Archiv für den Autor: Ralph Schlieper-Damrich
Was wir in der KrisenPraxis gerade lesen
Wo kommt er her, der Sinn?
Mit meinen Ausführungen unter dem Titel ‚Eigentlich ist Leben einfach‘ habe ich den Gedanken ausgerollt, dass sich Sinn nur in den beiden unteren Quadranten des Wilberschen AQAL-Modells finden lässt. In meinem Buch ‚Sinncoaching‚ findet sich dazu die ‚Formel‘: Sinnfindung = Werteklarheit x Weltoffenheit². Den Raum zu vergrößern, den sich eine Person dank ihrer grundsätzlichen Fähigkeit der Weltoffenheit erschließen kann, wird zu einer günstigen Wirkung einer Logotherapie oder eines Sinncoachings dann, wenn eine Person Bedingungen beklagt, die ihr einen freien und selbstverantwortlichen Zugang in diesen Raum erschweren. Erschwernisse dieser Art wurden von Frankl mit seinem Terminus ‚Tragische Trias‘ (Leid, Tod, Schuld) beschrieben und von mir mit der Tragischen Berufstrias (Verfehlung, Verlust, Trennung) erweitert.
Arbeite ich mit Klienten hin zu einer Stärkung ihrer Weltoffenheit, wird immer wieder gefragt (zuweilen auch in Frage gestellt), ob und wie denn überhaupt davon ausgegangen werden könne, dass die Welt Sinn für einen Menschen bereit hält? Das Gespräch führe ich dann meist so weiter: „Einmal angenommen, eine positive Antwort auf Ihre Frage liegt auf dem Tisch. Würden Sie dann anders handeln als Sie es gerade jetzt tun, wo Sie mir von Ihren Erschwernissen berichten?“ Die Antworten der Klienten auf diese Frage gehen meist in eine Richtung wie: „Sicher, ja, das wäre ja eine Verbesserung, eine Motivation, ein neuer Lebensgrund … für mich“. Manche Klienten sagen auch zum Beispiel: „das wäre erstaunlich, aber ich würde darüber dann zumindest nachdenken.“
Nach dieser Antwort lade ich den Klienten ein, sich für einen Gedanken aus der aristotelischen Philosophie und Physik zu öffnen. Der Gedanke geht in diese Richtung:
„Ihre Antwort gibt wieder, dass Sie sich bewegen, dass Sie handeln werden, wenn Sie Ihre Eingangsfrage positiv beantwortet sehen. Nehmen Sie dazu an, dass es etwas Erstes gibt, dass diese Bewegung in Ihnen anregt. Wir nennen dies nun ‚das unbewegt Bewegende‘. Der Begriff der Bewegung beweist die Notwendigkeit der Annahme eines ersten unbewegt Bewegenden. Die These, dass alle Dinge, die in Bewegung sind, von etwas anderem bewegt werden, bedeutet, dass Bewegung überhaupt nur dann zu Stande kommen kann, wenn es etwas von dem Bewegten Verschiedenes gibt, das die Bewegung verursacht. Wir können Bewegung von etwas nur dann verstehen, wenn wir verstanden haben, von was das, was bewegt wird, bewegt wird.
Wenn Sie also sagen, Sie würden nach Erhalt der Antwort auf Ihre Frage anders handeln als bislang im Kontext Ihres Anliegens, dann steht damit fest, dass Sie selbst es nicht sein können, der sich da zuerst bewegt. Würden Menschen glauben, sie allein wären es, die sich bewegen – sie wären also Selbstbeweger -, dann gingen sie davon aus, dass sie beides sind: jemand, der bewegt wird, und der, der bewegt. Fallen beide aber in Eins zusammen, dann ließe sich Bewegung, die erklärt werden soll, nicht erklären, wir kämen in einen unendlichen Regress. Die Ursache der Bewegung kann also kein Selbstbeweger sein. Vielmehr muss diese Ursache ein unbewegt Bewegendes sein. Da Sie sagen, dass die Antwort auf Ihre Frage Sie in Bewegung brächte, muss es etwas geben, dass unbewegt ist. Nennen wir es das Prinzip, von dem alle Bewegung abhängt.
Welchen Begriffsnamen ein Mensch diesem Prinzip gibt, entscheidet der Mensch. Ich habe entschieden, diesem Prinzip den Begriff Sinn zu geben. Sinn ist unbewegt und weil er es ist und in Ihrer Lebenswelt nicht weicht, kann er von Ihnen gefunden werden. Finden Sie ihn, bewegt er sie und Sie handeln. Wenn Sie diesem Prinzip auch den Begriff Sinn geben wollen, dann hält Ihre Lebenswelt ihn für Sie bereit. Wenn Sie diesem Prinzip einen anderen Begriff zuordnen wollen, dann prüfen wir ihn darauf, ob er unbewegt bewegt und wenn ja, dann nehmen wir diesen.“
„Menschsein heißt, immer schon über sich selbst hinaus und auf etwas gerichtet sein, das nicht wieder es selbst ist, auf etwas oder jemanden, auf einen Sinn, den es erfüllt, oder auf anderes menschliches Sein, dem es liebend begegnet. Und es gilt, daß der Mensch in dem Maße er selbst ist, in dem er sich selbst übersieht und vergißt.“
(aus Viktor Frankl, Der Mensch auf der Suche nach Sinn)
Manchmal kommt es beim Gespräch über die Sinnfindung auch zu, den Klienten überraschenden Erkenntnissen. Zum Beispiel, dass er bislang daran glaubte, dass er nur wissen müsse, warum er etwas tut, um sich darüber zu motivieren, es auch umzusetzen. Und wer will bestreiten, dass positive und selbstgesteuerte Ziele nicht eine gute Grundlage dafür sind, dranzubleiben, auch wenn das Ziel schwierig und anstrengend zu erreichen ist? In der Psychologie gibt es zahlreiche Verfahren, die messen, wie es um die psychische Fähigkeit zur Zielerreichung bestellt ist. Und es gibt auch Verfahren, die messen, womit Menschen sich Sinn machen, um diesen subjektiven Sinn dann in Ziele zu transformieren. Dieser Aspekt von Sinn ist ein individueller. Ein universeller hingegen fragt jeden Menschen irgendwann danach, worum es ihm nun zu gehen hat? Die Worum-Frage ist existenziell, sie zu beantworten braucht weit mehr als die Antwort auf die Frage nach einem subjektiven Warum.
Warum soll ich etwas tun? Wer sich so fragt, antwortet selbstbezüglich. Und wer auf diese Frage keine Antwort weiß oder davon ausgeht, diese Frage mangels Kompetenzen oder anderer fehlender Ressourcen ohnehin nicht beantworten zu können, der ist an sich schlau, wenn er sich aus diesem Umstand auch kein Problem macht. Dann lebt man eben in den Tag hinein und vermisst womöglich dabei auch nichts. Werden Menschen mit dieser Haltung dann nach dem Sinn in ihrem Leben befragt, wird man wohl eher ein Achselzucken ernten oder einen gelangweilten Blick – und nicht unbedingt eine Aussage, die darauf schließen ließe, dass es dem befragten Menschen irgendwie schlecht geht. Aber: Die individuell mögliche Bedeutungslosigkeit von Sinn lässt sich mit psychometrischen Verfahren messen, doch sagen die Ergebnisse überhaupt nichts darüber aus, ob dieser Zustand im nächsten Moment für die Person noch gültig ist. Und eben diesen nicht völlig auszuschließenden, nächsten Moment im Leben einer Person, in dem die Antwort auf ein ‚Worum hat es mir jetzt in meinem Leben zu gehen?‘ zu geben ist – dieser Moment ist nicht messbar. Und die Menschen, die diesen Moment gerade jetzt in Form einer Frage fühlen, die ihr Leben ihnen gerade jetzt stellt, kommen in der empirischen Sinnforschung nicht vor. Das alles macht diese Forschung zwar nicht zwecklos, aber eins leistet sie keineswegs: Eine Antwort darauf zu geben, worum es einem Menschen im nächsten Moment seines Lebens wohl zu gehen hat.
„Im Gegensatz zum faktischen Ich ist das Selbst ein fakultatives.
Es repräsentiert den Inbegriff der Möglichkeiten des Ich.“
Viktor E. Frankl (in: „Der leidende Mensch“, 3. Auflage, Huber Verlag, 2005, S. 169)
Dazu ein kleines Reflexionsangebot:
Selbstwirksamkeit: Menschen haben ein angeborenes Bedürfnis, etwas in der Welt zu bewegen, einen Unterschied zu machen und die eigene Lebensenergie auf etwas zu richten, was als wertvoll bewertet wird.
Sinnwirksamkeit: Menschen haben ein angeborenes Bedürfnis, etwas auf Basis ihrer Werte in die Welt zu schaffen, was durch Hingabe für eine Sache oder in Liebe für einen anderen Menschen einen Sinn verwirklicht.
Entscheidungsfindung in Gewissensfragen
Ein Stuhl ist ein Stuhl ist ein Stuhl … – oder? Hier zuerst einmal viele Sichtweisen auf, ja, auf was eigentlich?
- Aus Sicht eines Realisten ist ein Stuhl ein physisches Objekt, das unabhängig von menschlicher Wahrnehmung und Gedanken existiert und objektive Eigenschaften wie Größe, Form, Material und Funktion besitzt.
- Aus Sicht eines Empiristen ist ein Stuhl ein physisches Objekt, dessen Existenz und Eigenschaften durch sinnliche Wahrnehmung und Erfahrung erkannt werden.
- Aus Sicht eines Idealisten ist ein Stuhl in erster Linie eine Konstruktion des Gehirns, die als Idee existiert und keine unabhängige Existenz außerhalb des Bewusstseins hat.
