Entscheidungsfindung in Gewissensfragen

Ein Stuhl ist ein Stuhl ist ein Stuhl … – oder? Hier zuerst einmal viele Sichtweisen auf, ja, auf was eigentlich?

  • Aus Sicht eines Realisten ist ein Stuhl ein physisches Objekt, das unabhängig von menschlicher Wahrnehmung und Gedanken existiert und objektive Eigenschaften wie Größe, Form, Material und Funktion besitzt.
  • Aus Sicht eines Empiristen ist ein Stuhl ein physisches Objekt, dessen Existenz und Eigenschaften durch sinnliche Wahrnehmung und Erfahrung erkannt werden.
  • Aus Sicht eines Idealisten ist ein Stuhl in erster Linie eine Konstruktion des Gehirns, die als Idee existiert und keine unabhängige Existenz außerhalb des Bewusstseins hat.
  • Aus Sicht eines Konstruktivisten ist ein Stuhl ein Konzept, das durch soziale Interaktionen und individuelle Erfahrungen konstruiert wird, wobei die Wahrnehmung und Bedeutung des Stuhls durch kulturelle und soziale Kontexte geformt werden.
  • Aus Sicht eines Utopisten könnte ein Stuhl als Symbol für eine ideale Gesellschaft betrachtet werden, in der seine Gestaltung, Nutzung und Verfügbarkeit die Prinzipien von Schönheit, Funktionalität und Gleichheit widerspiegeln. Der Stuhl repräsentiert dabei nicht nur ein physisches Objekt, sondern auch die Vision einer perfektionierten sozialen Ordnung und harmonischen Lebensweise.
  • Aus Sicht eines Phänomenologen wird ein Stuhl als Phänomen betrachtet, das durch die unmittelbare Erfahrung und das Bewusstsein des Individuums verstanden wird. Die Bedeutung des Stuhls entsteht durch die Art und Weise, wie er im Bewusstsein erscheint.
  • Aus Sicht eines Pragmatikers wird ein Stuhl in Bezug auf seine praktische Nutzung und die Konsequenzen seiner Verwendung betrachtet. Der Wert und die Bedeutung des Stuhls ergeben sich aus den praktischen Auswirkungen, die er auf das Handeln der Menschen hat.
  • Aus Sicht eines Existentialisten ist ein Stuhl ein Objekt, dessen Bedeutung durch die individuelle Erfahrung und die Freiheit des Menschen, ihm Sinn zu verleihen, entsteht. Existentialisten betonen die Rolle der persönlichen Entscheidung und Verantwortung bei der Interpretation der Welt.
  • Aus Sicht eines Strukturalisten wird ein Stuhl als Teil eines größeren Systems von Zeichen und Bedeutungen betrachtet. Die Bedeutung des Stuhls ergibt sich aus seiner Position innerhalb dieses Systems und den Beziehungen zu anderen Zeichen.
  • Aus Sicht eines Poststrukturalisten wird ein Stuhl als instabiler und fluid konstruierter Begriff betrachtet, dessen Bedeutung sich ständig verändert und von Machtverhältnissen und Diskursen beeinflusst wird.
  • Aus Sicht eines Funktionalisten wird ein Stuhl in Bezug auf seine Funktionen und die Rolle, die er in verschiedenen Systemen spielt, betrachtet. Die Bedeutung des Stuhls ergibt sich aus den Funktionen, die er für Menschen und Gesellschaften erfüllt.
  • Aus Sicht eines kritischen Rationalisten, ist ein Stuhl ein physisches Objekt, dessen Existenz und Eigenschaften zwar durch sinnliche Wahrnehmung erkannt werden, aber dessen Verständnis und Beschreibung stets offen für kritische Überprüfung und Falsifizierung bleiben. Aussagen über den Stuhl sind stets vorläufige Hypothesen, die durch empirische Beobachtung bestätigt oder widerlegt werden können.

Und nun das Ganze einmal für den Kontext „Was ist in der Bundeswehr ein Dienst an der Waffe, und anhand welcher Perspektive soll ich mich für oder gegen diesen Dienst entscheiden?‘

Realismus: Die Frage wird als objektives moralisches Problem gesehen – Handlungen an Waffen haben reale Konsequenzen, die unabhängig von subjektiver Wahrnehmung existieren.
Anregung: Prüfen Sie die tatsächlichen Konsequenzen Ihres Handelns: Was bedeutet es, eine Waffe zu tragen und gegebenfalls auch einzusetzen? Welche objektiven Gefahren oder moralischen Konflikte bestehen?

Empirismus: Die Frage wird durch persönliche Erfahrungen, Beobachtungen und Sinneswahrnehmungen bewertet.
Anregung: Informieren Sie sich über die Zahlen, Daten und Fakten der Bundeswehr: Sprechen Sie mit Soldaten, nutzen Sie die Möglichkeiten der unmittelbaren persönlichen Erfahrung. Welche Rückschlüsse lässt das Datenmaterial auf die moralische Dimension Ihrer Überlegungen zu?

