er ist] usw. usw.

Das, was das Leben einem Menschen aufträgt, „wechselt nicht nur von Mensch zu Mensch – entsprechend der Einzigartigkeit jeder Person – sondern auch von Stunde zu Stunde, gemäß der Einmaligkeit jeder Situation“ sagt Viktor Frankl und – wir können ergänzen – hält jederzeit für einen Menschen einen Sinn bereit, den er mit seinem Sinn-Organ [dem Gewissen], und entlang seiner entwickelten Werte-Meme finden und verwirklichen kann.

Diese Ergänzung erscheint mir aus einem persönlichen Ärgernis heraus wichtig zu sein. In zahlreichen Büchern und Online-Vorstellungen der Integralen Theorie von Wilber mit ihren Verweisen auf die Werte-Meme nach Clare W. Graves, wird oftmals das türkise Meme als dasjenige ausgezeichnet,

  • in dem sich ein Mensch mit dem Thema Sinn auseinandersetzt
  • in dem Menschenführung oder Organisationsentwicklung sinnorientiert vollzogen wird
  • in dem der Sinn quasi zu Hause ist

Diese Zuschreibung halte ich für Unfug, suggeriert sie doch eine Art Exklusivrecht auf Sinn oder eine Exklusivhaltung mit Sinn, wenn ein Mensch die Entwicklung auf diese türkise Ebene vollzogen hat. Nein, Sinn kann der Person nicht zugeschrieben werden, denn Sinn ist in der Welt und wird von einer Person mit einer aktuell beigen Bewusstheit aufgrund eines Themas, das dieser Bewusstheit bedarf, anders kontexualisiert als von einer Person mit einer purpurnen, roten oder anderen. Steht zum Beispiel eine Person – wie jüngst bei den extremen Unwettern in Südosteuropa – in der grauenhaften Lage, sich der Wassermassen nicht mehr erwehren zu können und steht sie förmlich vor dem materiellen Aus, so bleibt der Sinn in Form eines fundamentalen Sinns des Lebens erhalten und wird als THEMA mit dem Überlebens-Meme Beige entsprechend adressiert. Hat eine andere Person ihren Wohnsitz an einem Ort, wo sich die Wassermassen nicht derart brachial ihren Weg gebahnt haben, dann mag es sein, dass diese Person vielleicht mit ihrem blauen Ordnungsmeme zuerst die eingetretenen persönlichen Schäden dokumentiert, um die eigene Familie vor finanziell negativen Auswirkungen zu schützen, um sich nach getaner Befassung mit diesem Thema dann einem neuen zu stellen, vielleicht dem Thema ‚Unterstützung des technischen Hilfswerks beim Wegräumen des Schutts in schwererer betroffenen Gebieten“. Hier könnte die Person den Sinn also in einem Impuls entdecken, der sie aufruft, die Werte des grünen Meme mit seinem Aspekt der sozialen Verantwortung zur Verwirklichung zu bringen.

Wenn ich also sehr dazu rate, damit aufzuhören, eine Sinnzuschreibung einzig dem türkis Meme vorzubehalten, so stelle ich dafür einen anderen Begriff in den Raum, der mir für dieses Meme zur besseren Differenzierung aller bisherigen geeigneter zu sein scheint – den Begriff der Wertfreiheit. In Türkis ist Alles mit Allem verbunden, das Universum eine Einheit fein balancierter ineinander greifender Kräfte. Diese Kräfte wirken, ohne dass ihrer Wirkkraft eine Wertung zugrunde liegt noch einer solchen es bedarf.

Wertfreiheit stellt in meiner Anschauung eine Art Implosion der Weltausschnittsgrenzen dar. Ein Mensch hat seine Transzendenzfähigkeit derart ausgebildet, so dass er über die Offenheit zur Klärung und Weiterentwicklung des eigenen Wertesystems – die ich dem gelben Meme zuschreibe – zur Offenheit zur ‚Vernachbarschaftlichung‘ alles Anderen mit dessen Werten gelangt. Mit dieser Offenheit zur Wertfreiheit, eines Zusammenfallens aller eigener Werte mit allen anderen Werten und über dies hinaus mit allen weiteren Werten, geht der Mensch auf der vierten Hauptstraße zum Sinn, der Straße der Vollendung. Wer auf dieser Straße geht, den will ich homo complens, den vollendenden Menschen, nennen.