- Aus Sicht eines Konstruktivisten ist ein Stuhl ein Konzept, das durch soziale Interaktionen und individuelle Erfahrungen konstruiert wird, wobei die Wahrnehmung und Bedeutung des Stuhls durch kulturelle und soziale Kontexte geformt werden.
- Aus Sicht eines Utopisten könnte ein Stuhl als Symbol für eine ideale Gesellschaft betrachtet werden, in der seine Gestaltung, Nutzung und Verfügbarkeit die Prinzipien von Schönheit, Funktionalität und Gleichheit widerspiegeln. Der Stuhl repräsentiert dabei nicht nur ein physisches Objekt, sondern auch die Vision einer perfektionierten sozialen Ordnung und harmonischen Lebensweise.
- Aus Sicht eines Phänomenologen wird ein Stuhl als Phänomen betrachtet, das durch die unmittelbare Erfahrung und das Bewusstsein des Individuums verstanden wird. Die Bedeutung des Stuhls entsteht durch die Art und Weise, wie er im Bewusstsein erscheint.
- Aus Sicht eines Pragmatikers wird ein Stuhl in Bezug auf seine praktische Nutzung und die Konsequenzen seiner Verwendung betrachtet. Der Wert und die Bedeutung des Stuhls ergeben sich aus den praktischen Auswirkungen, die er auf das Handeln der Menschen hat.
- Aus Sicht eines Existentialisten ist ein Stuhl ein Objekt, dessen Bedeutung durch die individuelle Erfahrung und die Freiheit des Menschen, ihm Sinn zu verleihen, entsteht. Existentialisten betonen die Rolle der persönlichen Entscheidung und Verantwortung bei der Interpretation der Welt.
- Aus Sicht eines Strukturalisten wird ein Stuhl als Teil eines größeren Systems von Zeichen und Bedeutungen betrachtet. Die Bedeutung des Stuhls ergibt sich aus seiner Position innerhalb dieses Systems und den Beziehungen zu anderen Zeichen.
- Aus Sicht eines Poststrukturalisten wird ein Stuhl als instabiler und fluid konstruierter Begriff betrachtet, dessen Bedeutung sich ständig verändert und von Machtverhältnissen und Diskursen beeinflusst wird.
- Aus Sicht eines Funktionalisten wird ein Stuhl in Bezug auf seine Funktionen und die Rolle, die er in verschiedenen Systemen spielt, betrachtet. Die Bedeutung des Stuhls ergibt sich aus den Funktionen, die er für Menschen und Gesellschaften erfüllt.
- Aus Sicht eines kritischen Rationalisten, ist ein Stuhl ein physisches Objekt, dessen Existenz und Eigenschaften zwar durch sinnliche Wahrnehmung erkannt werden, aber dessen Verständnis und Beschreibung stets offen für kritische Überprüfung und Falsifizierung bleiben. Aussagen über den Stuhl sind stets vorläufige Hypothesen, die durch empirische Beobachtung bestätigt oder widerlegt werden können.
Und nun das Ganze einmal für den Kontext „Was ist in der Bundeswehr ein Dienst an der Waffe, und anhand welcher Perspektive soll ich mich für oder gegen diesen Dienst entscheiden?‘
Realismus: Die Frage wird als objektives moralisches Problem gesehen – Handlungen an Waffen haben reale Konsequenzen, die unabhängig von subjektiver Wahrnehmung existieren.
Anregung: Prüfen Sie die tatsächlichen Konsequenzen Ihres Handelns: Was bedeutet es, eine Waffe zu tragen und gegebenfalls auch einzusetzen? Welche objektiven Gefahren oder moralischen Konflikte bestehen?
Empirismus: Die Frage wird durch persönliche Erfahrungen, Beobachtungen und Sinneswahrnehmungen bewertet.
Anregung: Informieren Sie sich über die Zahlen, Daten und Fakten der Bundeswehr: Sprechen Sie mit Soldaten, nutzen Sie die Möglichkeiten der unmittelbaren persönlichen Erfahrung. Welche Rückschlüsse lässt das Datenmaterial auf die moralische Dimension Ihrer Überlegungen zu?
Idealismus: Die Frage existiert primär im Bewusstsein; wesentliche Werte und persönliche Ideale bestimmen, welche perfekte Vorstellung Sie von Ihrem Leben haben.
Anregung: Reflektieren Sie, welche Ideale für Sie zentral sind. Welche Entscheidung stimmt am besten mit Ihrem inneren Bild überein?
Konstruktivismus: Die Frage ist Teil einer sozialen Konstruktion. Ihre Bedeutung entsteht durch Kultur, Erziehung und Austausch.
Anregung: Sprechen Sie mit Familienmitgliedern, Freunden, Lehrern oder anderen jungen Menschen. Welche Vorstellungen und Normen der Gesellschaft beeinflussen Ihre Frage? Wie interpretieren Sie diese für sich selbst?
Utopismus: Die Frage wird als Prüfstein für eine weit über die aktuelle Lage hinausreichende Vorstellung einer zukünftigen Gesellschaft angesehen, für die die aktuell zu treffende Entscheidung einen Beitrag leistet.
Anregung: Überlegen Sie, wie eine Welt aussehen würde, die Sie als die beste aller Welten betrachten. Wie würde Ihre Entscheidung dieser Vision entsprechen oder ihr widersprechen?
Phänomenologie: Die Frage wird aus der unmittelbaren persönlichen Erfahrung betrachtet.
Anregung: Achten Sie auf Ihre unmittelbaren Gefühle und Gedanken, wenn Sie sich vorstellen oder – so Ihnen die Möglichkeit dafür angeboten wird – eine Waffe zu tragen. Welchen Einfluss hat das unmittelbare Erleben auf Ihren Entscheidungsprozess?
Pragmatismus: Die Frage zielt auf die praktischen Folgen Ihrer Entscheidung?
Anregung: Überlegen Sie, welche Konsequenzen Ihr Handeln konkret haben wird – für Sie selbst im Kontext Ihrer Persönlichkeitsmerkmale, Kompetenzen, Interessen usw., für andere Menschen, für die Gesellschaft und Ihre Lebenswelt.
Existenzialismus: Die Frage zielt auf den Zusammenhang von individueller Freiheit und Verantwortung.
Anregung: Prüfen Sie, welche Freiheitsgrade Ihnen zur Verfügung stehen, um Ihre Entscheidung selbst zu treffen und reflektieren Sie dann, welche Wahl authentisch für Ihr Leben ist und wofür Sie persönlich Verantwortung übernehmen wollen.
Strukturalismus: Die Frage findet ihren Platz im System von Normen und gesellschaftlichen Regeln und wird aus dieser Perspektive beantwortet.
Anregung: Analysieren Sie, welche Werte, Gesetze und sozialen Erwartungen die Bundeswehr einerseits und Ihr Lebensumfeld andererseits definieren. Welche Handlungsoptionen ergeben sich daraus systematisch?
Poststrukturalismus: Die Frage wird als dauerhaft offene Frage behandelt, da sie von flexiblen Diskursen und Machtverhältnissen beeinflusst wird.
Anregung: Hinterfragen Sie die aktuell dominanten Narrative zur Frage, warum oder warum nicht ein Dienst an der Waffe von wem als ‚richtige‘ Entscheidung angesehen wird? Welche weiteren Perspektiven und Diskurse könnten andere Antworten nahelegen?
Funktionalismus: Die Frage wird nach ihrer Funktion im sozialen System gestellt
Anregung: Überlegen Sie, welchen Auftrag Ihr möglicher Dienst an der Waffe im militärischen, gesellschaftlichen oder familiären System erfüllt. Welche dieser Funktionen sind dabei für Sie relevant?
Kritischer Rationalismus: Die Frage steht im Licht rationaler Überlegung, aber unter dem Vorbehalt, dass alle moralischen Theorien und Prinzipien fehlbar sind und stets einer kritischer Prüfung ihrer Hypothesen bedürfen.
Anregung: Formulieren Sie zuerst unterschiedliche Positionen zum Dienst an der Waffe als „Hypothesen“ (z. B. „Dienst ist vertretbar, weil…“, „Dienst ist problematisch, weil…). Prüfen Sie sie kritisch: Welche Argumente stützen oder widerlegen sie? Unter welchen Bedingungen würden Sie Ihre Entscheidung auf Grundlage neuer Informationen oder Einsichten anpassen?
Allgemein: Mit jeder Entscheidung wählt ein Mensch etwas und er wählt gleichzeitig etwas ab. Existenzielle Entscheidungen tragen im Kern immer einen Wertekonflikt in Form eines Dilemmas mit sich. Jeder Mensch hat im Leben irgendwann eine solche Bedingung, zu der er so oder so Stellung beziehen muss. Als Grundlage der Orientierung dient für eine persönliche, freie und verantwortete Stellungnahme das individuelle Wertesystem.
