Heute schon gestaunt? Über ein Verhalten, eine Leistung, eine Stellungnahme, eine Haltung? Im Kern staunt man über verwirklichte Werte einer Person oder einem Team, manchmal sogar einer ganzen Gesellschaft (so staunten nicht wenige Menschen auf der Welt über das Verhalten und die Handlungen vieler Deutscher beim Flüchtlingszustrom 2015, oder auch beim WM Sommermärchen). Ich persönlich staunte jüngst über den Stabhochspringer Armand Duplantis als dieser sich 6,30 Meter in die Höhe katapultierte. Oder über unsere Handballer und Handballerinnen und deren Teamgeist. Ich staunte über den virtuosen Einsatz einer der Lektoren meines jüngsten Buches. Und über die klugen Strategien der deutschen Zollbeamten beim Ausheben krimineller Clans im Kampf zum Beispiel gegen Menschen-, Drogen- und Waffenhandel. Ich bestaunte die Kunst von Marina Abramovic … Und wenn ich so darüber nachdenke, dann staune ich am ehesten, wenn ich wahrnehme, wie Menschen über sich hinausreichen.
Staunen lässt sich nicht erzwingen, es geschieht plötzlich und unerwartet, wie ein kleiner Moment des Todes von dem, was kurz zuvor noch als ganze Realität schien. Staunen drückt einen Reset-Knopf, weil man begreift, dass etwas Unbegreifliches geschieht, ohne dass die Erfahrung den Menschen bedroht oder ihn lähmt (wie beim Entsetzen). Wer staunt, ist weltoffen und wird von seiner Welt angesprochen. Wen nichts erstaunt, der mag abgestumpft, gleichgültig oder zynisch seiner Welt entgegenblicken – vielleicht bewegt er sich aber auch nur in einer ‚Blase‘, in der die Türen geschlossen sind?
Staunen gehört zur emotionalen Grundausstattung jedes Menschen. Am ehesten staunen wohl noch Kinder, und manche Eltern staunen darüber, worüber ihre Kinder so alles staunen. Versucht man das Phänomen rein neurowissenschaftlich zu erklären, dann findet sich in einer Situation ein Auslöser für einen Sinnesreiz, der innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde im limbischen System des menschlichen Gehirns zu einer Bewertung führt: in Form einer Neubewertung (‚das ist ja eine komplett neue Erfahrung für mich‘) oder als bewusster Gedanke (‚da hätte ich ja nie für möglich gehalten‘) oder als automatischer, unwillkürlicher Impuls (‚wow!‘ – mit dem so oft erwähnten ‚offenen Mund‘). Die Bewertung führt ihrerseits zu einer Konsequenz: emotional in Form positiver Überraschung, körperlich in Form eines positiv aufrüttelnden Empfindens, im Verhalten in Form einer verbalen und non-verbalen Kommunikation mit anderen und-oder mit sich selbst.
Aber ist das alles? Ich will meinen, nein. Denn, wer staunt, bestaunt meist ’nur‘ ein Ergebnis, ein außergewöhnliches Ergebnis. Wer ’nur‘ so staunt, verpasst etwas. Tiefgründiger kann man jedoch bestaunen, worum es der Person oder der Personen ging, als sie verwirklichte, was man selbst nun bestaunt. Tiefgründiger bestaunt man die Werte dieses Gegenüber. So wird aus Staunen eine spezifische Form der Wertschätzung. Damit wird es zu mehr als zu einem psychischen Prozess von Reizwahrnehmung – Reizverarbeitung – Reaktion, sie wird zu einem Ausdruck einer aktivierten geistigen Dimension (analog dazu könnte man meines Erachtens argumentieren, dass Bestürzung auch ein Ausdruck des Geistigen ist, hier jedoch aufgrund des Erlebens der Verwirklichung dysfunktional Abwertigen im Verhalten einer Person).
So betrachtet, stellt Staunen mehr dar, als ein bis dato unbekanntes Muster, was das limbische System nur noch nicht einordnen konnte. Es ist mehr als nur ein kognitiver Affekt, sondern vielmehr Ausdruck von etwas spezifisch Humanem: der Fähigkeit der Bewertung bislang noch nicht erlebter Selbsttranszendenz dessen, der den Staunenden mit ihr beschenkt hat.
Wer vom Moment des Staunens zum Denken über das ihn Bewegende angeregt wird, der kann sich damit philosophisch Fragen nähern, die das Prinzipielle des Seins berühren. Ein Sein, in dem Sichtbares und Unsichtbares, Wissen und Nichtwissen, zusammenwirken und wo der seiende Mensch immer wieder einmal erstaunt erfährt, dass das Finale des Lebens längst noch nicht erreicht ist – selbst und gerade dann, wenn er vielleicht der Ansicht ist, alle Anstrengungen bereits unternommen zu haben, mit dem eigenen Verstand den Sinn des Lebens geklärt zu haben.
„Das Höchste, wozu der Mensch gelangen kann, ist das Erstaunen; und wenn ihn das Urphänomen in Erstaunen setzt, so sei er zufrieden; ein Höheres kann es ihm nicht gewähren, und ein Weiteres soll er nicht dahinter suchen; hier ist die Grenze.“
Johann Wolfgang von Goethe