Idealismus: Die Frage existiert primär im Bewusstsein; wesentliche Werte und persönliche Ideale bestimmen, welche perfekte Vorstellung Sie von Ihrem Leben haben.
Anregung: Reflektieren Sie, welche Ideale für Sie zentral sind. Welche Entscheidung stimmt am besten mit Ihrem inneren Bild überein?

Konstruktivismus: Die Frage ist Teil einer sozialen Konstruktion. Ihre Bedeutung entsteht durch Kultur, Erziehung und Austausch.
Anregung: Sprechen Sie mit Familienmitgliedern, Freunden, Lehrern oder anderen jungen Menschen. Welche Vorstellungen und Normen der Gesellschaft beeinflussen Ihre Frage? Wie interpretieren Sie diese für sich selbst?

Utopismus: Die Frage wird als Prüfstein für eine weit über die aktuelle Lage hinausreichende Vorstellung einer zukünftigen Gesellschaft angesehen, für die die aktuell zu treffende Entscheidung einen Beitrag leistet.
Anregung: Überlegen Sie, wie eine Welt aussehen würde, die Sie als die beste aller Welten betrachten. Wie würde Ihre Entscheidung dieser Vision entsprechen oder ihr widersprechen?

Phänomenologie: Die Frage wird aus der unmittelbaren persönlichen Erfahrung betrachtet.
Anregung: Achten Sie auf Ihre unmittelbaren Gefühle und Gedanken, wenn Sie sich vorstellen oder – so Ihnen die Möglichkeit dafür angeboten wird – eine Waffe zu tragen. Welchen Einfluss hat das unmittelbare Erleben auf Ihren Entscheidungsprozess?

Pragmatismus: Die Frage zielt auf die praktischen Folgen Ihrer Entscheidung?
Anregung: Überlegen Sie, welche Konsequenzen Ihr Handeln konkret haben wird – für Sie selbst im Kontext Ihrer Persönlichkeitsmerkmale, Kompetenzen, Interessen usw., für andere Menschen, für die Gesellschaft und Ihre Lebenswelt.

Existenzialismus: Die Frage zielt auf den Zusammenhang von individueller Freiheit und Verantwortung.
Anregung: Prüfen Sie, welche Freiheitsgrade Ihnen zur Verfügung stehen, um Ihre Entscheidung selbst zu treffen und reflektieren Sie dann, welche Wahl authentisch für Ihr Leben ist und wofür Sie persönlich Verantwortung übernehmen wollen.

Strukturalismus: Die Frage findet ihren Platz im System von Normen und gesellschaftlichen Regeln und wird aus dieser Perspektive beantwortet.
Anregung: Analysieren Sie, welche Werte, Gesetze und sozialen Erwartungen die Bundeswehr einerseits und Ihr Lebensumfeld andererseits definieren. Welche Handlungsoptionen ergeben sich daraus systematisch?

Poststrukturalismus: Die Frage wird als dauerhaft offene Frage behandelt, da sie von flexiblen Diskursen und Machtverhältnissen beeinflusst wird.
Anregung: Hinterfragen Sie die aktuell dominanten Narrative zur Frage, warum oder warum nicht ein Dienst an der Waffe von wem als ‚richtige‘ Entscheidung angesehen wird? Welche weiteren Perspektiven und Diskurse könnten andere Antworten nahelegen?

Funktionalismus: Die Frage wird nach ihrer Funktion im sozialen System gestellt
Anregung: Überlegen Sie, welchen Auftrag Ihr möglicher Dienst an der Waffe im militärischen, gesellschaftlichen oder familiären System erfüllt. Welche dieser Funktionen sind dabei für Sie relevant?

Kritischer Rationalismus: Die Frage steht im Licht rationaler Überlegung, aber unter dem Vorbehalt, dass alle moralischen Theorien und Prinzipien fehlbar sind und stets einer kritischer Prüfung ihrer Hypothesen bedürfen.
Anregung: Formulieren Sie zuerst unterschiedliche Positionen zum Dienst an der Waffe als „Hypothesen“ (z. B. „Dienst ist vertretbar, weil…“, „Dienst ist problematisch, weil…). Prüfen Sie sie kritisch: Welche Argumente stützen oder widerlegen sie? Unter welchen Bedingungen würden Sie Ihre Entscheidung auf Grundlage neuer Informationen oder Einsichten anpassen?

Allgemein: Mit jeder Entscheidung wählt ein Mensch etwas und er wählt gleichzeitig etwas ab. Existenzielle Entscheidungen tragen im Kern immer einen Wertekonflikt in Form eines Dilemmas mit sich. Jeder Mensch hat im Leben irgendwann eine solche Bedingung, zu der er so oder so Stellung beziehen muss. Als Grundlage der Orientierung dient für eine persönliche, freie und verantwortete Stellungnahme das individuelle Wertesystem.