Gewissensfrage Waffendienst
Soll ich oder soll ich nicht? Als ich damals vor langer Zeit das Schreiben zur Musterung erhielt, stand ich ziemlich alleine da mit meiner Entscheidung. Anfang der Achtziger Jahre dachte niemand an das, was ein Jahrzehnt später Realität werden sollte: die Wiedervereinigung Deutschlands. Oder was vierzig Jahre später real werden würde: ein Krieg in Europa. Der Krieg war ein kalter und sich ein richtiges Feindbild vorzustellen, fiel nicht nur mir schwer. Trotzdem war da der Zettel der Bundeswehr, und es gab kein Social Media, keine Informationen in der Schule, ein paar Gespräche mit den Eltern, die in die Richtung gingen: Geh hin, es dauert nicht lange, dann hast du es hinter dir … Wenig inhaltsreich, aber für mich verständlich, wenn ich den Kontext in der ganzen Familiengeschichte mit in Betracht zog. Alles in allem war mir bewusst, du musst da alleine durch. Und am Ende stand auch bei mir die Frage im Raum: was wärst du bereit zu verteidigen? Die Frage von damals mit heute zu vergleichen, ist zwar schon sportlich, denn zu meiner Zeit war Krieg abstrakt, heute ist er konkret. Damals war er kein sonderlich gesellschaftliches Thema, Landesverteidigung ja, nicht aber Krieg. Heute ist er überall und damit wohl auch in jedem Kopf von Jugendlichen, die vor der Frage stehen, soll ich oder soll ich nicht? Dennoch, an dieser zentralen Frage kam auch in meiner Generation niemand vorbei. Ich entschied mich für die Verteidigung und zwar an sich ganz egoistisch. Ich entschied mich für die Verwirklichung meines zentralen Wertes, der Freiheit. Diesen Wert zu verweigern zu verteidigen, dieser Gedanke war mir gruselig. Mir musste man aus vierlei Gründen nicht sagen, dass es sich lohne, für diesen Wert zu kämpfen. Kein anderer Wert war je stärker in mir handlungsleitend. Für diesen Wert habe ich Verantwortung übernommen, und ich schätze, es hat sich nicht geändert: Für den Wert, der die individuelle Gewissensfrage beantwortet und den jeder Mensch hat, kann auch nur er die Verantwortung übernehmen. Wer diesen Wert für sich noch nicht geklärt hat, sollte in sich gehen und alle Botschaften von außen dazu abschalten, selbst die Botschaften derer, die einen lieben. Hallo Jugendliche, für mich ist es die Freiheit gewesen, und für Sie?
Eigentlich ist Leben einfach – 10
Zum Abschluss meiner Reflexionen zum Thema ‚Eigentlich ist Leben einfach‚ hier ein Coachingbeispiel:
Florian, 44, ist Vertrauenslehrer und Schulpsychologe an einer bayrischen Gesamtschule. Nach Corona hat er bei sich selbst und im Rahmen vieler Gespräche auch bei einer Reihe von Kollegen und zahlreichen Schülern bemerkt, dass Gefühle der Überforderung, Gehetztheit und innerer Orientierungslosigkeit zugenommen haben. Florian: „Diese Zeit war für mich nicht nur geprägt von einem hohen Anspruch, für unsere Schüler funktionieren zu müssen, sondern ich hatte auch sehr viel Zeit, mir über mein eigenes Leben Gedanken zu machen. Dann kam der Ukrainekrieg dazu und die erste KI-Welle, die bei einer Person in meiner Familie bereits zu einem Stellenverlust geführt hat. Wir leben in einer Umbruchszeit, in der vertraute Systeme immer weniger greifen. Frühere Erfahrungen von Sicherheit und Struktur weichen einem inneren Durcheinander und der Vergleich mit ihnen zu einem negativen Klima. Viele jammern, klammern, beschweren sich, betäuben sich und haben doch eigentlich nur Angst.“
Coach: „Wobei die Formen der Angst individuell sehr unterschiedlich sein können. Wenn Sie vom Wegfall von Sicherheiten sprechen, dann neigen manche Menschen dazu, aus lauter Angst vor der Vergänglichkeit etwas erzwingen zu wollen, das aus ihrer Sicht unumstößlich sein soll. Die damit einhergehende Starrheit wird zu einem Dauerstress, weil die Zeit, in der wir leben, dazu beiträgt, dass diese Menschen das Gefühl haben, selbst dauernd von irgendetwas umgestoßen zu werden. Wenn sich diese Angst Bahn bricht, dann erlebt man zuweilen Menschen, die Beziehungen in Machtkämpfe führen, um so eine Sicherheit zu gewinnen, die sie schnell verlieren, wenn sie auf jemanden treffen, der seine Selbstsicherheit nicht verloren hat oder der seine Angst auf andere Weise zeigt.
Ein solcher Gegenspieler ist zum Beispiel ein Mensch, der vor Ansprüchen anderer Menschen Angst hat, der sich in Einsamkeit oder Isolation begibt, weil er nicht gelernt hat, sich menschlicher Nähe zu öffnen und sich ihr positiv hinzugeben. Für solche Person werden Menschen eher zu Werkzeugen, an denen sie ihre Wut und ihren Frust ablassen können.
Eine dritte Variante zeigen Menschen, die Angst davor haben, allein gelassen zu werden. Sie haben eben beschrieben, dass in Ihrem Umfeld Personen ein klammerndes Verhalten gezeigt haben. Als Vertrauenslehrer werden Sie womöglich gerade von diesen Menschen oft beansprucht worden zu sein als Corona so viele Beziehungen brüchig werden ließ. Sich ungeborgen zu fühlen kann bis zu einer Art Abhängigkeit von anderen führen, manchmal einhergehend mit Idealisierungen dieser Menschen. Gehen diese dann auf die Klammerung nicht ein, sind Verzweiflung und Depression nicht fern.
DIe Menschen, die gerade das Anklammern fürchten, haben eine weitere, vierte Angst. Die Angst vor dem Endgültigen. Alles soll im Fluss bleiben, man lebt sein Leben und andere sollen einen darin auch bestätigen. Dass sich die Welt womöglich gerade anders dreht, wollen diese Menschen nicht wahrhaben, und so würden sie am liebsten weiterziehen und sich ihrer Wunschwelt nähern – aber bei Corona, da war allzu oft Schluss mit lustig.
Egal wie unsicher und ängstlich Menschen sind – tritt ihnen jemand gegenüber auf, der ihnen die Lösung verspricht, dann folgen viele lieber dieser äußeren Führung, als in die Eigenverantwortung zu kommen. Haben Sie solche Erfahrungen gemacht?“
Florian: „Auf jeden Fall, und viele Menschen verlieren diese Eigenverantwortung, weil ihnen früh beigebracht wurde, sich Vorschriften zu unterwerfen. Wenn einem ständig gesagt wird, was man tun soll, verliert man das Gefühl, selbst gestalten zu dürfen. Ich hatte Glück, dass in meiner Kindheit dies nicht der Fall war, trotzdem zähle ich mich eher zu der von Ihnen genannten letzten Angsthasengruppe, weil ich in der Coronazeit dieses Empfinden hatte. Und ich weiß, dass im Gehirn hemmende Muster aufgebaut werden, die Bedürfnisse wie Bewegung, Neugier oder eigenes Gestalten unterdrücken, nur um Erwartungen anderer zu entsprechen. So entstehen Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die zwar funktionieren, sich aber innerlich nicht mehr lebendig fühlen. Als ich damals auf mein Leben schaute, erschrak ich schon, weil mir bewusst wurde, auch zu einem solchen Kreis der Funktionäre zu gehören.“
„Welche Schlüsse haben Sie daraus gezogen?“
Florian: „Dass ich zu keinem dauerhaften Objekt der Erwartungen von Dritten werden will. Klar, ich werde vor Rahmenbedingungen gestellt, Stichwort Kulturministerkonferenz. Ich stehe täglich wie jeder andere Lehrer, wie jeder Mensch, auch vor einer imaginären Liste von Bedingungen, die mir andere Menschen oder Systeme vorgeschrieben haben. Das finde ich auch okay. Was nicht okay war, dass ich darüber vergessen hatte, dass ich mich immer selbst zu diesen Bedingungen einstellen kann. Mir wurde bewusst: Wenn ich mich so fühle, dass mich andere zu ihrem Objekt machen, dann mache ich mich selbst klein. Dann kränke ich mich selbst. Dann rede ich mir eine Minderwertigkeit selbst ein.“
„Ja, und wenn ein Mensch dieses Empfinden wieder loswerden will, dann hat die Psyche dafür drei Möglichkeiten parat. Entweder man erduldet den Zustand, oder man überkompensiert ihn und macht Dinge, wo andere Menschen sich wundern und sich fragen, was das soll oder ob man das wirklich nötig hat. Oder man flieht aus den Bedingungen, meist in andere. All das ist menschlich, und doch irgendwie unbefriedigend. Erdulden ist wie Selbstaufgabe, beim Überkompensieren distanzieren sich viele Menschen und übrig bleiben einem die, die auch diese psychische Strategie eingeschlagen haben – dann fährt man zum Beispiel mit seinen Minderwertigkeitsgefühlen eben mit anderen, die solche auch haben, Autorennen auf der Bundesstraße. Flucht ist auch eine Variante, und manchmal ist sie schlau, wenn es um echten Selbstschutz geht. Wenn ich aber ’nur‘ glaube, dass ich Besseres verdient habe als mich mit den gegebenen Bedingungen wirklich einmal auseinanderzusetzen, dann lehrt die Erfahrung, dass Menschen dann nur eine Art Aktiv-Passiv-Tausch machen und sich in neuen, nur anderen Bedingungen wiederfinden.