2023 – neu: 13. Beitrag des Menschen zur Selbstüberwindung seiner Weltausschnittsgrenzen

Im letzten Beitrag wurden die drei Hauptstraßen zum Sinn aus der Sinntheorie Frankls vorgestellt. Da Sinn sich ‚in der Welt für jeden Menschen als jederzeit Gegebenes‘ darstellt, sich jedoch Welt – konstruktivistisch gedacht – für jeden Menschen stets als ein von ihm definierter Weltausschnitt mit ‚Weltausschnittsgrenzen‘ zeigt, mag die Hypothese angemessen sein, dass ein Mensch, der seine Welt mehr oder minder als sinnleer empfindet, darin zu unterstützen ist, Sinnimpulse gerade nicht in seinem Weltausschnitt zu suchen, sondern mithilfe seiner per se gegebenen Transzendenzfähigkeit eine geistige Grenzüberschreitung vorzunehmen. Für diesen Blick hinter den eigenen Horizont bietet sich entlang Ken Wilbers Integraler Theorie die Idee an, dass eine Person für das THEMA ‚Sinnfindung‘ ein neues SCHEMA entwickelt und letztlich damit einen Schritt auf derjenigen Entwicklungslinie weitergeht, die von zentraler Bedeutung dafür ist, einen neuen ‚Umgang mit der eigenen Welt‘ einzuleiten. Wenn nämlich, wie Frankl postuliert, Sinnfindung durch Werteverwirklichung geschieht, dann darf gefolgert werden, dass die Person auf ihrer Entwicklungslinie ‚Werte‘ aufgerufen ist, eine Erweiterung ihrer ‚Weltausschnittsgrenzen‘ vorzunehmen. Diese Erweiterung meint explizit nicht Abwertung der bisherigen Grenzen mit ihren Werten, sondern im Gegenteil und im Sinne Wilbers ‚Einschließen des Bisherigen und Transzendieren auf die Erweiterung‘. Ein guter Grund für diese Erweiterung liegt ohnehin vor, da die Person ja dem Empfinden von Sinnleere entrücken will und womöglich nur nicht weiß, an welcher Grenze ihrer Welt es ein ‚wohin es sie ziehen könnte‘ gibt.

Wenn wir dies konkretisieren wollen, dann sei zuerst daran erinnert, dass sich aus der Kombination von THEMA + SCHEMA ein Handlungs- oder Verhaltens-MEME ergibt. Wie in einem früheren Beitrag erwähnt bringen MEME die Bewusstheit zum Ausdruck, mit der ein Mensch im Hier und Jetzt sich verhält oder handelt. In den meisten Lebenssituationen passt der Umgang (das Schema) zum Thema. Passt das Schema nicht, dann auch nicht das Meme. Der Mensch verfehlt sich, verrennt sich, demotiviert sich. Im extremen Fall fällt die Person in Selbstzweifel, dem zentralen Indiz für eine Lebenskrise. An seinem Selbst zu zweifeln meint im Kern, an den eigenen Grundüberzeugungen und Werten zu zweifeln. Man bewertet sich als nicht mehr in der Lage, Herr im eigenen Haus zu sein und einen passenden Weg finden zu können, mit dem man sein Leben als sinnvoll fühlt.

Es gilt spätestens jetzt (besser jedoch bereits im Rahmen einer Individuellen Krisenprävention), sich im ersten Schritt der Werte bewusst zu werden, mit denen man sich innerhalb der bisherigen ‚Weltausschnittsgrenzen‘ verhält und handelt. Und im zweiten Schritt dann das Meme mit seinen Werten zu erarbeiten, das außerhalb dieser Grenzen liegt und womöglich die Sinnimpulse bereithält, die bislang noch keinen Zugang in die eigene Welt gefunden haben.

Um diese Arbeitsschritte etwas zu erleichtern, wurde in einem interdisziplinären Team für jedes Meme [siehe dazu die Ausführungen in den früheren Beiträgen] ein Set an Werten identifiziert und im Tool „Life2Me® – Einstellungswerte“ zusammengeführt. Dieses Tool wird in meiner Praxis insbesondere im Kontext existenzieller Abschiede genutzt und wurde erstmals im Rahmen der Buchvorstellung ‚Coaching des Todes‘ im Jahr 2020 eingeführt.

Hier die jeweils 13 Wertebegriffe für die Meme-Ebenen nach Clare W. Graves von Beige bis Türkis:

Beige [das Meme des Überlebens]: Zweckmäßigkeit, Präsenz, Robustheit, Stärke, Tüchtigkeit, Verzicht, Wachsamkeit, Wendigkeit, Zähigkeit, Maßhaltung, Antrieb, Hoffnung, Abhärtung

Purpur [das Meme der Geborgenheit]: Andenken, Anschluss, Ehrfurcht, Gemeinschaft, Glaube, Herkunft, Liebe, Nähe, Religiosität, Rückhalt, Sozialität, Verankerung, Zugehörigkeit

Rot [das Meme des Einflusses auf Menschen und Dinge]: Direktheit, Dominanz, Exzentrik, Härte, Kampfgeist, Macht, Meisterhaftigkeit, Mut, Radikalität, Selbstsicherheit, Strenge, Unkompliziertheit, Wille

Blau [das Meme der Strukturbildung]: Zuverlässigkeit, Tradition, Sicherheit, Pflicht, Ordnung, Korrektheit, Konventionalität, Höflichkeit, Gerechtigkeit, Disziplin, Treue, Sittsamkeit, Kontrolle

Orange [das Meme der Zielmotivation]: Pionier, Originalität, Kreativität, Individualität, Dynamik, Attraktivität, Neuerung, Leistung, Expertentum, Ehrgeiz, Anspruch, Ansporn, Veränderung

