Archiv für den Monat: Dezember 2025

Eigentlich ist Leben einfach – 7

Gegen das Abwertungsspiel der Psyche hilft letztlich nur die Aufwertung durch das Geistige. Der Mensch findet Sinn nur, indem er sich selbst transzendiert – sich auf etwas richtet, das größer ist als er selbst. So endete mein letzter Beitrag. Schauen wir dazu für ein Beispiel ins Leben desjenigen, dessen Menschenbild in der KrisenPraxis im Vordergrund steht: Viktor Frankl.

Gehen wir dazu hundert Jahre zurück und sehen einen jungen Mann, der sich für Psychotherapie begeistert, bereits einige Male mit Sigmund Freud korrespondierte und sich nun entschließt, zu lernen, was eines Psychoanalytikers Handwerkszeug ist. Dass sich daraus einer der zentralen Sinnimpulse für das Leben Viktor Frankls ergeben würde, konnte er nicht ahnen.

Frankl hatte sich also für eine Lehranalyse interessiert, worauf ihn Freud an einen seiner ersten Schüler, den Psychoanalytiker Paul Federn verwies. Zum vereinbarten Termin erschien Frankl, er wurde ins Arbeitszimmer geführt und sah Federn konzentriert an seinem Schreibtisch sitzen und schreiben. Ohne ihm nur einen Blick zu schenken, setzte Federn seine Tätigkeit schweigend fort. Nach gefühlt endloser Zeit deutete er wortlos auf einen Stuhl und stellte Frankl dabei eine diesen völlig überraschende Frage: „Nun, Herr Frankl, was ist Ihre Neurose?“

Frankl fühlte sich von dieser ‚Begrüßung‘ derart überrollt, dass er nur ein paar Sätze über seinen Analcharakter (ein Freudscher Begriff über eine bestimmte Persönlichkeitsakzentuierung) stammelte und dem dann einige Anmerkungen zur Psychopathologie folgen ließ. Nach seinen Ausführungen empfahl Federn ihm, zunächst sein Medizinstudium zu beenden und zu einem späteren Zeitpunkt wiederzukommen.

(Sinnimpuls): Für Frankl war dieses Treffen mit großem Unbehagen vorbeigegangen. Einfach stehengelassen zu werden, wortlose Gesten, die Direktheit der Frage nach einer Neurose, kein persönliches Wort, kein Interesse an seiner Person – dafür die Klarheit, dass sein Verhalten nichts anderes sein könne als Ausdruck einer Neurose und diese daher im Mittelpunkt stehen müsse: das war die Begegnung Frankls mit dem, was er danach immer wieder kritisierte: Der Reduktionismus in der Psychotherapie.

In meinen Worten: Hier traf ein junger Mann auf einen gut dreißig Jahre älteren, von Freud autorisierten Fachmann der Psychoanalyse. Federn wird 1871 in Wien in eine wohlhabende jüdisch-bürgerliche Familie geboren, sein Vater Salomon Federn ist praktischer Arzt. Paul Federn lässt sich nach seinem Medizinstudium zum Internisten ausbilden und eröffnet 1902 eine eigene Praxis in Wien.1903 lernt er Freud kennen und wird eine Zeit später Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Mit der Psychoanalyse und der hinter ihr liegenden Triebtheorie gehen einige methodische Merkmale einher, wie beispielsweise eine Vereinfachung komplexer Phänomene, bei der im Sinne eines ‚der Mensch ist nichts anderes als …‘ alles auf wenige, meist biologische, psychologische oder physikalische Faktoren zurückgeführt wird. Subjektive, existenzielle oder soziale Aspekte werden ausgeblendet oder ignoriert, komplexe Ursachenketten werden auf einen dominanten Faktor reduziert. Die Folge dieser Methodik ist eine Pathologisierungstendenz, durch das Verhalten primär durch Störungen oder Defizite interpretiert wird.

Nun ließe sich fragen, wie die Persönlichkeitsarchitektur einer Person aussehen könnte, die Gefallen daran findet, eine reduktionistische Methode in der Arbeit mit Menschen anzuwenden. Lösen wir uns dabei von der Person Paul Federn und stellen verallgemeinernd Hypothesen auf, dann könnten wir annehmen, dass eine Person, die ihr Denken und Handeln deutlich am Reduktionismus ausrichtet, dies entlang dieser Werte und Prioritäten tut:

  • Sie legt hohen Wert auf logische Nachvollziehbarkeit, Eindeutigkeit und Struktur. Ambivalenz oder mehrdeutige Phänomene empfindet sie eher als störend.
  • Was verstanden, gemessen oder in Einzelteile zerlegt werden kann, wirkt kontrollierbarer. Daher könnte diese Person Kontrolle über ihr Umfeld und sich selbst besonders schätzen.
  • Sie neigt dazu, empirisch Messbares gegenüber subjektiven Erfahrungen zu bevorzugen.
  • Entscheidungen bewertet die Person entlang praktischen Nutzens vorhersehbarer Wirkungen oder maximaler Effizienz – nicht primär nach persönlicher Bedeutung.
  • Ganzheitliche oder existenzielle Perspektiven erscheinen ihr oft zu vage oder nicht verlässlich genug.
  • Beziehungen oder persönliche Begegnungen könnten bei einer solchen Person weniger als Wert an sich gesehen werden, sondern eher als Kontexte, die bestimmten funktionalen Regeln folgen.
  • Das Gefühl moralischer Verantwortung oder ein Gewissensbezug könnten weniger zentral sein, weil die Person menschliches Verhalten eher als determiniert betrachtet.

Verhaltens- und handlungsleitende Werte dieser Person könnten sein:
Vernunft, Kontrolle, Effizienz, Strenge, Rationalität, Genauigkeit …

Angenommen, Viktor Frankl steht nun einer solchen Werte-Person gegenüber und erkennt für sich, dass, wenn Psychotherapie aus methodischen Gründen die Ebene der zwischenmenschlichen Begegnung verlassen müsse und die Pathologie wichtiger werde als die Person und wenn angenommen werde, dass diese Pathologie den Menschen vollständig bestimme, es ihm dann unmöglich würde, eine solche Richtung der Psychotherapie einschlagen zu können. Wie er selbst schreibt, ließ ihm der Moment der persönlichen Konfrontation mit Reduktionismus und Pathologismus es „wie Schuppen von den Augen“, dass die Psychoanalyse nicht sein Weg sein würde.

Ziehen wir dazu nun das vMeme-Modell von Graves heran, so mutet das Vorgehen von Paul Federn – im Kontext der Operationalisierung des von ihm so gelernten und verantworteten Theoriegebäudes – so an, dass hier ein Handeln aus dem vMeme Rot/Blau vollzogen wurde.

Weiter gedacht kann der massive Konflikt, den Frankl in diesem Vorgehen für sich selbst fühlte und zu einer existenziellen Entscheidung führte, so gedeutet werden, dass er sein Handeln als Arzt und Psychotherapeut auf der Grundlage anderer vMeme-Ebene als sinnvoller ansah. Welche Ebenen dies waren? Zu meiner Einschätzung ziehe ich das formulierte Menschenbild der Sinntheorie Frankls heran und seine Conclusio, dass der Mensch als geistiges, freies und verantwortliches Wesen Sinn findet in der Transzendenz (dieser Kontext wurde hier in der KrisenPraxis in zahlreichen Beiträgen thematisiert und aufgefächert). Zusammengeführt formuliert Frankl hieraus sein Credo: „Die geistige Person befindet sich wesentlich jenseits aller psychophysischen Morbidität und Mortalität; wäre dem nicht so, so möchte ich nicht Psychiater sein: es wäre sinnlos. Und die geistige Person ist wesentlich dasjenige, was sich aller psychophysischen Morbidität entgegenzustemmen vermag, und wäre dem nicht so, so könnte ich nicht Psychiater sein: es wäre nutzlos.“ (aus Viktor E. Frankl, Der leidende Mensch)

Mir erscheint hier eine Stellungnahme aus dem Spektrum der vMeme orange/grün/gelb vorzuliegen, eine Bewusstheit, die den Gedanken erst ermöglicht, dass der Mensch sich selbst findet, indem er sich selbst überschreitet, sich zum Wohl einer Aufgabe, der er sich hingibt oder eines Menschen, den er liebt, sich selbst zu vergessen in der Lage ist.

Gehen wir noch einen Schritt weiter und schlagen wir eine Brücke von Frankls Menschenbild und Sinntheorie zur Integralen Theorie von Ken Wilber. Für Frankl wird die geistige Dimension der Person, die den Willen zum Sinn freisetzt, nicht gezeugt oder erzeugt – sie ist vielmehr unbedingt:„Wohl ist geistiges Sein individuiertes Sein, die Existenz eine personale; doch ist die existenzielle Person wesenhaft Einheit und Ganzheit, und das heißt, daß sie wesentlich weder teilbar ist noch summierbar. Auch dort, wo wir Leibliches – Seelisches – Geistiges unterscheiden, tun wir das niemals so, als ob der Mensch aus ihnen wie aus Teilen ‚zusammengesetzt‘ wäre; denn der Mensch ist kein additives, sondern ein integrales Wesen.“ (Frankl, 1949: Der unbedingte Mensch, S. 66)

Ken Wilber hat ein bemerkenswertes Werk geschaffen. Während andere Denker sich über Jahrzehnte hinweg auf ein einziges Gebiet konzentrieren, hat er das gesamte Spektrum menschlichen Wissens zu erfassen versucht. Er hat eine Philosophie des Bewusstseins entworfen, die Biologie, Psychologie, Religion, Mystik, Philosophie und Sozialwissenschaften integriert. Ein kühnes Unterfangen, das ihn womöglich im Kontext der Psychotherapie auszeichnen könnte, das Werk von Frankl auf eine neue, integrale Ebene zu heben.