Florian: „Ja, und solche Überlegungen haben mich ja auch zu Viktor Frankl geführt. Wenn ich mich gegen meine innere Stimme wende, verliere ich den Zugang zu mir selbst, das war mir schnell klar. Und wenn ich an die Situationen zurückdenke, in denen ich dieses Gefühl hatte, dann merke ich jetzt noch, wie unglücklich ich war. Und dass ich dann auch für andere nicht das übrig hatte, was für sie wichtig gewesen wäre. Das tut mir bis heute leid. Was mir seither aber immer wieder durch den Kopf geht ist die Frage, ob die innere Stimme nicht ihrerseits wieder eine Erwartung anderer ist. Eine Stimme aus einem erlernten Hintergrund, quasi. Mein Anliegen ist also, woher weiß ich, dass diese Stimme die eigene innere ist?“
Coach: „Das ist eine wichtige Frage. Gehen wir dazu zuerst davon aus, dass Sie mit einem authentischen Selbst in die Welt kamen, niemals – sagen wir es technisch – mit einer leeren Festplatte geboren wurden. Dieses Selbst wird in den ersten zwei, drei Jahren – sagen wir es wieder technisch – neu formatiert. Meist sind es die Eltern, die ihre Kinder ‚zu sich ziehen‘ und ihnen vermitteln, wie sie zu ihnen stehen, was ihnen für ihre Kinder wichtig ist, wie wichtig die Kinder für sie sind und so weiter. Auf ihr früheres Selbst legt sich nun eine Konstruktion, nennen wir es ‚Ich‘. Im Ich finden sich nun die Muster, Rollen und Erwartungen, die die Bezugspersonen ihren Kindern einschreiben, bewusst und unbewusst. Diese Einschreibungen sind für ein Kind identitätsstiftend, schließlich kommen sie ja nicht von irgendwem, sondern von den wichtigsten Personen um das Kind herum. Zwischen Selbst und Ich entsteht nun ein mehr oder minder starker Konflikt. Und dieser Konflikt wandert weiter und wird verschärft oder entschärft, je nach dem, welche weiteren Bezugspersonen das Kind für sich erkennt, also Lehrer zum Beispiel oder Sportidole, Kirchenleute, Influencer, Freunde usw.. Von allen geht latent eine Menge an Erwartungen aus – ‚wenn Du, dann …‘, ‚damit Du, musst Du…‘ oder auch eine Menge an Erlaubnissen aus – “Du bist gut wie Du bist …‘, ‚Mach ruhig Dein Ding …‘ Werden die Erwartungen erfüllt, dann lockt eine Belohnung. Wenn nicht, dann droht Sanktion. Werden die Erlaubnisse nicht eingelöst, entsteht auch ein Dilemma, wenn der junge Mensch irgendwann zur Erkenntnis kommt, dass seine Fähigkeiten nicht ausreichen, um zu schaffen, was er wollte. In einem solchen Moment ist sicher jemand nicht weit, der dann wieder Erwartungen formuliert … – so bleibt es ein einfaches Spiel für die Bezugspersonen, ein schwieriges für ein Kind oder einen Jugendlichen, denn er steht immer wieder vor der Aufgabe: Anpassung oder eigene Stellungnahme.
Wenn ich Sie als Lehrer anspreche, dann als eine Person, die einen Beitrag dafür leisten kann, Kindern und Jugendlichen den Raum zur eigenen Stellungnahme zu vergrößern. Damit besteht die Chance, dass die jungen Menschen aus ihren Verwicklungen herauskommen und erfahren, dass es auf ihr eigenes Denken ankommt. Ein Denken, dass der eigenen inneren Stimme folgt, um über sie zu einer eigenen Stellungnahme zu kommen. Ein Lehrer wird damit für mich zu einem Denkhelfer, der junge Menschen darin unterstützt, sich damit auseinanderzusetzen, wer man eigentlich, also ursprünglich ist.
Nun zu Ihrer Frage, wie unterscheide ich Introjekte von eigenen Stimmen? In meiner Anschauung können diese Aspekte dabei helfen:
Wenn Sie ein Introjekt in sich hören, dann sagt es Ihnen zumeist, wie Sie sein sollten und nicht, wie Sie sind. Dann findet sich oft auch eine Strenge oder ein moralischer Ton wie ‚du musst…“, „du solltest…“, „Das macht man nicht…“. Die Stimme spricht dabei eher so unpersönlich oder verallgemeinernd, dass der Eindruck entsteht, sie käme eher von draußen und in einer Weise, dass dieses Draußen eine Angst mitschwingen lässt. Womöglich meint es die Stimme sogar gut mit Ihnen, aber sie verknüpft es mit einer Art Forderung: Wenn du mich nicht erhörst, dann kannst du nicht den Erwartungen genügen, also bist oder wirst du dumm, unbeliebt, unbrauchbar usw. Eine solche Stimme immer wieder innerlich zu hören, kann einen fertig machen – warum, weil es das Authentische, das Geistige der Person ja immer noch gibt. Der Versuch der Introjekte, sich Gehör zu verschaffen, läuft lebenslang, das ist auch ihr Job, denn schließlich stehen dahinter ja Menschen, die es womöglich nur gut meinten.
Ihre eigene innere Stimme ist dagegen meist kontextsensibel und flexibel. Sie ist keine Stimme, die Sie ein für allemal besitzen, sondern eine, die sich mit Ihnen in einem Prozess der Entwicklung befindet. Sie meldet sich situativ, sie ist pragmatisch, neugierig, selbstbewusst, sie ist zu Ihnen auch freundlich. Wenn Sie mit ihr „ins Gespräch gehen“, dann wird sie Ihnen nicht drohen, sondern sich eher plastisch einbringen und ihre Botschaft auch verändern, wenn sie die guten Gründe erfährt, die Ihnen am Herzen liegen. Ein guter Sensor ist dabei Ihr Körper, denn diese Stimme fühlt sich im Körper eher ruhig, weit und entlastend an. Wenn die innere Stimme wieder gelernt hat, dass sie gehört wird und sie sich mitteilen darf, dann wird sie keine Erwartungen formulieren, sondern Ihnen Hinweise geben, welche Ihrer eigenen Werte es sind, die Sie in dem, worum es Ihnen in der aktuellen Situation geht, verwirklichen können. In diesem Moment geben Sie sich selbst das Maß vor, Sie werden sich selbst maßgeblich.
Jetzt habe ich eine Frage an Sie in Ihrer Rolle als Lehrer. Wie kann Ihre innere Stimme wieder lernen, dass sie von Ihnen gehört wird? Wenn Sie also der Lehrer Ihrer eigenen inneren Stimme sein wollen, wie werden Sie dann vorgehen?
Florian: „Da würde ich das so machen wie bei einem Waldspaziergang mit einem Freund. Da ist Geduld für mich wichtig, keine unnötige Ablenkung, schon aber eine Richtung, weniger ein Ziel. Nach dem, was wir besprochen haben, ist die innere Stimme nicht zu messen. Wenn sie sich meldet als Introjekt, dann spricht sie immer nur mich an und in einer Weise, von der ich weiß, dass sie mir nicht entspricht. Bei einem Spaziergang geht es mir im Gespräch aber um meinen Freund. Ich würde meiner inneren Stimme also sagen, dass es nicht um mich geht, wenn sie sich einbringen will.“
Florians Resümee zeigt, dass er seine innere Stimme in die beiden unteren AQAL-Quadranten im Wilber-Modell lenkt. Und dies mit Werten wie Geduld, Konzentration, Zuneigung.
Coach: „Wenn Sie dieses Bild nun auf das Gespräch zwischen Ihnen und Ihrer inneren Stimme übertragen, wie wollen Sie dann vorgehen, wenn die Stimme etwas sagt, bei der es um ihre Erwartungen an Sie geht?“
Florian: „Spontan würde ich da sagen: Danke für die Information, aber um mich geht es hier und jetzt nicht. Wenn ich das höre, gehts mir gleich besser, erstaunlich.“
In meiner, aus der Praxis entstandenen phänomenologischen Sinnfindungsforschung zeigt sich, dass geistig-spirituelle Praktiken, die Zugänge zur Transzendenz eröffnen, häufig mit höherem Wohlbefinden und geringeren Stresswerten einhergehen. Das Beispiel aus der Arbeit mit Florian reiht sich hier aus meiner Sicht gut ein. Frankls Logotherapie liefert hierfür die anthropologische Basis: Selbsttranszendenz, also die Fähigkeit, sich über das eigene Ego hinaus in Liebe oder Hingabe auf Aufgaben und andere Menschen zu beziehen, ist nicht nur ein existenzielles Postulat, sondern eine empirisch nachweisbare Ressource für eine psychische Gesundheit.
Wilbers Modell bietet zudem die theoretische Möglichkeit, diese transzendente Dimension in ein systematisches Entwicklungsmodell einzubetten. Dabei wird deutlich, dass psychisches Wohlbefinden kein eindimensionaler Zustand ist, sondern aus einer Vielzahl von Faktoren zusammengesetzt wird, die sowohl intrapsychisch als auch interpersonell, kulturell und systemisch verankert sind. Genau an diesem Punkt setzt die Idee einer Integralen Logotherapie an: Sie verbindet Frankls anthropologische Grundthese vom Willen zum Sinn mit Wilbers integraler Landkarte, um die unterschiedlichen Zugänge der Selbstfindung (obere Quadranten) und Sinnfindung (untere Quadranten) nicht nur zu erkennen, sondern praktisch nutzbar zu machen.
Beide Theorien mit einem Brückenschlag zu verbinden, soll dem Prinzip des Ockhamschen Messers folgen. „Seiendes soll nicht über das Notwendige hinaus vermehrt werden“, so der englische Philosoph Wilhelm von Ockham. Sofern die hier skizzierte Idee einer Integralen Logotherapie an anderer Stelle weitergeführt werden sollte, dann wäre darauf zu achten, keine Überfrachtung des vernetzten Theoriegebäudes zuzulassen, sondern sich auf das Wesentliche zu beschränken, das Frankls Gedankengut nützlich erweitert. Wilbers AQAL-Modell kann meines Erachtens diesen Nutzen stiften, es war meine Absicht, einige Ideen dazu in den vergangenen Beiträgen einzubringen.