Grün [das Meme der Gemeinwohlausrichtung]: Aufklärung, Balance, Behutsamkeit, Beteiligung, Gleichberechtigung, Kameradschaft, Menschlichkeit, Natur- und Umweltverbundenheit, Resonanz, Respekt, Substanz, Toleranz, Zukunft

Gelb [das Meme des vernetzteren Denkens]: Beweglichkeit, Freigeist, Idealismus, Klugheit, Liberalität, Reform, Spiritualität, Tiefsinnigkeit, Trennung, Unbefangenheit, Vermittlung, Wagemut, Weitblick

Türkis [das Meme des integraleren Denkens] : Anmut, Demut, Geduld, Holismus, Stille, Tragfähigkeit, Transparenz, Transzendenz, Unvoreingenommenheit, Weisheit, Wirkung, Würde, Zeitlosigkeit

Fraglos kann die Zusammenstellung dieser Wertegruppen kontrovers diskutiert werden. Bei der schier unendlichen Vielfalt individueller Begriffsverständnisse würde es verwundern, käme es an dieser Stelle nicht zum Wunsch der Ergänzung weiterer Werte zu einzelnen Gruppen, Verschiebungen von Werten in andere Gruppen oder der Streichung von Begriffen. Wir haben in unserer Diskussion ‚im kleinen Kreis und am grünen Tisch‘ unser ‚kollektives Gefühl‘ herangezogen und dabei berücksichtigt, dass die Meme beige, rot, orange und gelb im Konzept von Graves als jeweils ichorientiert, die Meme purpur. blau, grün und türkis als jeweils gruppenorientiert definiert sind. Die Frage, die wir uns stellten, war daher: ‚Fühlt es sich für uns stimmig an, dass sich zum Beispiel die Werte des ichorientierten roten Memes als Grundlage für die Entwicklung des nächsthöheren ichorientierten Memes – hier orange – anbieten?“ Da nach Wilber eine Meme-Ebene die vorangegangenen EINSCHLIESST und ihrerseits die Grundlage zur TRANSZENDENZ auf höhere Ebenen ist, hielten wir diese Vorgehensweise für angemessen. Und dies wohlwissend entlang unserer Annahme, dass gerade aus dem starken orange-Meme unserer Leistungsgesellschaft heraus sofort die Kritik zu erwarten ist, dass ein solches Vorgehen weithin als wissenschaftlich unzureichend verworfen werden würde. Ja, und so konstatieren wir augenzwinkernd mit Bert Brecht: ‚Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen‘ (aus: Der gute Mensch von Sezuan), nicht ohne die ‚beige‘-Hoffnung, dass unser Impuls ‚überlebt‘ und seine Reise auf der dynamischen Spirale der Meme bis hin zum kaleidoskopischen Blick auf das Ganze eine Chance hat.

2023 – neu: 12. Gedanken zur Idee einer Integralen Sinntheorie als Erweiterung des Gedankenguts von Viktor Frankl

Viktor Frankl ging es stets darum, Freuds Psychoanalyse und Adlers Individualpsychologie zu ergänzen, indem er den diesen Richtungen immanenten Psychologismus und Reduktionismus transzendierte in ein Menschenbild, das den Menschen als Wesen auszeichnet, das weltoffen nach Sinn in seinem Leben strebt. Dies vor Augen, drängen sich mir Fragen auf, für die ich in den kommenden Monaten nach Antwortmöglichkeiten suchen werde:

  • Lässt sich neben den von Frankl beschriebenen drei Hauptstraßen zum Sinn womöglich heute eine vierte finden? Vielleicht zeigt sich heute, gut 100 Jahre nach Begründung der dritten Wiener Schule für Psychotherapie durch Frankl eine Straße, die sich dank vergrößerter individueller Möglichkeiten zur Weltoffenheit erst dann zeigt, wenn ein Mensch eine integralere Gegenwarts-Bewusstheit entwickelt hat [im Graves Modell die Meme ab Gelb]?
  • Angenommen, eine solche Straße ließe sich sprachlich fassen, wie würde ein Mensch es dann womöglich ausdrücken, wenn er sagt, dass er mit sich und der Welt im Einklang steht, wenn er sich auf dieser Straße auf die Reise hin zum Sinn macht?
  • Auch würde mich interessieren, ob es in einer früheren Epoche der Menschheitsentwicklung bereits Anzeichen für eine solche Gegenwarts-Bewusstheit und ein entsprechendes integraleres Werte-Meme gegeben hat? Anzeichen, die aber nicht stark genug waren, um sich in einer breiteren Gesellschaft als Ausgangspunkt ihrer weiteren Entwicklung anzubieten.
  • Und gegenwartspraktisch: Womit könnte ein integral arbeitender Logotherapeut seine Klienten im Rahmen einer Integralen Logotherapie über den Rahmen der ‚klassischen‘ Logotherapie hinaus unterstützen? Und überhaupt: woran kann ein Logotherapeut wahrnehmen, dass er eine integrale Bewusstheit für die Ausübung seiner Rolle entwickelt hat?