In seinem Werk „Integrale Psychologie“ legt Wilber ein Modell vor, das die Erkenntnisse aller psychologischen Schulen – von Ost bis West, von den frühen Traditionen bis zur modernen Forschung – in einer umfassenden Synthese zusammenführt. Dieses Werk bietet nicht nur eine in ihrer Klarheit und Prägnanz einzigartige Bestandsaufnahme der bisherigen Seelenkunde, sondern öffnet zugleich den Blick über den Status quo hinaus. Es skizziert die Umrisse einer Psychologie, die nicht allein auf Heilung und Korrektur zielt, sondern den Menschen befähigt, seine psychische
Gesundheit aktiv zu fördern und verborgene seelische Potenziale zu entfalten.

In dem von ihm als AQAL (All Quadrants/All Levels) vorgestellten Modell beschreibt Wilber die Komplexität menschlicher Entwicklung entlang von vier grundlegenden Perspektiven (siehe Abbildung):

  • Der obere linke Quadrant repräsentiert das subjektive Erleben, die Werte, Einstellungen und Haltungen einer Person – quasi das Innenleben einer Person.
  • Der obere rechte Quadrant repräsentiert messbare, beobachtbare Phänomene wie den physischen Körper des Klienten, sein Verhalten und biologische Prozesse. Betrachtet zum Beispiel ein Coachingklient diese Außenwirkungen quasi durch ein Mikroskop, fragen wir: Gibt es etwas, das Sie in diesem Quadranten dazu aufruft, von Ihnen verbessert zu werden? Als Antworten des Klienten sind hier beispielsweise zu erwarten: der Wunsch nach einem verbesserten Fitnesszustand, einer Kräftigung innerer Balance oder einem Aufbau neuer Fähigkeiten und Kompetenzen.
  • Der untere linke Quadrant adressiert die mit anderen geteilte Kultur, gemeinsame Werte, Beziehungen und intersubjektive Unterschiede. Betrachtet der Klient diese Außenwirkungen quasi durch ein Beziehungsnetz, fragen wir auch hier: Gibt es etwas, das Sie in diesem Quadranten dazu aufruft, von Ihnen verwirklicht zu werden? Und wenn ja, wofür und für wen wäre es gut?
  • Schließlich finden sich im Quadranten unten rechts die objektiven, systemischen und strukturellen Aspekte von Gruppen, Organisationen und Gesellschaften – dabei insbesondere die, denen sich der Klient zugehörig fühlt oder fühlen möchte. Betrachtet der Klient diese Außenwirkungen quasi wie ineinandergreifende Zahnräder, wird er erneut gefragt: Gibt es etwas, das Sie in diesem Quadranten dazu aufruft, von Ihnen verwirklicht zu werden? Und wenn ja, wofür und für wen wäre es gut?

Für unseren Kontext hier ist das Modell besonders interessant, weil es zeigt, aus welchen Quadranten Sinnimpulse auf eine Person zukommen können. Frankl betont in seiner Theorie, dass der Mensch Sinn immer nur in konkreten Situationen an konkreten Gegenständen verwirklicht, sei es zum Beispiel in der Hingabe für eine Aufgabe oder in der Liebe für einen anderen Menschen – wobei sich der Mensch bei dieser Sinnverwirklichung selbst vergisst. Aus der Selbstvergessenheit als Basis der Selbsttranszendenz, lässt sich Sinn folglich im AQAL-Modell nur in den beiden Quadranten „Kultur/Kommunikation“ und „Struktur/Prozesse“ finden. Das Erlebnis, das Frankl im Kontext seines Kontaktes zu Paul Federn schilderte und zu seiner Ablehnung allen Reduktionismus in der Psychotherapie führte, lässt sich gut mit dem Quadranten der Strukturen und Prozesse – unten rechts – in Verbindung bringen. Frankl nahm wohl von hier ausgehend seinen Sinnimpuls entgegen als eine Frage, die sein Leben ihm stellte und die von ihm seine persönliche Stellungnahme abforderte – und letztlich über sein Ziel, eine non-reduktionistische Therapieform zu entwickeln bis hin zu jeder einzelnen auf dieses Ziel hin abgestimmten Maßnahme zu dem führte, was viele Menschen zu schätzen wissen, die eine originäre Logotherapie oder ein auf dem Gedankengut Frankls ruhenden Coaching in Anspruch nehmen.