Eine Therapie oder ein Coaching, das logotherapeutische und integrale Perspektiven verbindet, fördert das psychische Wohlergehen, indem sie nicht nur bei individueller Zielerreichung unterstützen, sondern zuvorderst ihren zentralen Ausgangspunkt im Kontext der Sinnorientierung der Person setzt. Für diese Perspektive ist die Sinnlehre Frankls das Fundament, und Wilbers integrale Ausrichtung bietet eine spannende Möglichkeit für jeden Menschen, kontextuell sich seiner leitenden Werte im Spiegel seiner biografischen Entwicklung, seines Typus und seiner Bedürfnisse für ein gelingendes Leben bewusst zu werden.
Eigentlich ist Leben einfach – 9
Wenn wir nun aus integral-logotherapeutischer Sicht auf eine Person schauen, die in einem spezifischen Kontext mit einem verhaltens- und handlungsleitenden vMeme versucht, eben mit diesem Kontext umzugehen, dann will ich dazu diese Thesen formulieren:
- In allen Situationen findet die Person ausschließlich Sinnimpulse aus den beiden unteren Quadranten des AQAL-Modells:
2. Verhaltens- und Handlungsweisen, die die beiden oberen Quadranten adressieren, dienen der zweckdienlichen Verbesserung des eigenen, individuellen Zustandes (hier macht sich der Mensch Sinn). Kann eine Person ein persönliches Leid mindern, indem sie innere oder äußere Ressourcen nutzt, um ihren Zustand zu verbessern, so soll sie dies natürlich tun (ein klassisches Beispiel: Wenn in einem Flugzeug die Sauerstoffmasken von der Decke fallen, dann ist die Person angehalten, zuerst die eigene anzulegen, um sich anschließend um Mitreisende zu kümmern, die dies für sich nicht tun können). Jedoch ist darauf zu achten, dass gemachter Sinn nicht gleichzusetzen ist, mit dem auf Transzendenz beruhenden Sinn, den ein Mensch in seiner Lebenswelt findet.
Beige – vMeme Überleben
- Wilber: Das vMeme Beige ist instinktgetrieben und dient im Krisenkontext dem Überleben.
- Frankl: Logotherapeutische Interventionen verweisen auf die geistige Freiheit und Verantwortung der Person, trotz einer womöglich extremen Belastung durch zum Beispiel Krankheit oder eine andere existenzielle Notlage, Stellung zu beziehen. „Für wen oder was gilt es auch in dieser Situation, sich in Liebe oder Hingabe auszurichten?“
- Im vMeme Beige bringt die Logotherapie weniger als Therapie im klassischen Sinn, sondern eher als Grundhaltung im Menschenbild zum Ausdruck, dass selbst im Überlebensmodus das Geistige der Person in der Lage ist, sich über die belasteten psychophysischen Zustände zu erheben.
Exkurs: Was soll hier unter ‚Liebe‘ verstanden werden?
• Die Person nutzt das ursprüngliche (ihr eigentliches!) Potenzial ihrer Liebesfähigkeit.
• Trotz ihrer Belastungssituation, die in ihr psychisch Trauer, Angst oder Wut bereitet, distanziert die Person sich von diesen Emotionen und zeigt ein Verhalten, das auf das Wohlergehen einer anderen Person gerichtet ist.
• Die Wirkung dieser Selbsttranszendenz ist zumeist ‚trotz allem‘ auch ein gutes eigenes Körpergefühl, da sie (Frankl: Trotzdem Ja zum Leben sagen) mit ihrem Verhalten Ja zum eigenen Dasein sagt.
Purpur – vMeme Gemeinschaft, Rituale …
- Mit integral-logotherapeutischen Interventionen wird die Person gefragt, ob und welchen Sinnimpuls sie aus einem der beiden unteren AQAL-Quadranten empfängt und welche Werte es sind, die sie im Kontext von Zugehörigkeit, Verbundenheit oder Ritualen verwirklichen kann.
Rot – vMeme Macht, Durchsetzung …
Blau – vMeme Ordnung, Pflicht …
Orange – vMeme Leistung, Rationalität …
Grün – vMeme Gemeinwohl, Pluralität …
- Analog wird auch hier mit integral-logotherapeutischen Interventionen die Person gefragt, ob und welchen Sinnimpuls sie aus einem der beiden unteren AQAL-Quadranten empfängt und welche Werte es sind, die sie im Kontext des entsprechenden vMeme verwirklichen kann.
Gelb – vMeme Synergie, Integration, systemische Verantwortung …
Türkis – vMeme Ganzheit,Spiritualität, kosmische Verantwortung …
- Da ab vMeme Gelb die Person die Werte aller auf sie selbst bezogenen Werte (Beige-Grün) integriert hat und eine systemisch-holistische Perspektive einnehmen kann, ist ihr der Sinnbezug im Kontext der beiden unteren AQAL-Quadranten bereits bewusst. Integral-logotherapeutische Interventionen dienen hier daher eher dazu, die Person zu ermutigen, ihre Situation nicht nur im Rahmen einer intellektuell-komplexen Analyse zu beleuchten, sondern ihre Werte des vMeme Gelb oder Türkis mit ihrer Situation in Beziehung zu setzen und zu verwirklichen.
Eigentlich ist Leben einfach – 8
Die existenzielle Person ist wesenhaft Einheit und Ganzheit, sagt Frankl, und das heißt, „daß sie wesentlich weder teilbar ist noch summierbar. Auch dort, wo wir Leibliches – Seelisches – Geistiges unterscheiden, tun wir das niemals so, als ob der Mensch aus ihnen wie aus Teilen ‚zusammengesetzt‘ wäre; denn der Mensch ist kein additives, sondern ein integrales Wesen.“
In seinem Werk Integral Psychology verortet Wilber die existenzielle Therapie – zu der die Logotherapie gezählt werden kann – im Übergang von personalen zu transpersonalen Entwicklungsstufen, im Graves-Kontext also im Übergang vom grünen zum gelben Meme.
Warum dort? Frankl versteht seine Logotherapie nicht als „bessere“ Therapie, sondern die Erkenntnisse anderer Schulen zuerst integrierend, die Erkenntnisse dieser Schulen dann differenzierend und letztlich transzendierend hin zu seinem Verständnis eines auf Sinn ausgerichteten Menschenbildes. Diese Schrittfolge von integrieren – differenzieren – transzendieren spiegelt wider, was wir bei Wilber im Kontext der Bewusstseinsentwicklung nachlesen können.
Das grüne Meme legt den Schwerpunkt auf Empathie, Gemeinwohl und Gleichwertigkeit (zur Erinnerung: Grün hat alle Meme ab Beige in sich integriert. Es trat nach der Transzendenz des vMeme Orange hervor, bei dem die dysfunktionalen Aspekte des auf Leistung, Erfolg und Selbstoptimierung ausgerichtete Wertesystems erkannt wurden und es sinnvoll wurde, diese Dysfunktionalität durch eine Entwicklung hin zum vMeme Grün zu mindern). Ab Gelb wird der Sprung in eine integrale Bewusstheit vollzogen, bei der Werte kontextsensibel dem Verhalten zugrunde liegen, es also nicht mehr um Abwertung oder Aufwertung einzelner Wertmaßstäbe geht, sondern alle Werte in einem vernetzten, systemischen und immer mehr holistischem Rahmen gesamt- und ganzheitlich die Grundlage für Verhaltens- und Handlungsweisen bilden.
Ab vMeme Gelb spielt logischerweise ein Begriff keine Bedeutung mehr: Reduktionismus. An seine Stelle tritt der Holismus und mit ihm die Position, dass ein System als Ganzes und nicht nur als die bloße Zusammensetzung seiner Einzelteile betrachtet werden muss. Das Hauptargument des Holismus ist, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, da die Interaktionen und Beziehungen zwischen den Teilen neue Eigenschaften hervorbringen, die in den isolierten Teilen selbst nicht vorhanden sind. Frankls Existenzanalyse betrachtet gerade diese Emergenzen, wenn sie auf die rein humane Fähigkeit zur Selbsttranszendenz abhebt, mit der jeder Mensch zu jeder Zeit in seiner individuellen Freiheit und Verantwortung und unabhängig seines psychophysischen Zustandes Stellung beziehen kann auf jemanden oder etwas, was er nicht selbst ist.
Aus diesen Überlegungen heraus ergeben sich für mich diese Thesen und eine Vision:
-
- Die/derjenige, die/der logotherapeutisch mit Menschen arbeitet, muss im Kontext seiner beruflichen Tätigkeit das vMeme Gelb entwickelt haben.
- Wer das vMeme Gelb entwickelt hat und sich in einer existenziellen Belastungssituation befindet, wird durch Interventionen psychotherapeutischer Schulen, die ihren Fokus auf die Bewusstheitsebenen bis vMeme Grün legen, kaum mehr erreicht werden können.
- Wer in vielen seiner Lebensbereiche auf dem vMeme Gelb heraus wahrnimmt und sich verhält, wird öfter das Gefühl einer Art existenziellen Langeweile empfinden, da die Anzahl der Menschen, die das vMeme Gelb entwickelt haben, vielerorts noch begrenzt ist.
- Wer das vMeme Gelb entwickelt hat, wird das Menschenbild Frankls, das bei seiner Transformation auf den Kontext der Stärkung seelischer Gesundheit eines Menschen sowohl auf Sinnfindung, als auch auf Humor als auch auf Mitgefühl setzt, als eine Form von Weisheit ansehen.