Drei Hauptstraßen zum Sinn?

In der Sinnlehre von Viktor Frankl wird betont, dass der Mensch sich nur in dem Maße zu verwirklichen vermag, indem er einen Sinn draußen in der Welt, nicht aber in sich selbst erfüllt. Diesen Prozess nennt Frankl die Selbsttranszendenz der menschlichen Existenz. Eine Selbstverwirklichung hingegen, die auf etwas hingeordnet ist, das nicht über den Menschen selbst hinausgeht, sondern letztlich nur wieder auf ihn selbst verweist, ist nach Frankl ’sinn-los‘.

Wirklich Mensch ist der Mensch nur dort, wo er in der Hingabe an eine Aufgabe aufgeht oder in der Liebe zu einem Gott*, zu einer Sache oder zu einer anderen Person sich selbst übersieht und vergisst. Diese menschliche Fähigkeit zur Selbstvergessenheit, sich zurückzustellen und sich nicht alles von sich selbst gefallen zu lassen, ist gleichermaßen Ausdruck seiner Fähigkeit zur Selbsttranszendenz. Und selbst in den tragischen Situationen menschlicher Existenz, bei Leid, Schuld oder Tod, kann er diese Fähigkeit einsetzen durch eine Modulation seiner Einstellung, die einer womöglich psychischen Hilf- und Hoffnungslosigkeit entgegenwirkt. [* In Frankls sinnzentrierter Psychotherapie wird Religion neutral als Gegenstand, nicht aber als Standort angesehen. Aus dieser Perspektive wird Gott zu einem Sprachpartner, wobei der Mensch nicht immer versteht, mit wem er sich tatsächlich unterhält. Der Mensch bezieht sich auf das Absolute, das eigentlich unbeziehbar ist und erlebt ein Geborgenheitsgefühl, das ihm insbesondere in Grenzsituationen hilft und das dadurch therapeutische Relevanz besitzt. vgl. Frankl V.E: [1972]: Der Wille zum Sinn, Hans Huber Verlag Bern, 73-74]

Hat nun der Mensch Sinn in seinem Leben entdeckt und steht ihm seine Psyche nicht im Weg, eben diesen Sinn auch zu verwirklichen, so macht sich der Mensch auf den Weg über eine der Hauptstraßen hin zum Sinn.

Auf der ersten Hauptstraße hin zum Sinn geht der schöpferische Mensch. Er hat in der Welt eine Aufgabe entdeckt, die nicht gelöst würde, wenn nicht von ihm. Dafür setzt er seine Kraft, seine Fantasie, seine Fähigkeiten, Talente und Ideen ein. Er wird schöpferisch tätig und verwirklicht schöpferische Werte.

Auf der zweiten Hauptstraße hin zum Sinn geht der erlebende Mensch. Er hat in der Welt einen Schatz entdeckt, den zu erleben, ihn mit Freude erfüllt. Schätze finden sich in der Kultur, in der Natur, in der Anschauung anderer Menschen, in der liebenden Berührung, im Gebet, letztlich in der bewussten Wahrnehmung einer den Menschen kräftigenden Quelle. Der Mensch erlebt und verwirklicht Erlebniswerte.

Auf der dritten Hauptstraße hin zum Sinn geht der leidende Mensch. Er hat in der Welt einen auf ihn weisenden Gegenstand entdeckt, den er zwar nie entdecken wollte, dem er sich aber unabänderlich zu stellen hat. Diese Gegenstände finden sich im Leid, im Gewahrwerden eigener Schuld oder im Angesicht des Todes. Der von diesen Gegenständen ausgehende Sinnimpuls führt den Menschen zu einer Stellungnahme. Sie ermöglicht ihm, nicht zu  verzweifeln, sondern seiner Geistbegabung folgend trotzdem ‚Ja‘ zum Leben zu sagen. Der Mensch bezieht Stellung, er bleibt in der Autorschaft seines Lebens und verwirklicht Einstellungswerte.  

Lassen Sie uns kurz zurückschauen: Seinen ersten Vortrag über die Sinnfrage hielt Frankl bereits mit 16 Jahren. Und bereits 1929 fand der 24jährige Frankl dann das Grundgerüst seiner ,Sinnlehre‘ mit den drei Wertekategorien, die für ihn die grundsätzlichen Möglichkeiten des Menschen darstellen, Sinn im Leben zu finden: durch eigenes Erschaffen, durch eigenes Erleben und – in Krisen – durch eigene Neueinstellung zum Leiden.