- Eine Vision: Wer das vMeme Gelb entwickelt hat, wird die Logotherapie und Existenzanalyse in Ergänzung mit dem Blick von Ken Wilbers Integraler Theorie als mehr als eine ohnehin schon ganzheitlichere Therapieform ansehen. Aus dieser Bewusstheit heraus wird sie – die Integrale Logotherapie – als eine multifunktionale psychologische Unterstützung gesehen werden, sowohl als integraler Entwicklungshelfer für den einzelnen Menschen insbesondere im Kontext von Krise und Krisenprävention als auch als ein spannender Ausgangspunkt für eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung, die differenzierend würdigt, was die Menschheit bislang bereits zum Erhalt des Lebens geschaffen und vollzogen hat, um diesen Status Quo als Sprungbrett für eine weitere Transzendierung hin zu einer holistischen Weltgemeinschaft zu nutzen. Einer Weltgemeinschaft, in der das Geistige des Menschen im Kosmos den zentralen Beitrag dafür leistet, all das Unsinnige zu tilgen, das zu beobachten ist, wenn wir auf die Akteure schauen, die die dysfunktionalen Aspekte ihrer vMeme von Beige bis Grün dafür einsetzen, in ihren Handlungen mehrheitlich sich selbst als die Welt in den Blick zu nehmen.
Eigentlich ist Leben einfach – 7
Gegen das Abwertungsspiel der Psyche hilft letztlich nur die Aufwertung durch das Geistige. Der Mensch findet Sinn nur, indem er sich selbst transzendiert – sich auf etwas richtet, das größer ist als er selbst. So endete mein letzter Beitrag. Schauen wir dazu für ein Beispiel ins Leben desjenigen, dessen Menschenbild in der KrisenPraxis im Vordergrund steht: Viktor Frankl.
Gehen wir dazu hundert Jahre zurück und sehen einen jungen Mann, der sich für Psychotherapie begeistert, bereits einige Male mit Sigmund Freud korrespondierte und sich nun entschließt, zu lernen, was eines Psychoanalytikers Handwerkszeug ist. Dass sich daraus einer der zentralen Sinnimpulse für das Leben Viktor Frankls ergeben würde, konnte er nicht ahnen.
Frankl hatte sich also für eine Lehranalyse interessiert, worauf ihn Freud an einen seiner ersten Schüler, den Psychoanalytiker Paul Federn verwies. Zum vereinbarten Termin erschien Frankl, er wurde ins Arbeitszimmer geführt und sah Federn konzentriert an seinem Schreibtisch sitzen und schreiben. Ohne ihm nur einen Blick zu schenken, setzte Federn seine Tätigkeit schweigend fort. Nach gefühlt endloser Zeit deutete er wortlos auf einen Stuhl und stellte Frankl dabei eine diesen völlig überraschende Frage: „Nun, Herr Frankl, was ist Ihre Neurose?“
Frankl fühlte sich von dieser ‚Begrüßung‘ derart überrollt, dass er nur ein paar Sätze über seinen Analcharakter (ein Freudscher Begriff über eine bestimmte Persönlichkeitsakzentuierung) stammelte und dem dann einige Anmerkungen zur Psychopathologie folgen ließ. Nach seinen Ausführungen empfahl Federn ihm, zunächst sein Medizinstudium zu beenden und zu einem späteren Zeitpunkt wiederzukommen.
(Sinnimpuls): Für Frankl war dieses Treffen mit großem Unbehagen vorbeigegangen. Einfach stehengelassen zu werden, wortlose Gesten, die Direktheit der Frage nach einer Neurose, kein persönliches Wort, kein Interesse an seiner Person – dafür die Klarheit, dass sein Verhalten nichts anderes sein könne als Ausdruck einer Neurose und diese daher im Mittelpunkt stehen müsse: das war die Begegnung Frankls mit dem, was er danach immer wieder kritisierte: Der Reduktionismus in der Psychotherapie.
In meinen Worten: Hier traf ein junger Mann auf einen gut dreißig Jahre älteren, von Freud autorisierten Fachmann der Psychoanalyse. Federn wird 1871 in Wien in eine wohlhabende jüdisch-bürgerliche Familie geboren, sein Vater Salomon Federn ist praktischer Arzt. Paul Federn lässt sich nach seinem Medizinstudium zum Internisten ausbilden und eröffnet 1902 eine eigene Praxis in Wien.1903 lernt er Freud kennen und wird eine Zeit später Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Mit der Psychoanalyse und der hinter ihr liegenden Triebtheorie gehen einige methodische Merkmale einher, wie beispielsweise eine Vereinfachung komplexer Phänomene, bei der im Sinne eines ‚der Mensch ist nichts anderes als …‘ alles auf wenige, meist biologische, psychologische oder physikalische Faktoren zurückgeführt wird. Subjektive, existenzielle oder soziale Aspekte werden ausgeblendet oder ignoriert, komplexe Ursachenketten werden auf einen dominanten Faktor reduziert. Die Folge dieser Methodik ist eine Pathologisierungstendenz, durch das Verhalten primär durch Störungen oder Defizite interpretiert wird.
Nun ließe sich fragen, wie die Persönlichkeitsarchitektur einer Person aussehen könnte, die Gefallen daran findet, eine reduktionistische Methode in der Arbeit mit Menschen anzuwenden. Lösen wir uns dabei von der Person Paul Federn und stellen verallgemeinernd Hypothesen auf, dann könnten wir annehmen, dass eine Person, die ihr Denken und Handeln deutlich am Reduktionismus ausrichtet, dies entlang dieser Werte und Prioritäten tut:
- Sie legt hohen Wert auf logische Nachvollziehbarkeit, Eindeutigkeit und Struktur. Ambivalenz oder mehrdeutige Phänomene empfindet sie eher als störend.
- Was verstanden, gemessen oder in Einzelteile zerlegt werden kann, wirkt kontrollierbarer. Daher könnte diese Person Kontrolle über ihr Umfeld und sich selbst besonders schätzen.
- Sie neigt dazu, empirisch Messbares gegenüber subjektiven Erfahrungen zu bevorzugen.
- Entscheidungen bewertet die Person entlang praktischen Nutzens vorhersehbarer Wirkungen oder maximaler Effizienz – nicht primär nach persönlicher Bedeutung.
- Ganzheitliche oder existenzielle Perspektiven erscheinen ihr oft zu vage oder nicht verlässlich genug.
- Beziehungen oder persönliche Begegnungen könnten bei einer solchen Person weniger als Wert an sich gesehen werden, sondern eher als Kontexte, die bestimmten funktionalen Regeln folgen.
- Das Gefühl moralischer Verantwortung oder ein Gewissensbezug könnten weniger zentral sein, weil die Person menschliches Verhalten eher als determiniert betrachtet.
Verhaltens- und handlungsleitende Werte dieser Person könnten sein:
Vernunft, Kontrolle, Effizienz, Strenge, Rationalität, Genauigkeit …
Angenommen, Viktor Frankl steht nun einer solchen Werte-Person gegenüber und erkennt für sich, dass, wenn Psychotherapie aus methodischen Gründen die Ebene der zwischenmenschlichen Begegnung verlassen müsse und die Pathologie wichtiger werde als die Person und wenn angenommen werde, dass diese Pathologie den Menschen vollständig bestimme, es ihm dann unmöglich würde, eine solche Richtung der Psychotherapie einschlagen zu können. Wie er selbst schreibt, ließ ihm der Moment der persönlichen Konfrontation mit Reduktionismus und Pathologismus es „wie Schuppen von den Augen“, dass die Psychoanalyse nicht sein Weg sein würde.
Ziehen wir dazu nun das vMeme-Modell von Graves heran, so mutet das Vorgehen von Paul Federn – im Kontext der Operationalisierung des von ihm so gelernten und verantworteten Theoriegebäudes – so an, dass hier ein Handeln aus dem vMeme Rot/Blau vollzogen wurde.
Weiter gedacht kann der massive Konflikt, den Frankl in diesem Vorgehen für sich selbst fühlte und zu einer existenziellen Entscheidung führte, so gedeutet werden, dass er sein Handeln als Arzt und Psychotherapeut auf der Grundlage anderer vMeme-Ebene als sinnvoller ansah. Welche Ebenen dies waren? Zu meiner Einschätzung ziehe ich das formulierte Menschenbild der Sinntheorie Frankls heran und seine Conclusio, dass der Mensch als geistiges, freies und verantwortliches Wesen Sinn findet in der Transzendenz (dieser Kontext wurde hier in der KrisenPraxis in zahlreichen Beiträgen thematisiert und aufgefächert). Zusammengeführt formuliert Frankl hieraus sein Credo: „Die geistige Person befindet sich wesentlich jenseits aller psychophysischen Morbidität und Mortalität; wäre dem nicht so, so möchte ich nicht Psychiater sein: es wäre sinnlos. Und die geistige Person ist wesentlich dasjenige, was sich aller psychophysischen Morbidität entgegenzustemmen vermag, und wäre dem nicht so, so könnte ich nicht Psychiater sein: es wäre nutzlos.“ (aus Viktor E. Frankl, Der leidende Mensch)
Mir erscheint hier eine Stellungnahme aus dem Spektrum der vMeme orange/grün/gelb vorzuliegen, eine Bewusstheit, die den Gedanken erst ermöglicht, dass der Mensch sich selbst findet, indem er sich selbst überschreitet, sich zum Wohl einer Aufgabe, der er sich hingibt oder eines Menschen, den er liebt, sich selbst zu vergessen in der Lage ist.
Gehen wir noch einen Schritt weiter und schlagen wir eine Brücke von Frankls Menschenbild und Sinntheorie zur Integralen Theorie von Ken Wilber. Für Frankl wird die geistige Dimension der Person, die den Willen zum Sinn freisetzt, nicht gezeugt oder erzeugt – sie ist vielmehr unbedingt:„Wohl ist geistiges Sein individuiertes Sein, die Existenz eine personale; doch ist die existenzielle Person wesenhaft Einheit und Ganzheit, und das heißt, daß sie wesentlich weder teilbar ist noch summierbar. Auch dort, wo wir Leibliches – Seelisches – Geistiges unterscheiden, tun wir das niemals so, als ob der Mensch aus ihnen wie aus Teilen ‚zusammengesetzt‘ wäre; denn der Mensch ist kein additives, sondern ein integrales Wesen.“ (Frankl, 1949: Der unbedingte Mensch, S. 66)
Ken Wilber hat ein bemerkenswertes Werk geschaffen. Während andere Denker sich über Jahrzehnte hinweg auf ein einziges Gebiet konzentrieren, hat er das gesamte Spektrum menschlichen Wissens zu erfassen versucht. Er hat eine Philosophie des Bewusstseins entworfen, die Biologie, Psychologie, Religion, Mystik, Philosophie und Sozialwissenschaften integriert. Ein kühnes Unterfangen, das ihn womöglich im Kontext der Psychotherapie auszeichnen könnte, das Werk von Frankl auf eine neue, integrale Ebene zu heben.
In seinem Werk „Integrale Psychologie“ legt Wilber ein Modell vor, das die Erkenntnisse aller psychologischen Schulen – von Ost bis West, von den frühen Traditionen bis zur modernen Forschung – in einer umfassenden Synthese zusammenführt. Dieses Werk bietet nicht nur eine in ihrer Klarheit und Prägnanz einzigartige Bestandsaufnahme der bisherigen Seelenkunde, sondern öffnet zugleich den Blick über den Status quo hinaus. Es skizziert die Umrisse einer Psychologie, die nicht allein auf Heilung und Korrektur zielt, sondern den Menschen befähigt, seine psychische
Gesundheit aktiv zu fördern und verborgene seelische Potenziale zu entfalten.
In dem von ihm als AQAL (All Quadrants/All Levels) vorgestellten Modell beschreibt Wilber die Komplexität menschlicher Entwicklung entlang von vier grundlegenden Perspektiven (siehe Abbildung):
- D
er obere linke Quadrant repräsentiert das subjektive Erleben, die Werte, Einstellungen und Haltungen einer Person – quasi das Innenleben einer Person. - Der obere rechte Quadrant repräsentiert messbare, beobachtbare Phänomene wie den physischen Körper des Klienten, sein Verhalten und biologische Prozesse. Betrachtet zum Beispiel ein Coachingklient diese Außenwirkungen quasi durch ein Mikroskop, fragen wir: Gibt es etwas, das Sie in diesem Quadranten dazu aufruft, von Ihnen verbessert zu werden? Als Antworten des Klienten sind hier beispielsweise zu erwarten: der Wunsch nach einem verbesserten Fitnesszustand, einer Kräftigung innerer Balance oder einem Aufbau neuer Fähigkeiten und Kompetenzen.
- Der untere linke Quadrant adressiert die mit anderen geteilte Kultur, gemeinsame Werte, Beziehungen und intersubjektive Unterschiede. Betrachtet der Klient diese Außenwirkungen quasi durch ein Beziehungsnetz, fragen wir auch hier: Gibt es etwas, das Sie in diesem Quadranten dazu aufruft, von Ihnen verwirklicht zu werden? Und wenn ja, wofür und für wen wäre es gut?
- Schließlich finden sich im Quadranten unten rechts die objektiven, systemischen und strukturellen Aspekte von Gruppen, Organisationen
und Gesellschaften – dabei insbesondere die, denen sich der Klient zugehörig fühlt oder fühlen möchte. Betrachtet der Klient diese Außenwirkungen quasi wie ineinandergreifende Zahnräder, wird er erneut gefragt: Gibt es etwas, das Sie in diesem Quadranten dazu aufruft, von Ihnen verwirklicht zu werden? Und wenn ja, wofür und für wen wäre es gut?
Für unseren Kontext hier ist das Modell besonders interessant, weil es zeigt, aus welchen Quadranten Sinnimpulse auf eine Person zukommen können. Frankl betont in seiner Theorie, dass der Mensch Sinn immer nur in konkreten Situationen an konkreten Gegenständen verwirklicht, sei es zum Beispiel in der Hingabe für eine Aufgabe oder in der Liebe für einen anderen Menschen – wobei sich der Mensch bei dieser Sinnverwirklichung selbst vergisst. Aus der Selbstvergessenheit als Basis der Selbsttranszendenz, lässt sich Sinn folglich im AQAL-Modell nur in den beiden Quadranten „Kultur/Kommunikation“ und „Struktur/Prozesse“ finden. Das Erlebnis, das Frankl im Kontext seines Kontaktes zu Paul Federn schilderte und zu seiner Ablehnung allen Reduktionismus in der Psychotherapie führte, lässt sich gut mit dem Quadranten der Strukturen und Prozesse – unten rechts – in Verbindung bringen. Frankl nahm wohl von hier ausgehend seinen Sinnimpuls entgegen als eine Frage, die sein Leben ihm stellte und die von ihm seine persönliche Stellungnahme abforderte – und letztlich über sein Ziel, eine non-reduktionistische Therapieform zu entwickeln bis hin zu jeder einzelnen auf dieses Ziel hin abgestimmten Maßnahme zu dem führte, was viele Menschen zu schätzen wissen, die eine originäre Logotherapie oder ein auf dem Gedankengut Frankls ruhenden Coaching in Anspruch nehmen.
Eigentlich ist Leben einfach – 6
Eigentlich ist Leben einfach. Das ist meine These. Und ‚eigentlich‘ meint hier ‚ursprünglich und wirklich‘ und nicht das relativierende Füllwort, das ein Mensch nutzt, wenn ihm zu einer echten Stellungnahme noch etwas zu fehlen scheint (eigentlich würde ich, wäre ich, könnte ich, aber …)
‚Eigentlich‘ – in ein ganzes Menschenbild gegossen finden wir es in den Zehn Thesen zur Person, die Viktor Frankl als Basis seiner Sinntheorie formuliert hat. Ich habe diese Thesen in meinem Buch ‚Coaching des Todes‚ zu erweitern versucht, wenn es um den Kontext ‚Leben nach Tod‘ geht.
In ‚Eigentlich‘ steckt auch Arbeit: Wesensarbeit. Worum ging und geht es mir, wenn ich auf mein Leben blicke? Wofür stehe ich wirklich ein, wofür nicht? Worin besteht meine Entwicklung vom Ursprung bis Heute und worin soll sie bestehen bis zu meinem Lebensende und darüber hinaus? Wozu ist es gut, dass es mich jetzt gibt – auch, wenn ich vielleicht früher diese Frage nicht so recht beantworten konnte, weil geschah, was geschah? Verantwortungsvolle Antworten auf diese existentiellen Fragen finden sich durch einen genauen Blick in die Geschichte der eigenen Werte, der Antworten auf Lebensfragen, den bisherigen Momenten der Sinnfindung und dem Gefühl, das sich einstellt, wenn es um die weitere Entwicklung im Leben geht.
Zahlreiche feine Methoden unterstützen heute Menschen darin, dem ‚Eigentlichen‘ zu stimmigen Begriffen und Formulierungen zu verhelfen. Eine dieser Methoden kann in der Anwendung des vMeme Modells von Clare Graves liegen. Ich rege dazu insbesondere dann an, wenn ein Mensch mir berichtet, dass das ‚worum es ihm geht‘ auf Hindernisse, Widerstände oder Angriffe in seinem Umfeld stößt – wenn es naheliegt, von einem Wertekonflikt zwischen der Person und Dritten auszugehen. Gelingt es, das im Konflikt stehende Thema mit der Bewusstheitsebene der Person und – als Hypothese formuliert – auch die Bewusstheitsebene der/des Dritten zu koppeln, dann kann die Person zu hilfreichen Einsichten kommen, die es ihr ermöglichen, Wege zu finden, die eine weitere Eskalation der Situation vermeiden.
Dazu einige Mini-Vignetten aus meiner Arbeitspraxis, die darauf verweisen, dass
- aktuell aktive Bewusstsheitsebenen (vMeme-Ebenen) dazu neigen, situativ auf sie einwirkende, höhere vMeme anderer Personen als (massive zusätzliche) Belastung zu fühlen
- höhere vMeme-Ebenen situativ niedrigere als ‚unpassend, störend, langweilig, altmodisch …‘ abzuwerten
- eine vMeme-Ebene einer Person eine andere Person, die diese Ebene ebenfalls aktiviert hat, tendenziell als gleichwertig empathisch zu bewerten
- situativ weit auseinander liegende vMeme sich schwertun, zu einem gemeinsamen Verständnis von etwas zu kommen …
Schichtleiter Logistik (situativ im vMeme Beige im absoluten Krisenmodus, nachdem ihm für die Erfüllung eines extrem wichtigen Auftrags zentrale Ressourcen ausgefallen sind) bekommt vom Betriebsrat eine (vMeme Purpur) Einladung zum Jahresritual „Feier der Gemeinschaft“.
Reaktion des Schichtleiters: „Ihr kapiert gar nichts und kommt mir mit dieser Zeitverschwendung, ich brauche Leute hier am Band.“
Gegenreaktion: Betriebsrat fühlt sich entwürdigt; die Solidarität mit dem Schichtleiter sinkt.
Prozessmanager in einem Rechenzentrum wird mit einem Hacker-Angriff konfrontiert, der ihn unvermittelt in den Krisenmodus vMeme Beige führt. Seine eingeleiteten Interventionen werden kritisiert, da er mit ihnen erforderliche Freigabe-Prozesse ignoriert.