Nach dem Sinn im Leben zu fragen, stellt das eigentliche Humanum dar. Für Frankl ist der Mensch ständig auf der Suche nach Sinn, er hat einen unbedingten Willen zum Sinn. Findet der Mensch einen Sinn, dann – und nur dann – ist er glücklich. Und damit die Sinnfindung gelingt, kann der Mensch auf eine Fähigkeit zurückgreifen, zu der nur er in der Lage ist: Zur Fähigkeit der Selbsttranszendenz. Der Mensch ist mit dieser Fähigkeit mehr als nur ein reagierendes oder ein abreagierendes Wesen. Er ist auch ein sich selbst vergessen könnendes, sich selbst transzendierendes Wesen. Damit meint Frankl, dass menschliches Dasein immer über sich hinausweist, auf etwas, das nicht er selbst ist, sondern auf etwas oder jemanden, den er liebt. Oder auf eine Aufgabe, die er sich nicht selbst gemacht hat, der er sich aber hingibt. Und auch in einer Situation eines unabänderlichen Schicksals geht es für Frankl nicht darum zu fragen, was man vom Leben (noch) zu erwarten hätte. Diese Haltung führt seiner Meinung nach am Sinn des Lebens vorbei. Es geht vielmehr darum, sich umgekehrt vom Leben befragen zu lassen und darauf zu achten, was das Leben von einem selber verlangt. Es gilt, die Frage der Stunde, des Augenblicks, der Situation zu verstehen und darauf eine ganz persönliche Antwort zu geben, denn, so Frankl, „wir sind es, die zu antworten haben auf die Fragen, die uns das Leben stellt.“

Im Kontext der Wilber’schen Theorie können wir die Analogie bilden, dass ein Mensch, der von seinem Leben aufgefordert wird, ein Gespräch zu führen, eine Aufgabe zu erledigen, ein Problem zu lösen, einen Konflikt zu mindern, eine Krise zu meistern usw. dies entlang seiner Gegenwarts-Bewusstheit, also mit einer seiner entwickelten Werte-Ebenen [Meme-Ebene] tun wird. Anders als in den drei von Frankl genannten Wertekategorien stehen nun für jede Werte-Ebene ein Set an Werten zur Verfügung, die ein Mensch in seinem Wertesystem verankert haben kann [welche Werte in meiner Anschauung den Ebenen zugeordnet werden könnten, werde ich in einem der Folgebeiträge besprechen].

Führt nun eine Situation dazu, dass eine gegebene Gegenwartsbewusstheit für deren Bewältigung nicht passend ist, steht der Mensch [bei Wilber ist das der Prozess des Transzendierens] nun vor dem Aufruf, einen Entwicklungsprozess hin zu einer neuen, höheren Werte-Ebene einzuleiten, der bestenfalls dazu führt, dass damit die Situation gestaltet werden kann.

Im Konzept Frankls steht vor dieser Entwicklung jedoch noch die Beantwortung einer anderen Frage im Vordergrund: Vermittelt der spezifische Aufruf des Lebens dem Menschen Sinn oder ist die Gestaltung der Situation lediglich zweckdienlich?

Dazu ein einfaches Beispiel: Angenommen, eine Person ruft Sie an und fragt, ob es möglich sei, ein Produkt, das üblicherweise von Ihnen hochpreisig verkauft wird, für ein gemeinwohlorientiertes Projekt kostenfrei von Ihnen erhalten zu können?

  • Sofern Sie das, was Sie im Gespräch wahrnehmen, BEGEISTERT, so wird Ihre eigene Geistbegabung dazu beitragen, sofort das Wofür zu entdecken. Aber womöglich wird sich im Anschluss Ihre Psyche melden und Ihnen allerlei Fragen stellen, vielleicht im Sinne eines: Bringt Dich das weiter? Was sind die Pro’s und Con’s? Kannst Du der Sache vertrauen? ….
    In diesem Fall wäre die Psyche eine Art Zensor des Sinnimpulses und eine Reflexion der Frage: Warum brauche ich diesen Zensor? wäre lohnend.
  • Oder aber, Sie sind nicht begeistert, aber Ihre Psyche stellt Ihnen dennoch solche Fragen wie oben und Sie beantworten sie sich so, dass Sie das Produkt zur Verfügung stellen. Dann erfüllt die Abgabe einen Zweck, vielleicht in Form eines Reputationsgewinns, eines guten Gefühls, einer Hoffnung auf eine Belohnung zu späterer Zeit. In diesem Fall wäre die Psyche eine Art Erlaubnisgeber für den guten Zweck und eine Reflexion der Frage: Warum brauche ich eine Stimme in mir, die mir das erlaubt? wäre lohnend.
  • Was aber, wenn Sie BEGEISTERT sind und spontan sagen: Ja, gewiss, damit stehe ich im Einklang! In diesem Fall hat die Psyche nicht die Oberhand über das Geschehen übernommen, sondern das Geistige mit seiner Transzendenzfähigkeit und der mit ihr verbundenen Werteverwirklichung. In diesem Fall wäre also nicht ein Erlaubnisgeber in Ihnen aktiv, sondern Ihr Gewissen – die Instanz der in Ihnen innewohnenden absoluten Selbstverständlichkeit, die sogar beißt, wenn Ihre Psyche versucht, sich zwischen Sie und Ihre gewissenhafte Entscheidung zu drängen. In diesem Fall lohnt sich eine Reflexion der Frage: Wann in meinem Leben habe ich meinen wesentlichen Werten folgend gewissenhaft gehandelt?

Behalten wir das Ausgangsszenario bei und kommen wir zurück zu Ken Wilber. Hier wäre nun die Anfrage nach der Überlassung des Produktes für einen gemeinwohlorientierten Zweck das THEMA. Mit diesem Thema können Menschen nun je nach Status quo ihrer Entwicklungslinie und ihrer Werte-Ebene zu einer völlig unterschiedlichen Entscheidung kommen.

Aber einmal angenommen, Sie hätten den Anruf entgegengenommen und wären auf Ihrer moralischen Entwicklungslinie [ein wissenschaftlicher Protagonist für die Erforschung individueller Moral ist Lawrence Kohlberg] auf der Stufe angekommen, auf der Sie sich an universell ethischen Prinzipien orientieren. Weiter sei angenommen, Sie wären auf der emotionalen Entwicklungslinie [hier ist eine wissenschaftliche Adresse Daniel Goleman] im Feld der Empathie. Und noch weiter sei angenommen, Sie würden zustimmen, auf der Entwicklungslinie Ihrer Bedürfnisse nach Abraham Maslow das Feld der Selbstverwirklichung erreicht zu haben.

Ergänzen wir nun die im Wilber’schen Gedankengut integrierte Betrachtung der Werte-Ebenen nach Clare W. Graves und nehmen an, dass Sie sich Handlungen und Verhaltensweisen entlang von Werten, die auf menschliche Bindung und soziale Verantwortung gerichtet sind, selbstverpflichtet fühlen.

In dieser Konstellation einiger Ihrer Persönlichkeitsmerkmale wäre die Hypothese tauglich, dass Sie das THEMA mit solchen SCHEMATA adressieren, die annehmen lassen, dass Sie Ihre Entscheidung im Kontext des Grünen Meme vornehmen. Es wäre zu erwarten, dass Sie wertebasiert bereit wären, dem Anrufer eine positive Antwort zu geben und Ihr Produkt zur Verfügung zu stellen.

Was aber, wenn Sie zwar über dieses Meme verfügen, jedoch nicht vom Anrufer BEGEISTERT werden? Wenn Sie zwar VERSTEHEN, was der Anrufer mit seiner Frage BEZWECKT, in Ihnen jedoch kein GEFÜHL einer möglichen Werteverwirklichung entsteht, das Sie aufruft, der Anfrage positiv zu folgen? Woran könnte dieser Gefühlsmangel liegen?

  • Vielleicht liegt es daran, dass der Anrufer seine Anfrage auf der Basis eines – im Vergleich zu Ihnen – niedrigeren Werte-Meme vollzieht und dies in Ihnen nicht emotional resoniert?
  • Vielleicht liegt es daran, dass die Wortwahl des Anrufers Sie fühlen lässt, dass dieser eher  nutzenorientiert für die eigene Organisation argumentiert als sinnorientiert für die potenziellen Anwender des Produktes?
  • Vielleicht liegt es daran, dass der Anrufer in seinem Anruf vermissen lässt, auf den eigenen Sinnimpuls hinzuweisen, der ihn erreichte als er Kenntnis von der Existenz Ihres Produktes erlangte? …

Zahllose weitere Möglichkeiten könnten gefunden werden, warum der Anfrage des Anrufers keine entsprechende Handlungsbereitschaft folgt. Meine Thesen dazu sind:

  • Sinnimpulse werden oftmals deswegen nicht wahrgenommen, weil zwischen dem, worum es eigentlich geht, Menschen ‚zwischengeschaltet‘ sind, die sich dieses Eigentliche zum THEMA machen und dann mit ihren Werte-MEME in Kommunikation treten mit anderen Menschen [hier im Beispiel mit dem Angerufenen], in der hoffenden Erwartung, dass sich dieser Mensch das Thema zu seinem THEMA macht. Es scheint erforderlich zu sein, dass Anrufer und Angerufener das Thema aus demselben Werte-Meme anschauen, damit Handlungswunsch und Handlungsbereitschaft einander entsprechen. Besteht diese Meme-Passung nicht, dann kann der eigentliche Sinnimpuls nur nicht wahrgenommen werden, weil das SCHEMA des ‚zwischengeschalteten‘ Kommunikationspartners dem Angerufenen den Zugang zum Eigentlichen verunmöglicht.
  • Eine unzureichende Meme-Passung, die dazu führen kann, dass keine Begeisterung für das eigentliche Thema aufkeimt und es darum nicht zu einer Handlung kommt, ermöglicht der Psyche, die Oberhand über das Geschehen zu behalten. Im genannten Szenario wären dies beispielsweise Verärgerungen darüber, dass der Anrufer mit seinem Anliegen dem Angerufenen Zeit geraubt hat. Oder dass es dem Anrufer nicht möglich war, das, worum es im Eigentlichen geht, nicht nur sachlich, sondern auch nachfühlbar zu kommunizieren. Oder dass es dem Anrufer schlicht deshalb nicht möglich war, Begeisterung zu entzünden, da er sich das eigentliche Thema selbst nicht zum Thema gemacht hat, sondern vielleicht für ihn nur im Vordergrund stand, dem Thema ‚Leute anrufen und ihnen von dem Eigentlichen erzählen‘ zu folgen [wir kennen dieses Phänomen, dass ‚Anrufer‘ mit dem Eigentlichen nicht korrespondieren, zum Beispiel aus dem Direktvertrieb; ich persönlich auch aus Kommunikation mit Kirchenleuten].