Reaktion des Managers: „Formulare sind Luxus.“
Gegenreaktion aus dem Bereich Prozess-Compliance: „Auch in Notfällen muss man sich an die Regeln halten.“
Familienbetrieb. Senior mit vMeme Purpur im Kontext ‚Gestaltung von Handelswegen‘ besteht auf Lieferanten aus seiner Region. Junior mit vMeme orange will günstigere und innovativere Partner.
Reaktion des Seniors: „Solange ich hier was zu sagen habe, bleibt es bei meiner Lieferantentreue.“
Gegenreaktion: „Unsere Wettbewerbsfähigkeit steht auf dem Spiel, da können wir uns deine Traditionen nicht länger leisten.“
Vertriebschef im Jahresendspurt zu seiner Zielerfüllung bricht Preisleitplanken. Er agiert im vMeme Rot.
Reaktion Vertriebscontrolling mit vMeme Blau: „Sie unterminieren aus Eigennutz mit Kunden getroffene Vereinbarungen und riskieren Vertragsstrafen und Reputationsschäden.“
Gegenreaktion: „Ich verantworte meine Zahlen und die werde ich erreichen, auch wenn das mit Kollateralschäden verbunden sein sollte.“
Gegengegenreaktion: Vertriebschef erhält Vertragsauflösung ‚aufgrund unterschiedlicher Auffassungen über die Geschäftsentwicklung‘.
Leiter HR will einen partizipativen Kulturprozess anstoßen (situativ im vMeme Grün)
Reaktion: CFO (in diesem im vMeme Blau) stoppt Budgetfreigabe mit der Begründung, die Maßnahme werfe keinen ROI ab und riskiere als Wohlfühl-Esoterik bereits etablierte Prozesse und Führungsstrukturen.
Gegenreaktion: HR wird vom Bewerbermarkt auf die Führungskultur befragt und erfährt reihenweise Absagen, da die Bewerber entlang des Zeitgeistes einen anderen Kulturstil erwarten.
Business Unit Leiter (situativ im vMeme Orange) kippt mit seiner Meinung „systemisch fragwürdig und die Leistungserbringung hindernd“ den im Unternehmen kommunizierten strategischen Ansatz einer KPI-Kaskadierung, bei dem übergeordnete Unternehmensziele in spezifische, messbare KPIs für verschiedene Abteilungen und Teams heruntergebrochen werden.
Gegenreaktion des Vorstandes (vMeme Gelb): „Das Unternehmen braucht die Orientierung über bereichsübergreifende System-Indikatoren, ansonsten verlieren wir unsere Fähigkeit zur Analyse unserer vernetzten Systeme. Ich erwarte von Ihnen und Ihrer Unit, dass Sie diese Perspektive einnehmen, damit wir damit unsere Gesamtsteuerung erhalten.“
Die Liste ließe sich endlos erweitern. Hier knapp formulierte Abwertungshaltungen:
beige wertet ab …
- Purpur: „Aberglaube und Rituale – ich brauche Essen, kein Gerede.“
- Rot: „Prahlerei hilft mir nicht beim Überleben.“
- Blau: „Formulare? Ich friere.“
- Orange: „Strategie? Ich muss heute durchkommen.“
- Grün: „Gefühle? Ich brauche Decken.“
- Gelb: „Dein Meta-Gerede ist Luxus.“
- Türkis: „Kosmos? Ich suche Trinkwasser.“
purpur wertet ab …
- Beige: „Einzelkämpfer sind unsicher – ohne Clan geht’s nicht.“
- Rot: „Respektlos, bricht Tabus, gefährdet den Stamm.“
- Blau: „Kaltes Regelwerk zerstört alle Tradition.“
- Orange: „Gier frisst Seele, verrät die Ahnen.“
- Grün: „Du relativierst heilige Geschichten.“
- Gelb: „Du zerlegst unsere Geschichte in kalte Theorien.“
- Türkis: „Viel zu abgehoben – wir brauchen irdische Rituale.“
rot wertet ab …
- Beige: „Du bist zu schwach.“
- Purpur: „Naives Clan-Kuscheln.“
- Blau: „Nervige Bürokraten und Angsthasen.“
- Orange: „Schlaumeier ohne Mut.“
- Grün: „Softies, Opfergehabe.“
- Gelb: „Labert klug, handelt nicht.“
- Türkis: „Esoterik – weltfremd.“
blau wertet ab …
- Beige: „Unzivilisiert.“
- Purpur: „Aberglaube.“
- Rot: „Unreifer Anarcho.“
- Orange: „Zynischer Opportunist.“
- Grün: „Verweichlicht, entscheidungsschwach.“
- Gelb: „Relativist, macht Regeln wie sie ihm passen.“
- Türkis: „Mystik ohne Bodenhaftung.“
orange wertet ab …
- Beige: „Looser. Was du tust, ist nicht skalierbar.“
- Purpur: „Klüngel, ineffizient.“
- Rot: „Risikofaktor, Reputationsschaden.“
- Blau: „Innovationskiller.“
- Grün: „Feel-Good statt Outcome.“
- Gelb: „PowerPoint-Philosoph.“
- Türkis: „Visionsnebel ohne Ahnung von Business-Cases.“
grün wertet ab …
- Beige: „Die Wohl der Gesellschaft irgendwie ausbeutend.“
- Purpur: „Cliquendenken und Ausgrenzug Andersdenkender.“
- Rot: „Toxische Männlichkeit.“
- Blau: „Strukturen sind für euch ein Fetisch.“
- Orange: „Profit über Menschen.“
- Gelb: „Elitär-intellektuell.“
- Türkis: „Wolkig-spirituell, entzieht sich konkreter Verantwortung.“
gelb wertet ab …
- Beige–Grün: „Ihr seid gefangen in euren jeweiligen Einseitigkeiten.“
- Türkis: „Zu unbestimmt und zu poetisch für Umsetzung.“
türkis wertet ab …
- Beige–Grün: „Ihr seid gefangen in euren jeweiligen Einseitigkeiten.“
- Gelb: „Zu kopfgesteuert und planetar blind.“
Allgemein: vMeme entstehen, weil Menschen in unterschiedlichen Lebenslagen funktionierende Antworten auf wiederkehrende Probleme finden müssen: wie kann ich überleben, wie finde ich im Wir eine Zugehörigkeit, wie zeige ich Macht, wie schaffe ich im Wir eine stabile Ordnung, wie erziele ich Erfolg, wie erlange ich im Wir eine Gleichwertigkeit, wie kann ich für mich alles integrieren, wie erreiche ich im Wir einen Blick für das Ganze … Sind die Antworten robust und verfestigen sie sich, dann formen sie sich zu neuronalen Bewusstheits-Mustern.
Kommt Person A (mit vMeme X) mit Person B (mit vMeme Y) zusammen, dann treffen unterschiedliche Problemlogiken aufeinander. Beispiel: Für ein dominantes vMeme Blau ist Regeltreue moralisch, für ein vMeme Orange ist Regel-Pragmatismus effizient, für ein vMeme Rot sind Regeln nur so lange relevant, wie sie der eigenen Durchsetzung dienen. Was für das eine vMeme zweckdienlich ist, erscheint dem anderen als unpassend. Aus dieser strukturellen Inkompatibilität entsteht schnell Abwertung („Kindisch!“ – „Zynisch!“ – „Sekte!“ – „Gefühlig!“ …), und die Abwertung kippt leicht in Destruktion.
Die Integrale Theorie von Ken Wilber, in der das Graves Modell integraler Bestandteil ist, sensibilisiert dafür, dass die Verwirklichung von vMeme (Wertesysteme) im konstruktiven Fall dazu beiträgt, Sinnimpulse in konkreten Situationen empfangen zu können. Konstruktiv meint dabei, dass eine Person einerseits sich dank vollzogener Klärungsprozesse ihrer Werte bewusst ist. Andererseits, dass sie ihre Weltoffenheit in einem höchstmöglichen Maße bewahrt, um das Risiko von Vorurteilen, die sie auf andere vMeme basierendes Verhalten lenkt, mindert. (In meinem Buch Sinncoaching habe ich dazu die Formel: Sinnfindung = Werteklärung x Weltoffenheit² zur Diskussion gestellt).
Beides, Werteklarheit und Weltoffenheit, sind zentral, will eine Person ihre Abwertungstendenzen ihrerseits abwerten. Dazu muss sie sich der Attraktivität von Abwertung bewusst machen. Abwertung „funktioniert“ kurzfristig, weil sie
- Komplexität reduziert („Ich bin gut, die sind böse“)
- Selbstwert schützt („Bevor ich mich bedroht fühle, werte ich andere lieber ab“)
- Gruppengefühl stärkt („Zusammen sind wir stark gegen sie oder ihn“)
- Machtgefühle stabilisiert („Mir kann niemand was“)
- Zielerreichung beschleunigt („Ich habe keine Zeit für Befindlichkeiten“)
Jedoch: Abwertungen kosten Energie und verringern damit die Möglichkeitsräume für Sinnfindung.
Gegen das Abwertungsspiel der Psyche hilft letztlich nur die Aufwertung durch das Geistige. Der Mensch findet Sinn nur, indem er sich selbst transzendiert – sich auf etwas richtet, das größer ist als er selbst (eine Aufgabe, eine Hingabe zu einem anderen Menschen).
Gefundener Sinn bewahrt einen Menschen vor Abwertung anderer: Ich kann Stellung beziehen für das, was mir wesentlich ist – ohne dabei den anderen zu entwürdigen oder ihm zu schaden. Man kann es auch so ausdrücken: „Die Kunst des Seglers fängt erst damit an, dass er imstande ist, die Kraft des Windes in einer gewollten Richtung sich auswirken zu lassen, sodass er sogar gegen den Wind zu segeln vermag.“ Viktor E. Frankl