Was also tun, um den Sinn des Eigentlichen zu finden, wenn es aufgrund unpassender Werte-Meme von Kommunikationspartnern nicht durchdringt? Im Kern gibt es für Situationen wie diese – wie ich finde – nur eine Antwort: Behalten Sie das ‚wofür wäre meine Handlung für das Eigentliche gut‘ im Auge. Alles andere lenkt ab und ermöglicht der Psyche, die Oberhand über das Geschehen zu gewinnen. Konkret im Fallbeispiel bedeutet das: Es ist irrelevant, ob der Anrufer Sie begeistert, Ihnen schmeichelt, Sie umwirbt usw.. Relevant ist, ob Ihre Handlung für das gemeinwohlorientierte Projekt gut ist. Bemerken Sie bei dieser Bewertung, dass Sie sich selbst mitthematisieren, dass Sie also überlegen, ob Ihre Handlung auch für Sie selbst gut ist, dann hat Ihre Psyche bereits ihren ‚Kaperungsversuch‘ unternommen. Sich dessen bewusst zu werden, wann, wie und warum die Psyche bestrebt ist, sich in Ihre Handlungen einzumischen, ist der zentrale Schritt auf dem Weg zur Differenzierung von sinnvollen und zweckdienlichen, womöglich sogar sinn- und/oder zwecklosen Handlungen.

Nun mag man fragen, ob das nicht ein wenig zu viel verlangt sei und an der Lebenswirklichkeit eines Menschen vorbeiginge, wenn die Erwartung wäre, dass dieser Differenzierungsprozess ständig ablaufen müsse.

Da der Mensch stets vor eine Wahl gestellt wird, erfährt er sich als ein im Grunde vom seinem Leben permanent Befragter. Jede Lebenssituation, jeder Tag und jede Stunde stellt ihn vor eine Wahl, verlangt eine Entscheidung von ihm. Der Mensch ist in den Augen Frankls ein vom Leben in Frage Gestellter, der auf die Anfragen des Lebens die passenden Antworten finden muss. Gleichzeitig aber strebt der Mensch als selbständig denkendes und handelndes Wesen danach, für sein Leben selbst einzutreten, es autonom und eigenverantwortlich zu führen. Daraus folgt, dass der Mensch eine persönliche Orientierungshilfe benötigt, die ihm sagt, wo und wann er welche Entscheidungen treffen soll. Diese Orientierung bietet der Sinn, er ist die wertvollste Möglichkeit in jeder Situation. Ohne ihn wird ein Mensch von sich selbst abhängig und damit von seinem Psychophysikum. Gefundener Sinn im Leben macht ebendieses leichter.

Das klingt in den Ohren vieler, denen das Herz schwer ist, die sich damit schwertun, Entscheidungen zu treffen oder die sich nur schwerlich dazu aufraffen können, sich mit ihren Alltäglichkeiten auseinanderzusetzen wie eine Offenbarung. Ja, wenn es doch nur einmal so leicht ginge. Genauer hingeschaut zeigt sich aber immer wieder: Was das Leben schwer macht, ist das Psychische, zuweilen auch der psychische Umgang mit etwas Körperlichem. Das ist seltsam, erzeugt es doch ein Bild einer Dimension, die es förmlich darauf abgesehen hat, einem Menschen die Freude am Sein recht gründlich zu vermiesen. Und in der Tat, wenn ich mich definiere als Wesen, das sich gegenüber den Unwettern der Erbsünde, des freudianischen Spagats zwischen Es und Über-Ich, des adlerianischen Minderwertigkeitsempfindens, des jungianischen Verdrängungsschattens, der projizierten Glaubenssätze, der im Lebensverlauf zahllosen Feedbacks usw. zu schützen hat, dann wird das Leben zu einem wahren Dauerlauf-Kraftakt. Wie viele Kalorien täglich braucht eine Psyche wohl, um diesen Dauerlauf zu schaffen?

Ken Wilber bietet uns in diesem Kontext diese Perspektive an: „Wir sehen nicht, dass der GEIST hier und jetzt voll und ganz gegenwärtig ist, weil unser Gewahrsein durch Vermeidungstendenzen getrübt ist. Wir wollen nicht entscheidungslos die Gegenwart bewahren; wir wollen vielmehr vor ihr davonlaufen, oder ihr nachlaufen, oder wir möchten sie ändern, sie hassen, sie lieben, sie verabscheuen oder irgend etwas unternehmen, um in sie hinein oder aus ihr hinaus zu gelangen. Wir tun alles Mögliche, nur nicht in der reinen Gegenwart des Gegenwärtigen verweilen.“ Und lesen wir dazu Frankl: „Die Aufgabe wechselt nicht nur von Mensch zu Mensch – entsprechend der Einzigartigkeit jeder Person –, sondern auch von Stunde zu Stunde, gemäß der Einmaligkeit jeder Situation“, so wird eine Gemeinsamkeit im Gedankengut deutlich: Jederzeit und jetzt hält das Leben jedem Menschen Sinn bereit. Diesen Sinn können wir nicht machen und wir müssen es auch nicht. Ken Wilber dazu: „Die Wörter selbst sind nicht die Dinge, auf die sie verweisen. (…) Unsere Wörter, und mit ihnen unsere Ideen, Begriffe und Theorien sind nur Karten der tatsächlichen Welt.“

Jeder Versuch, sich Sinn zu machen, stellt daher einen Akt der Psyche dar, dem Gefühl der Sinnleere entgegenzuwirken. Das klingt mühevoll, schwer und anstrengend. Anders die Grundüberzeugung Frankls, dass der Mensch ein Gespür dafür hat, wofür diese Stunde geschaffen ist, was jetzt gerade das Beste zu tun oder zu lassen ist. Diese intuitive Fähigkeit zur Sinnfindung in jeder Situation ist eine dem Menschen innewohnende Fähigkeit – es ist Gewissen. „Das Gewissen lässt sich definieren als die intuitive Fähigkeit, den einmaligen und einzigartigen Sinn, der in jeder Situation verborgen ist, aufzuspüren. Mit einem Wort, das Gewissen ist ein Sinn-Organ.“[Frankl]

Die grundlegende Haltung der Weltoffenheit und des Sich-Anfragen-Lassens mündet in einem Prozess, der zum Sinn führt. Im allgemeinen taucht ein Sinngefühl mehr oder weniger bewusst auf, wenn wir uns die Realität einer Situation anschauen. Dieses Sinngefühl empfinden wir als innere Bewegtheit, als Resonanz des eigenen Wertesystems mit dem, wozu das Leben den Menschen jetzt aufruft. Das Gefühl dieser Resonanz kann sich langsam entwickeln wie ein Bild, das aus dem Nebel auftaucht, oder es kann wie ein Blitz mit der ganzen klaren Gewissheit sofort da sein.

Wie auch immer, wenn der geistige Rucksack des Menschen so prall gefüllt ist, um Sinn zu finden und wenn die Fähigkeit zur Bewusstseinsentwicklung auch von Wilber [Stichwort: ‚Einschließen und Transzendieren‘] postuliert wird, dann muss interessieren, wie menschliches Dasein konstituiert ist, so dass Formen existentieller Frustration überhaupt möglich sind? Wenn es doch an sich kein Problem sein dürfte, warum gibt es dann immer mehr Menschen, denen ein tragender Sinn im Leben verloren gegangen ist, die unter Orientierungslosigkeit, Inhaltsleere ihres Lebens oder unter einer Sinnkrise leiden?

Häufig meinen Menschen, darauf mit einer Wenn-Dann-Logik antworten zu können: Weil Arbeitslosigkeit, weil der Tod eines nahestehenden Menschen, weil der Verlust einer Beziehung durch Trennung oder Scheidung, weil eine schwere körperliche oder seelische Krankheit, weil ein chronisches Leiden, weil …, deshalb existenzielle Frustration.

Erinnern wir noch einmal Wilber: Die Wörter selbst sind nicht die Dinge, auf die sie verweisen, sie sind nur Karten der tatsächlichen Welt. Die tatsächliche Welt ist also viel größer, und der Mensch hat weit mehr ‚zuhanden‘ [vgl. dazu auch Martin Heidegger „Zuhandenheit ist die ontologisch-kategoriale Bestimmung von Seiendem, wie es ‚an sich‘ ist“].

‚An sich‘ sieht sich der Mensch den Gegenständen in der Welt gegenüber, von denen ihn einige zuweilen psychisch frustrieren und ihn vermeintlich sinnblind werden lassen, wenngleich sich darüber hinaus geistig blickend stets neue Sinnmöglichkeiten auftun. Es scheint, als würde heutiges menschliches Dasein diesen geistigen Blick ins Leben erschweren und Menschen zunehmend glauben machen, der eigene Ausschnitt von Welt sei bereits die Welt. Und mir scheint zudem, dass Wilber wie Frankl gleichermaßen den Schlüssel zur Überwindung dieser ‚Weltausschnittsgrenzen‘ in der Trans-zendenzfähigkeit des Menschen sehen. Eine Fähigkeit, die in meiner Anschauung etwas Wesentliches sowohl bedingt als auch mitmeint: Die Offenheit zur Klärung und Weiterentwicklung des eigenen Wertesystems. Und die Offenheit zur ‚Vernachbarschaftlichung‘ alles Anderen mit dessen Werten. 

Ich will diesen Umgang mit sich selbst und der Welt als vierte Hauptstraße zum Sinn verstehen und dem diese Straße gehenden Menschen im übernächsten Beitrag auch eine spezifische Beschreibung geben.